Das Deutsche Volkstheater in Wien

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Autor: Ferdinand Groß
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Titel: Das Deutsche Volkstheater in Wien
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aus: Die Gartenlaube, Heft 43, S. 739
Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1889
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Das Deutsche Volkstheater in Wien.

Von Ferdinand Groß.

Im Oktober 1888 öffneten sich die Pforten des neuen Burgtheaters, des stolzen, in der Fülle seiner Pracht strahlenden Palastes, welcher durch Fürstengunst aufgerichtet worden war. Kaum ein Jahr später, im September 1889, hatte Wien wieder das Wiegenfest einer Bühne zu feiern. Diesmal aber galt es nicht bloß einen Wohnungswechsel, nicht bloß die Uebersiedelung aus einem alterthümlich beengten in ein neues, dem Zeitgeschmacke entsprechendes Heim, sondern eine Schöpfung, die ihren ersten Schritt auf ihrem Lebensweg that und sich überhaupt erst als lebensfähig zu zeigen hatte.

Das „Deutsche Volkstheater“ ist etwas völlig Neues, nicht nur dem Namen und der äußeren Erscheinung, nein, auch dem innersten Wesen nach. Man müßte viel zu weit ausgreifen, wollte man dem Nichtwiener eingehend klarlegen, wie viel Bedeutungsvolles in der Schöpfung des Deutschen Volkstheaters für die Kaiserstadt an der Donau liegt. Diese Anstalt hat mit ihrer Entstehungsgeschichte und ihrer Artung weit tiefer Wurzeln gegriffen in der Theilnahme der Wiener, als die nächste beste neue Bühne dies an und für sich vermocht hätte. Vor einigen Jahren wurde die schwarzseherische Losung ausgegeben: „Wien war eine Theaterstadt.“ Man glaubte mit Entsagung an dieses Urtheil, trotzdem früher – und zwar noch nicht lange vorher – Wien als die eigentliche Pflegestätte des Theaters gegolten hatte. Nun bedarf allerdings diese letztere im freundlichen und günstigen Sinne verbreitete Fabel einer Berichtigung. Die Mehrzahl der Bevölkerung Wiens hatte immer für Geschichten aus der Coulissenwelt und für Privaterlebnisse seiner theatralischen Lieblinge mehr Sinn und Theilnahme als für die dramatischen Werke und deren Vorführung selbst. Und da dieser wunderliche Zug sich bis hart an unsere Tage forterbte, fand man Gelegenheit, wahrzunehmen, wie der Theaterbesuch nachließ, die Zeitungen dagegen ihren Lesern nicht genug von den Theatern und ihren Sternen erzählen konnten. Der Schauspielerkultus schlug in Wien Jahrzehnte hindurch stolz und wohlgemuth seine Wogen. Das Burgtheater sogar war in seiner besten Zeit mehr Schauspielerbühne als Dichter- oder Litteraturbühne. Da auch auf dem Kunstmarkte Nachfrage und Angebot regelnd auf einander einwirken, so sammelten sich vorzügliche darstellende Kräfte an der Stätte an, wo der begabte Künstler sicher war, begeisterter Zustimmung zu begegnen. Während der Jahre des sogenannten „volkswirthschaftlichen Aufschwunges“ wurden natürlich auch Theater gegründet, kostspielige Theater, angewiesen auf das Wohlwollen der reichlich besitzenden oder doch reichlich gewinnenden Klassen. Der Börsenkrach vom 9. Mai 1873 mit der aus ihm entspringenden Verarmung mochte in dem nüchternen Beobachter das Bedenken wachrufen, es sei denn doch nicht das unbestreitbar Richtige, ein Schauspielhaus so zu stellen, daß es ohne Mäcenatenthum nicht leben könne. Selbst Heinrich Laube, von der allgemeinen Strömung erfaßt, hielt sich an die hohe Finanzwelt; als diese seine Anstalt, das Stadttheater, fallen ließ, war es verloren. Es fristete sein Dasein weiter, aber von dem Programm, unter welchem es entstanden, war keine Rede mehr. Um Einnahmen zu erzielen, griff es in volksthümlichen Nachmittagsvorstellungen zu der „Kameliendame“ von Alexander Dumas; an den Abenden wurden Raimund und Anzengruber gespielt, und es gab Leute, welche sich wunderten, daß das an Dumas verdorbene Publikum keinen Geschmack mehr fand an gesunder poetischer Kost und weder vom „Verschwender“ noch vom „Pfarrer von Kirchfeld“ etwas wissen wollte.

