Das Ende eines königlichen Abenteurers

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Autor: Eduard Schulte
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Titel: Das Ende eines königlichen Abenteurers
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aus: Die Gartenlaube, Heft 25, 26, S. 425–427, 443–447
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1894
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Das Ende eines königlichen Abenteurers.

Von Eduard Schulte.

Als Napoleon im April des Jahres 1814 zur Abdankung gezwungen wurde, waren die Königsthrone, welche er für seine Verwandten errichtet hatte, längst zusammengebrochen. Nur der Gemahl seiner Schwester Karoline, Joachim Murat, behauptete sich noch über ein Jahr lang auf dem Thron von Neapel.

Freilich war dies letzte Regierungsjahr Murats zunächst nur eine Gnadenfrist, die er sich von den gegen Napoleon verbündeten Mächten dadurch erkauft hatte, daß er sich ihnen im Kampf gegen Frankreich angeschlossen; er ließ sich schon im Januar 1814 von Vertretern der österreichischen Regierung zusagen, daß die Verbündeten ihn dauernd als König von Neapel anerkennen würden, wenn er die französische Herrschaft in Mittel- und Oberitalien stürzen helfe, und er sandte nun eine Kriegserklärung an den Stellvertreter Napoleons in Italien, den in Mailand herrschenden Vizekönig Eugen. Der Wunsch, den Thron sich und seinen Kindern auch nach dem Sturze Napoleons zu erhalten, mußte in Murats Augen den Uebertritt zu den Verbündeten rechtfertigen oder wenigstens entschuldigen, aber wohl war ihm bei der Sache doch nicht. Der Schritt, den er nun gethan hatte, war ein Verrat an dem Kaiser, seinem Wohlthäter, und konnte nicht geeignet sein, das Mißtrauen zu entwaffnen, das seine neuen Verbündeten gegen ihn hegten. Er empfand das Unnatürliche seiner Lage, und das lähmte seine Entschließungen. Lässig, schwankend und zweideutig in der Erfüllung der von den Verbündeten ihm zugewiesenen Aufgabe und seinerseits von ihnen mit merklicher Kühle behandelt, trat er wieder auf die Seite Napoleons zurück, als die Kunde kam, daß dieser von Elba her an der französischen Küste gelandet sei und an der Spitze seiner alten Soldaten das Kaiserreich wieder aufrichte. Großer Pläne voll, rief Murat, der Rom und Florenz besetzt hatte, zu Ende März 1815 die Italiener auf, sich als ein einiges Volk zu erheben und ihre Unabhängigkeit zu erkämpfen.

Unleugbar war dieser Aufruf eine weltgeschichtliche That. Zum [426] erstenmal trat der Fürst eines italienischen Landes, den Sehnsuchtsträumen der großen Italiener aus den vergangenen Jahrhunderten entsprechend, für ein einiges und unabhängiges Italien ein, und sein Einigungsruf verhallte nicht wieder, er war wie eine Weissagung, die einst in Erfüllung gehen sollte. Aber der Wert der That war nicht in allen Punkten zweifelsfrei; der Fürst, der sich zu ihr entschloß, war selbst ein Fremder, dem Lande, das er regierte, von außen her aufgedrungen, und sein Auftreten glich mehr dem eines verzweifelten Spielers als dem eines fürstlichen Staatsmannes. Noch war die Zeit nicht reif. Der Haß der Italiener untereinander und der Mehrzahl von ihnen gegen einen aus der Revolution emporgestiegenen Fürsten war noch zu groß, die Abneigung der europäischen Herrscherfamilien gegen einen Emporkömmling, der einen bourbonischen Thron für sich in Anspruch nahm, noch zu tief, die Ueberlegenheit der in Italien alt hergebrachten Fremdherrschaft, die jetzt und für die nächsten Jahrzehnte durch Oesterreich ausgeübt wurde, noch zu beträchtlich. Der König Joachim wurde am 2. Mai 1815 von den Oesterreichern bei Tolentino geschlagen und kehrte als ein Mann, der sein Spiel verloren hat, in seine Hauptstadt nur zurück, um sich von der Königin, die er zur Regentin eingesetzt, zu verabschieden und sein Heil in der Flucht zu suchen. Er schiffte sich mit seinem Gefolge nach Frankreich ein, während die Königin sich mit ihren Kindern nach Triest begab. Die engherzige und kurzsichtige Herrschaft der Bourbonen wurde hergestellt, König Ferdinand zog in Neapel wieder ein, und jede Spur von König Joachims Regierungszeit, die wenigstens eine gerechtere Verteilung der Staatslasten und eine verständige Rechtspflege gebracht hatte, wurde nach Möglichkeit ausgetilgt.

