Das Baumschütteln am Andreasabend
Bei der Annemarie, einer alten Witfrau, ist Hutzenstube.[1] Schon seit zwei Stunden sitzen vier Mädchen, die Jda, die Mine, die Christel und die Rieke, an ihren Spinnrädern und lassen die Spindeln schnurren. Manch lustiges Runda, manch ernstes Lied haben sie schon gesungen, manch Herzensgeheimnis ausgetauscht – und das allergeheimste dabei doch verschwiegen. Jetzt schaut bald die eine, bald die andere verstohlen nach den Fenstern. Nun müssen sie doch bald kommen? Eben stimmt die Jda wieder an:
„Mädchen, wenn ich dich erblicke,
Find ich keine Ruh nicht mehr,
Jeder Tag und jede Stunde
Ist für mich keine Freud’ nicht mehr –.“
Da fallen von außen kräftige, wenn auch etwas rauhe Männerstimmen in den Gesang ein, und bald treten fünf Burschen in Werktagskleidern, nur ein reines Strickkoller über die Hemdärmel gezogen und eine neuwaschene blaue Schürze umgebunden, mit freundlichem „Guten Omd b’samm!“ zur Thür herein.
Es ist der Lieb[2], der Franz, der Friedrich, der Wilhelm und der Hansehret[3]
Die drei erstgenannten sind einheimische Bauernsöhne, der Wilhelm ein ebensolcher aus einem Nachbardorfe, der aber hier im Orte als Knecht dient. Der Hansehret jedoch hat eine eigene kleine Wirtschaft und betreibt, soweit ihm Zeit dazu bleibt, das Wagnerhandwerk. Er hat schon die Dreißig hinter sich. Seiner alten Mutter zulieb ist er bis jetzt unverheiratet geblieben. Nachdem aber durch deren Tod der Platz für eine junge Frau im Hause frei geworden, macht er der Christel, die er schon lange vorher in sein Herz geschlossen hat, ernsthaft den Hof. Freilich kann er sich vorläufig großer Erfolge seines Liebeswerbens nicht rühmen. Der Lieb ist der erklärte Schatz der Jda, während zwischen Friedrich und Franz einer- und den beiden Mädchen Mine und Rieke anderseits noch kein festes Verhältnis besteht, aber wohl bald bestehen wird. Wilhelm ist nur mitgegangen, weil er nichts anderes vor hat. Er bläst meisterhaft die Mundharmonika und ist als Musikant immer und überall willkommen.
Mit der Arbeit ist’s in der Hutzenstube vorbei, sobald die Burschen eingetreten sind. Es wird geneckt herüber und hinüber, es werden Neuigkeiten erzählt, und bald stimmt Wilhelm ein lustiges Runda an:
„Mei Voter hots g’sogt
Und mei Mutter sogt’s aa,
Ich söll noch naht heiern[4],
Ich wär’ noch ze klaa.“
Alle wiederholen trällernd die Melodie unter Musikbegleitung Wilhelms, und dann singt der Franz:
„Wenns deine Leit net leiden wölln
Und meine wöllns net hom, net hom,
Do muß ich dich üm Mitternacht
Vun’ Buden runtertroong![5]
Und bei der Wiederholung der Melodie faßt der Lieb seine Jda um den Leib und tanzt mit ihr durch die Stube. Die übrigen Burschen und Mädchen ordnen sich ebenfalls rasch zu Paaren, der Wilhelm bläst, und so wird der schönste Rutscher „heruntergerissen“. In dieser Weise geht die Unterhaltung fort, bis die Geisterstunde anhebt und die alte Annemarie sich einmischt: „Vergeßt’s fei net, ihr gunge Leit’, heit is Andreasomd; wu is denn’s Blei?“
Freilich, freilich haben sie das mitgebracht. Annemarie bringt den schon bereit gelegten alten Blechlöffel herbei, und nun nehmen die geheimnisvollen Fragen ans Schicksal ihren Anfang und die ebenso geheimnisvollen Antworten in Form wunderlicher Figuren erfahren die sonderbarsten Auslegungen.