Das Ringtheater, gegründet als „Komische Oper“, um dann ziellos zwischen allerlei unglücklichen Versuchen hin und her zu irren, war ein Raub der Flammen geworden. Das Stadttheater folgte nach. Nun blieben nur noch unsere Vorstadtbühnen übrig. Ist es nöthig, über deren jammervolle Führung ein Wort zu sagen? Ohne bestimmtes Wollen leben sie von der Hand in den Mund.

Nachgerade ward für jedermann eine klaffende Lücke in der Wiener Theaterwelt sichtbar und fühlbar. Ein Dichter wie Ludwig Anzengruber hatte kein Obdach. Eines seiner besten Stücke, „Stahl und Stein“, wurde ein Mal im Opernhause von Hofschauspielern zu wohlthätigen Zwecken aufgeführt. Was in Deutschland dramatisch hervorgebracht wurde, blieb, wenn es nicht Eingang fand ins Burgtheater, den Wienern verschlossen. Man hatte die Empfindung, daß etwas geschehen müsse, wenn in den breiten Schichten der Wiener Bevölkerung der Sinn für edle Bühnenkunst nicht ersterben solle. So that sich denn ein Kreis von Wiener Bürgern zusammen, um aus eigener Kraft das Fehlende zu schaffen. Bei der Gründung des Wiener Stadttheaters hatte das eigentliche Bürgerthum nur in geringem Maße mitgewirkt. Dazu waren die Antheilscheine zu hoch gestellt. Andererseits trat diese Bühne mit schweren Belastungen ins Leben. Die Geldgeber hatten satzungsgemäß soviele Rechte auf Freilogen und Freisitze, daß gerade bei den vollsten Häusern die Kasse am leersten blieb.

Das Deutsche Volkstheater wurde unter ganz andern Bedingungen geboren. Den Bauplatz – in unmittelbarer Nähe der neuen großen Hofmuseen und des Maria Theresia-Denkmals – überließ der Stadterweiterungsfonds auf Befehl des Kaisers Franz Joseph I. so billig, daß man ihn fast als ein kaiserliches Geschenk bezeichnen darf. Die Antheilscheine wurden zu 500 Gulden bemessen, so daß der Mittelstand sich leicht betheiligen konnte. Es wurden 1060 Antheilscheine, also 530 000 Gulden gezeichnet. Verausgabt hat man alles in allem für den Bau sammt Möbeln, Dekorationen und elektrischen Beleuchtungskörpern etwas über 452 000 Gulden – eine kleine Summe angesichts der 17 oder 18 Millionen, welche das neue Burgtheater verschlungen hat. Die Antheilinhaber wahrten sich nur gewisse Begünstigungen beim Bezugsrechte von Karten; im übrigen bezahlen sie ihren Eintritt wie jeder andere Besucher. Nur bis zu fünf Prozent darf ihr Geld verzinst werden; geht ein höherer Gewinn ein, so wird dieser zwischen einem Reservefonds und öffentlichen Wohlthätigkeitsanstalten getheilt. Gesellschaftsklassen, welche sich bisher künstlerischen Gründungen fernhielten, haben hier mitgewirkt. Mit Behagen konnte man sich bei der festlichen Eröffnung überzeugen, daß ein völlig neues Publikum gewonnen sei; da war nicht bloß jenes „Ganz Wien“ versammelt, das keinem öffentlichen Ereignisse fernbleiben zu dürfen glaubt, sondern das ganze gute Bürgerthum hatte sich eingefunden, und bildschöne junge Wienerinnen unverfälschtester Art zu Hunderten gaben dem Hause ein frisches und freudiges Gepräge.

Nicht in letzter Reihe hat der Titel „Deutsches Volkstheater“ dazu beigetragen, dem Unternehmen eine herzliche Aufnahme zu bereiten. Als es in Oesterreich keine öffentliche Stelle gab für politische Meinungsäußerung, lernten die Wiener, im Theater ihrem inneren Drange Luft zu machen; sie benutzten jeden Anlaß, um durch Kundgebungen im Schauspielhause über das Regierungssystem zu urtheilen, und manche Dramatiker verstanden es, zwischen den Zeilen so geschickt Politik zu treiben, daß selbst die wachsamste Censur ihnen nichts anhaben konnte. Namentlich Eduard Bauernfeld hatte darin eine große Fertigkeit erlangt. Heutzutage findet gar mancher einen begreiflichen Reiz darin, wenigstens auf theatralischem Wege betonen zu dürfen, daß er Wien als eine deutsche Stadt betrachte, und daß, allen gegentheiligen Strebungen und Absichten zum Trotze, das Volk von Wien sich nur in einem „Deutschen Volkstheater“ heimisch fühle.