Murat landete gegen Ende des Monats Mai in aller Stille in Cannes und hielt sich dann meist in Toulon auf, wo ein Verwandter von ihm wohnte, ein Fregattenkapitän Bonafoux. Bei diesem konnte er, wie er meinte, ohne Gefahr den Bescheid auf seine an Napoleon gerichtete Bitte um Verzeihung abwarten. In der Zurückgezogenheit beschäftigte er sich damit, die gegen seine Politik erhobenen Vorwürfe in Zeitungen abzuwehren, ohne persönlich hervorzutreten. Auch das Gefolge hielt sich möglichst unauffällig und nahm hier und da ebenfalls in Toulon Wohnung. Zuweilen wechselte Murat seinen Aufenthalt, um der Verhaftung zu entgehen, falls Napoleon eine solche anordnen sollte. Es traf sich, daß am 18. Juni, an demselben Tage, wo bei Waterloo gekämpft wurde, bei dem im Bezirk von Toulon befehligenden Marschall Brune wirklich ein kaiserlicher Erlaß einlief, Murat zu verhaften. Brune scheute vor einem solchen Vorgehen gegen seinen alten Waffengefährten zurück. Er ermittelte sein Versteck und kam noch an demselben Tage heimlich zu ihm, um ihm von dem Befehl Kenntnis zu geben und fofortige Flucht anzuraten. Murat bat um einen Paß, damit er zur französischen Armee ins Feld eilen und durch tapferes Mitkämpfen das Vertrauen des Kaisers wiedergewinnen könne, aber Brune meinte, angesichts des Haftbefehls die Bitte nicht erfüllen zu dürfen. Der Kapitän Bonafoux, in dessen Hause der Flüchtling nun nicht mehr sicher war, vermittelte diesem darauf ein Unterkommen auf dem nicht weit von der Küste gelegenen Landhause einer Familie Marouin. Murat fand in seinem Zimmer eine jener schrankähnlichen, zweckmäßig versteckten Mauernischen, wie sie während der Revolutionszeit in vielen Häusern angebracht worden waren, um als letzte Zufluchtsstätte gegen Verfolgungen zu dienen.

Als die Nachricht kam, daß der Kaiser zum zweitenmal abgedankt und König Ludwig XVIII. die Regierung wieder angetreten habe, beschloß Murat, der bis dahin immer noch auf die Versöhnlichkeit Napoleons gehofft hatte, nach den Vereinigten Staaten von Nordamerika auszuwandern, ehe die Häscher der neuen Regierung auf ihn fahndeten und sein Versteck erspähten. Es wurde eine Brigg gemietet, und Murats Gefolge, das man unter der Hand von der bevorstehenden Abfahrt verständigte, ging am 31. Juli an Bord; in der Frühe des 1. August sollte Murat selbst sich einschiffen.

In der Nacht vor dem Tage der Abfahrt übergab Murat Herrn Marouin, seinem Wirt, der sich zur Königin nach Triest begeben wollte, ein kleines französisches Buch, in das er auf eine nicht ganz bedruckte Seite die Worte geschrieben hatte: „Beruhige Dich, meine teure Karoline; obwohl sehr unglücklich, bin ich frei. Ich reise, ohne zu wissen, wohin, aber wohin ich auch gehe, mein Herz gehört Dir und meinen Kindern. J. M.“ 