Die Christel hat ein Ding gegossen, das man mit einiger Phantasie wohl für ein Rad ansehen kann; jawohl ein Rad! Aufmerksam betrachten es alle, Jda stößt Christel bedeutungsvoll mit dem Finger an und deutet stumm auf Hansehret, der die Figur ebenfalls mit freundlich blinzelnden Augen betrachtet, während Rieke ihr leise, doch so, daß alle es hören können, in die Ohren wispert: „Es werd doch net epper an’n Schmied bedeiten!“
Christel erglüht wie eine Pfingstrose und über Hansehrets ehrliches Gesicht zieht ein Schatten.
[830] Jetzt hat eine andere eine abenteuerliche Figur gegossen, und während man sich eifrig um den Tisch drängt und in allerhand Erklärungen versucht, schleicht Christel still hinaus. Nur Hansehret bemerkt ihr Fortgehen, eilt rasch ans Fenster, das nach seinem Hause zu liegt, öffnet es auf einen Augenblick, horcht kurz hinaus und lächelt still für sich hin. Er weiß, was sie jetzt beginnen wird, er kennt sie und ihre ganze abergläubische Familie ganz genau, er weiß, daß sie jetzt eine weitere heimliche Frage an das Schicksal richten will – und er hat vorgesorgt, daß die Antwort zu seinen Gunsten ausfällt. –
Ach! seufzt die Christel leise, wer wird’s sein? Der Hansehret oder der Schmied drüben an der Straße zum nächsten Dorfe? Einer von beiden allemal, das Rad hat’s sicher angezeigt – ein Wagner oder ein Schmied. Aber wer war der rechte? Ach! Der Schmied, der wär’ ihr schon bald lieber. Er war so hellauf zu jeder Zeit, er konnte so schöne Lieder singen, die er von weiter Wanderschaft mit heimgebracht hatte. Und wie er erzählen, und wie er tanzen, und wie er – ach! ein einzigmal war’s geschehen – wie er küssen konnte! Das Herz pocht ihr schneller, sobald sie an jene seligen Minuten gedenkt. Freilich, freilich – er sollte auch etwas leicht sein! Ob’s aber wahr, ob’s so schlimm ist, wie die Leute sagten? … Und er würde ihr doch auch folgen und anders werden, wenn’s ja wahr sein sollte! … Aber wenn er ihr nun doch nicht folgte? … Ihre Mutter hatte ihr schon manches Beispiel von solchen lustigen Liebhabern erzählt – ach! …
Ja, da war der Hansehret schon ein anderer – so gesetzt, so verständig und so gut dazu! Aber wenn er sang, so klang’s, wie wenn eine alte Thüre knarrt. Und beim Tanzen – wie oft hatte sie schon aufgeschrieen, wenn er sie gar zu sehr auf die Füße trat! Gut und ordentlich war er allerdings. Auch hätten ihre Leute es gar gern gesehen, wenn sie ihn genommen hätte. Ach, wenn sie doch wüßte, wer der rechte wär’! … Drum will sie hinaus in den Garten, Baumschütteln gehen; vielleicht giebt ihr das Schicksal einen Wink, wohin sie sich halten soll, ’s ist ja Andreasabend heute. Und sie geht dem ein wenig entfernten Garten zu, immer sinnend, langsam, Schritt für Schritt aus Furchtsamkeit – es ist ja Geisterstunde – aber immer weiter und weiter, bis sie vor Lauschern sicher zu sein glaubt. „Nu, in Gottes Name!“ spricht sie und tritt knapp an ein Kirschenbäumchen, das die Annemarie vor Jahren mit dem Häuschen von einem Vetter geerbt – ein Erbbäumchen muß es unbedingt sein! – und schüttelt den Baum, indem sie spricht:
„Bäumlein, Bäumlein, ich schüttle dich,
Komm, Feinslieb, und rege dich,
Laß deine Hündlein beilen,
Wo ich Tag und Nacht kann sein.“
Dann horcht sie und lauscht. Vor dem Hause, in das sie als Frau einziehen wird, soll nun der Hund anschlagen. Ach! seufzt sie und tritt einen Schritt zurück. Nichts regt sich in der Richtung nach der Schmiede, aber um so lauter bellt der Hund Hansehrets, den sie genau an der Stimme erkennt. Lieber Gott – sollte der Hansehret doch der ihr Bestimmte sein? Ein braver Bursch ist’s gewiß! Nach einigem Zaudern und Sinnen schüttelt sie noch einmal, ihr Sprüchlein wiederholend. Wieder bellt es nur in Hansehrets Hof, und als sie zum dritten Mal schüttelt, ist’s genau ebenso. Alles Widerstreben also ist vergebens, er ist ihr einmal bestimmt, der Hansehret! … Nachdenklich geht sie zum Hause zurück, immer und immer noch einmal aufhorchend, fast wären ihre Thränen geflossen. Ja, gut ist der Hansehret! sucht sie sich zu trösten. Wenn’s einmal so sein soll, muß sie sich halt drein ergeben. Und ehe sie noch die Hausthüre erreicht, hat sie sich frommgläubig in ihr Schicksal gefügt.
