Das Bremerhavener Unglück

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Autor: Otto Martin
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Titel: Das Bremerhavener Unglück
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 1, S. 19–20
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1876
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[19] Das Bremerhavener Unglück bewegt die ganze Welt, und die Gartenlaube kann dasselbe nicht mit Schweigen übergehen. Eine aus Zeitungsartikeln zusammengesetzte Schilderung der beklagenswerthen Katastrophe mochten wir nicht veröffentlichen und haben deshalb einen Augenzeugen der Explosion beauftragt, auf Grund seiner eigenen Erlebnisse einen selbstständigen Artikel für unser Blatt zu verfassen, welcher in der nächsten Nummer zum Abdrucke kommen wird. Heute veröffentlichen wir als Einleitung zu demselben im Folgenden einige interessante Mittheilungen eines ebenfalls Betheiligten, insofern Betheiligten, als durch seine Vermittelung die Bestellung des vielbesprochenen Uhrwerkes des Verbrechers vermittelt wurde. Es wird dadurch bestätigt, daß Thomas sich schon seit Jahren planmäßig mit seinem grauenhaften Vorhaben beschäftigt hat. Unser Berichterstatter erzählt:

„Im März 1873 führte der amerikanische Consul in Leipzig den Mr. William K. Thomas – so lautete seine Karte – mir zu, einen Mann von mittelgroßer untersetzter Statur mit geröthetem Gesicht. Er trug eine goldene Brille und machte den Eindruck eines angenehmen, ich möchte sagen gemüthlichen Menschen, der die Höflichkeit des Amerikaners keinen Augenblick verleugnete. Sein Englisch – deutsch sprach er damals so gut wie gar nicht – hatte die entschiedene Färbung des Yankeedialects. Der Zweck seines Kommens war, durch mich den Nachweis eines Uhrmachers zu erlangen, der ihm ein Werk baue, welches herzustellen schon verschiedene Mechaniker vergeblich versucht hatten; auf meine Frage, welcher Art das gewünschte Werk sein solle, erwiderte Thomas, es solle ein längere Zeit laufendes sein, auch müsse irgend ein Mechanismus daran angebracht werden, der, mit einer Maschine in Verbindung gesetzt, auf diese einen damals nicht näher bezeichneten Einfluß ausübe, sobald das Werk die vorgeschriebene Zeit gelaufen habe. Es solle nicht durch Gewicht, sondern durch Federkraft in Bewegung gesetzt werden. Ich bemerkte Herrn Thomas, daß es doch nöthig sei, zu wissen, welcher Art der zu bewirkende Einfluß sein solle und wie die Maschine beschaffen sei, mit der das Werk in Verbindung gesetzt werden würde. Seine darauf gegebene Erklärung ließ mich den Zweck des Werkes nicht klar erkennen. Auch sollte es, wie er ausdrücklich bemerkte, kein Uhrwerk sein, welches die Zeit angiebt, und doch eine gegebene Zeit laufen. Darauf erwiderte ich ihm, daß er sich die Lösung seiner Aufgabe nicht gar so leicht vorstellen solle; ein Werk zu bauen, das Stunden, Tage, Monate, ja, ein Jahr lang oder länger liefe, dazu würden zwar viele Uhrmacher oder Mechaniker im Stande sein, um jedoch seine Aufgabe vollkommen zu lösen, bedürfe er eines tüchtigen Denkers, der sich ganz und gar in seine Idee hineinleben könne. Als einen solchen überaus praktischen und denkenden Mann, von dem ich behaupten könne, daß er die Aufgabe, wenn irgend möglich, zur Zufriedenheit lösen werde, empfahl ich ihm den mir damals geschäftlich befreundeten, weit und breit berühmten Thurmuhrmacher und Mechaniker J. I. Fuchs in Bernburg.

Da ich befürchtete, daß Thomas in Folge seines gebrochenen Deutsch nicht im Stande sein würde, meinem Freunde seine Ideen verständlich genug vorzutragen, und schriftlich erst recht nichts erreicht werden würde, schlug ich vor, noch einige Wochen bis zur Ostermesse zu warten, und versprach, dann beide Herren zusammenzuführen und, wenn nöthig, ihnen als Dolmetscher zu dienen. Thomas besuchte mich dann noch mehrere Male und war ziemlich gespannt auf die Ankunft meines Freundes, da er bald nach Dresden zu ziehen beabsichtige.

Gegen das Ende der Ostermesse 1873 kam Herr Fuchs nach Leipzig, [20] und ich forderte ihn auf, mit mir nach der Auenstraße 2 zu Thomas zu gehen, wir trafen denselben jedoch nicht an. Da es meine Zeit nicht erlaubte, ihn abermals zu begleiten, ging Fuchs andern Tags allein zu Thomas. Wie ich vermuthete, war Letzterer nicht im Stande, sich Fuchs gegenüber in deutscher Sprache über die Beschaffenheit des gewünschten Werkes vollkommen verständlich auszudrücken. Fuchs hatte denn auch den Auftrag als zu unwichtig unberücksichtigt gelassen.

Ich sah Thomas später noch einige Male und glaubte aus seinen Worten schließen zu müssen, daß er nicht rechtes Vertrauen zu Fuchs gefaßt habe, was jedenfalls seinen Grund darin hatte, daß Dieser Alles, was ihm Jener gesagt in Folge mangelhafter Ausdrucksweise nicht recht begriffen hatte. Da ich gehofft hatte, meinem Freunde Fuchs zu einem guten Geschäfte zu verhelfen, so bedauerte ich den erfolglosen Ausgang dieser Sache sehr und wiederholte Thomas, daß meiner Meinung nach Fuchs, und nur er allein, im Stande sei, seine Aufgabe befriedigend zu lösen. Thomas ist dann nach Dresden gezogen, und Fuchs wie ich glaubten die ganze Angelegenheit als vergessen betrachten zu müssen.