Abgesehen aber von allen offenen oder verborgenen Nebenabsichten darf man an der neuen Heimstätte der Musen seine vollste Freude haben. Für den genannten verhältnißmäßig geringen Betrag haben die bewährten Theaterarchitekten Fellner und Helmer Erstaunliches geleistet. Das Deutsche Volkstheater ist nicht prunkvoll, aber von anmuthiger, herzgewinnender Schönheit. Es faßt 2100 Personen im Parkett und in zwei Galerien; absichtlich wurde nur eine sehr geringe Anzahl von Logen angebracht. Selbst von dem letzten Platze sieht und hört man vortrefflich, die Preise sind mäßig – es sind also alle Vorbedingungen erfüllt, um die Absichten der hochherzigen, selbstlosen Urheber des Werkes zu erreichen und die neue Kunststätte zu einem wirklichen Volkstheater zu machen. Nach allen Seiten freistehend, bietet das Haus jeden erdenklichen Schutz gegen Feuersgefahr. Das Aeußere tritt in italienischer Renaissance auf, nicht überladen reich, aber gefällig. Gartenanlagen umgrünen und umblühen den Bau. Das Giebelfeld auf der Seite des Haupteinganges hat ein junger Bildhauer, Franz Vogl, mit einem lebhaft bewegten Dionysoszuge geschmüekt. Die Büsten von Lessing, Schiller und Grillparzer prangen über den Thüren, die zu der Terrasse über der Auffahrtrampe führen. Im Innern herrscht Wiener Rokoko, Roth und Gold sind die Leitfarben der Ausschmückung. In dem Tonnengewölbe, welches das Proscenium beschirmt, ist die „Bekränzung Raimunds“ (dem Dichter des „Verschwender“, dem ein Genius den Lorbeer reicht, folgen Nestroy und Anzengruber) bildlich dargestellt; die an das Gewölbe sich schließende Decke des Zuschauerraums, welche beiläufig die Form eines Schildkrötenrückens aufweist, trägt ein Gemälde, „Huldigung an Vindobona“. In der Mitte schwebt die Vindobona mit ihren Genien, und ihr nahen sich Vertreter aller Stände, Gelehrte, Arbeiter, Bauern, Krieger, Künstler etc., der Hehren ihre Verehrung darzubringen.

Beide Deckengemälde rühren von dem Maler Eduard Veith her, der auch den Hauptvorhang „Maifest zur Zeit Leopolds des Glorreichen“ geliefert hat.

Der Schale fehlt es nicht an Reiz; ihr einen würdigen Kern zu gewinnen, wird Sache des Direktors, Emerich Bukovics, sein. Dieser war bisher Journalist, und von seinem Bruder, dem kürzlich verstorbenen Hofschauspieler Karl Bukovics, mag er theatralische Erfahrung gewonnen haben. Hoffentlich wird er sich auf dem schweren und verantwortungsvollen Posten bewähren, auf welchen ein entgegenkommendes Vertrauen ihn gestellt hat.

Als Eröffnungsstück wurde eine Bauernkomödie, „Der Fleck auf der Ehr’“ von Anzengruber gespielt. Die Zuhörerschaft brachte dem Drama wie den Darstellern ehrliche Begeisterung entgegen. Alles war in hellster Feststimmung, und in dieser nahm man das Stück ohne kritische Prüfung in hochaufloderndem Jubel hin, erquicklich angeregt durch die Thatsache, daß das neue Haus dem größten unter den lebenden Dramatikern Oesterreichs seine Thüren angelweit aufgethan hatte. Einen Triumph feierte mit der Darstellung eines Dorflumpen Ludwig Martinelli, ein Volksschauspieler ersten Ranges. Auch er hatte seit langem in Wien keinen Boden. Er mußte in blöden Operetten auftreten oder an kleinen Provinzbühnen Gastrollen geben. Jetzt kann er endlich den weiten Umfang seiner Fähigkeiten zeigen. Für ihn wie für Anzengruber besagt das „Deutsche Volkstheater“ eine Auferstehung von den Scheintodten. Solche Erweckung dünkt mir ein verheißungsvoller Beginn. Und von diesem auf die Zukunft schließend, meine ich, meinen Bericht nicht passender schließen zu können als mit den Worten aus der Festhymne, welche Ludwig Ganghofer zur Schlußsteinlegung des „Deutschen Volkstheaters“ gedichtet hatte:

„Sei, junges Haus,
Der schönen Kunst
Zur Wohn- und Heimstatt allerwege,
Und Volkes Lieb’
Und Volkes Gunst
Sei dir auf immer treu und rege.“