Ach, hätte sie sein Treiben gesehen, ehe er abends von seinem Hause fortgegangen war; wie er die alte Strohpuppe, die im Sommer seine Kirschen hatte vor den Sperlingen schützen sollen, neu angezogen und aufgeputzt und auf eine Stange gesteckt hatte; wie er die Scheuche vorsichtig um die Hausecke getragen und an den Kirschbaum gelehnt hatte, so daß der Kettenhund ihn selbst nicht gesehen, wohl aber den Strohmann hatte gewahren müssen; wie er gebrummt und gemurrt hatte, die Aufmerksamkeit des Tieres zu erregen; und wie der Hund dann wütend auf das Gespenst losgefahren war, das er doch nicht hatte erreichen können und nun unverwandt anstierte und anbellte die ganze Nacht: aus wär’s gewesen, rein aus, keinen Blick hätte sie mehr für ihn gehabt, den Betrüger!
Aber sie weiß nichts davon und hört still und ergeben ihm zu, als er sie freundlich und unbefangen anredet. Und als ihm später die anderen Mädchen vorwerfen, daß sein Hund ein garstiger Spektakelmacher sei – ein Zeichen, daß sie auch ihr Bäumchen geschüttelt haben – da denkt sie sich nichts Unrechtes bei seinem pfiffigen Lächeln. Heut’ zum erstenmal darf er den Arm um sie legen, als er sie, ihr Spinnrad am linken Arme tragend, nach Hause begleitet.
Bald ist das Verlöbnis geschlossen und Christel gewinnt ihren Hansehret von Tag zu Tag lieber. Immer mehr lernt sie sein gutes Herz verstehen und schätzen und wundert sich über sich selbst, daß sie je einen anderen ihm hatte vorziehen können, gar noch den Schmied, den liederlichen, den schlechten Kerl, wie sie ihn seit einiger Zeit nur noch nennt. Sie war mit ihrem Hansehret zu Tanze gewesen. Eben waren sie zu einem Strupfer[6] angetreten, da hatte der hinter ihnen stehende Schmied zu seiner Tänzerin, auf Christel zeigend, gesagt: „Schau, hätt’ ich auch haben können! Ach, kann die schön schmaruzeln.“[7]
„So?“ hatte die gefragt. „Was hast du denn nicht zugegriffen?“
„Ich mocht’ nicht,“ hatte er entgegnet. „Zum Andreasabend war ich baumschütteln, da hab’ ich dahüben eine alte Gans schreien hören und eine alte Gans möcht’ ich nicht!“
„Hätt aber ganz gut zu dir alten Gansert gepaßt,“ hatte der Hansehret, hochrot vor innerem Zorne, ihm zugerufen.
„Was bin ich?“ war der Schmied wild aufgefahren. Es wäre zu erbittertem Kampfe gekommen, hätte sich nicht die Christel rasch dazwischen geworfen, ihren Hansehret zum Tanze fort- und noch vor Beendigung desselben zum Saale hinausgezogen. Auf dem Nachhausewege hat sie ihn besänftigt – und in vierzehn Tagen wird die Hochzeit sein.