Auf der Wiener Ausstellung hat Thomas Gelegenheit gehabt zu sehen, daß J. I. Fuchs in Bernburg kein gewöhnlicher Uhrmacher sei, wie die von ihm ausgestellte neuconstruirte Thurmuhr mit freischwingendem Pendel ohne Steigrad, die so großes Aufsehen bei Kennern erregte, bewies; Thomas setzte sich trotzdem nicht mit Fuchs, sondern mit Wiener Fabrikanten in Verbindung, keiner hat jedoch die Aufgabe zur vollkommenen Zufriedenheit lösen können. Zu nicht geringem Erstaunen des Herrn Fuchs erschien Thomas am 9. März 1875 in Bernburg, brachte ein Wiener Werk mit, hob dessen Mängel und Unzuverlässigkeiten hervor und fügte die Bemerkung hinzu, daß man ihn auch in Wien von verschiedenen Seiten auf Fuchs aufmerksam gemacht habe, als denjenigen, der die gewünschten Vervollkommnungen zu erreichen im Stande sei.

Jetzt sah Fuchs, daß es Thomas wirklich Ernst mit seinem Auftrage sei, bemerkte auch, daß sein Auftraggeber nunmehr der deutschen Sprache weit besser mächtig sei als im Frühjahr 1873, und bat dann, ihm nochmals den Zweck des Werkes und die Anforderungen an dasselbe auseinanderzusetzen. Darauf gab denn Thomas etwa folgende Erklärung ab:

Er habe eine neue Erfindung in der Seidenfabrikation gemacht und wünsche das Werk zunächst in einer Seidenweberei in Rußland anzuwenden. Es müsse volle zehn Tage laufen und am zehnten einen Hebel auslösen, welcher wiederum einen Mechanismus in Bewegung zu setzen habe; diesen Mechanismus würde er später selbst anbringen; seine Bestimmung sei, tausend Fäden mit einem Ruck zu zerreißen. Das Uhrwerk müsse ganz geräuschlos und die gegebene Zeit von zehn Tagen, mit höchstens einigen Stunden Unterschied, laufen. Es solle nämlich an der Peripherie eines großen, sich um seine Achse drehenden Rades befestigt werden, dürfe daher in keiner Lage seinen gleichmäßigen ruhigen Gang verlieren.

Meinem Freunde Fuchs kam allerdings die Bestimmung dieses Werkes etwas sonderbar vor, allein die Forderungen, die heutzutage an die Mechanik gestellt werden, sind oftmals sehr complicirt; so hatte er z. B. einige Zeit vorher ein Uhrwerk gebaut, welches, in einem Saale aufgestellt, die Fäden von zwölf Nähmaschinen in sich vereinte und so jeden Tag genau zeigte, wie viel Seide auf den Maschinen verarbeitet wurde.

Nachdem der Preis von hundert Thalern und die Lieferzeit zum 1. April festgesetzt, auch ein weiterer Auftrag auf zwanzig Stück in Aussicht gestellt worden war, ging Fuchs an die Arbeit. Er hat seine Aufgabe meisterhaft gelöst. Er baute ein Laufwerk, das heißt ohne Hemmung (Echappement), wie jedes Uhrwerk hat, und erzielte dadurch einen völlig geräuschlosen Lauf des Werkes, den er so zu reguliren verstand, daß es richtige zehn Tage mit einer geringen Abweichung von sechs bis acht Stunden lief; zur Auslösung des Hebels hatte er einen neuen, sinnreichen Mechanismus, den er bei seinen Thurmuhren ohne Steig- oder Hemmungsrad angebracht, verwandt.

Während am Werke gearbeitet wurde, kam Thomas öfter nach Bernburg, um sich von dessen Fortschritt zu überzeugen und die Fertigstellung zu beschleunigen.

Endlich machte ihm Fuchs die Mittheilung, daß das Werk nunmehr zur Ablieferung fertig sei, und fuhr damit am 20. April 1875 nach Leipzig. Hier angekommen, wurde er auf dem Bahnhofe von Thomas empfangen, und Beide gingen in ein Zimmer des „Hôtel de Pologne“. Das Werk wurde in Gang gesetzt und wiederholten Prüfungen unterzogen. Thomas erklärte, daß seine Erwartungen übertroffen seien, und betonte mit besonderer Genugthuung den Umstand, daß das Werk so ganz und gar geräuschlos liefe. Die von Fuchs über den bedungenen Preis hinaus verlangten fünfundzwanzig Thaler zahlte Thomas ohne Weigerung und versprach, ihn in einigen Monaten wieder zu besuchen. Das Wiener Werk blieb bei Fuchs zurück; er hat Thomas nie wieder gesehen.

Das Werk würde also sein Amt genau und sicher verrichtet und die Zeitungen würden von dem spurlosen Verschwinden der „Mosel“ zu erzählen gehabt haben, hätte nicht Thomas vergessen, Fuchs darauf aufmerksam zu machen, daß das Werk einen starken Stoß oder Fall vertragen müsse, denn das Genie des Meister Fuchs würde auch dafür haben sorgen können, daß der Hebel nicht durch starke Erschütterung vor der gegebenen Zeit sich auslöse.

So beklagenswerth die Bremerhavener Katastrophe auch ist, so ist es doch noch bei allem Unglück ein Glück, daß durch Fall oder starken Stoß der Hebel sich so zeitig auslöste; wäre dieser Umstand nicht eingetreten, so hätte Thomas seinen teuflischen Zweck nicht nur sicherlich erreicht, sondern sich auch der Früchte seines Verbrechens wahrscheinlich ungestraft erfreut.

Otto Martin.