Am Morgen des Abfahrtstages wartete Murat vergeblich auf das Boot, das von der Brigg ans Land geschickt werden sollte, um ihn abzuholen. Die Brigg befand sich auf offenem Meere in nicht unbeträchtlicher Entfernung vom Strande, da sie der Behörden wegen das Auslaufen von einem Hafen aus vermeiden mußte und durch die Seichtigkeit des Wassers an größerer Annäherung gehindert wurde. Es ergab sich später, daß das abgeschickte Boot sich in den tief ins Land schneidenden Einbuchtungen der Küste verirrt hatte und nach vergeblichem Suchen zur Brigg zurückgekehrt war. Marouin und sein Bruder, die ihren Schützling bis an die Küste begleitet hatten, beauftragten nun einen Fischer, ihn bis zur Brigg zu rudern. Als Murat bereits in den Fischerkahn gestiegen war, ließ er sich von Marouin noch ein Paar Pistolen zuwerfen, die er am Ufer vergessen hatte und die ihm als Geschenk seiner Gattin besonders wert waren.

Dieser Augenblick entschied über Murats ferneres Schicksal. Der Fischer schloß aus den reichen und kostbaren Verzierungen, womit die Waffen geschmückt waren, daß er eine hochgestellte Persönlichkeit, ja wahrscheinlich den Exkönig von Neapel im Boot habe, der, wie er wußte, von der Polizei gesucht wurde. Er beschloß, aus dieser Entdeckung Nutzen zu ziehen, ruderte eine weite Strecke in das Meer hinein, erklärte dann, daß ein Sturm herannahe, der ihn nötige, umzukehren, und fuhr an die Küste zurück. Des Wirtes Bruder, der allein noch an der Küste geblieben war, führte den König, da ein anderes Boot sich nicht fand, wieder in das Landhaus zurück und gab ihm den dringenden Rat, sich versteckt zu halten, da Verrat zu gewärtigen sei. In der That brachte der Fischer die Gendarmen auf Murats Spur, und sie hielten in der Villa Haussuchung, die Mauernische entzog ihn jedoch ihren Nachforschungen. Als sie sich entfernt hatten, am Morgen des 2. August, eilte Murat mit Herrn Marouin, der für ein Boot gesorgt hatte, noch einmal an die Küste. Aber der Kapitän der Brigg, der zu dem Schluß gekommen war, daß Murat entweder auf die Einschiffung verzichtet habe oder an der Einschiffung verhindert worden sei, und der aus Furcht vor französischen Küstenwächtern und Kreuzern nicht wagte, länger zu warten, war mit dem Gefolge bereits abgesegelt. Für Murat bedeutete die Abfahrt der Brigg neben aller andern Verlegenheit einen erheblichen Geldverlust, da er einen gegen 100 Pfund wiegenden Sack mit Goldstücken an Bord gegeben hatte. Freilich verfügte er auch so noch über bedeutende Mittel, in einem Gürtel, den er beständig trug, befanden sich Diamanten im Wert von vier Millionen Franken.

Inzwischen war ein Preis von 40000 Franken für denjenigen ausgesetzt worden, der die Verhaftung Murats herbeiführen werde. Zwar ließen die Behörden verlauten, daß Murat sich der Ehre und Milde des französischen Königs unbesorgt anvertrauen könne; aber der Entthronte mußte, wenn er sich ergab, mit der Wahrscheinlichkeit rechnen, daß man ihn ähnlich wie den gestürzten Kaiser an einen sehr entfernten Verbannungsort schaffen und dort in dauernder Haft halten würde. Zudem ließ sich gerade in diesen Monaten, die dem zweiten Zusammenbruch des Kaiserreichs folgten, die heißblütige Bevölkerung der französischen Südprovinzen in ihrem Hasse gegen die Vertreter des Kaiserreichs zu mancherlei Greuelthaten hinreißen, wie denn der oben erwähnte Marschall Brune zu Avignon von einer Pöbelrotte ermordet wurde, an demselben Tage, an dem Murat zum letztenmal versuchte, sich nach Amerika einzuschiffen.

Nach wochenlangem Zuwarten und Beraten verabredete Murat mit drei kühnen französischen Seeoffizieren, den mit Kapitän Bonafoux befreundeten Herren Donadieu, Blancard und Langlade, daß sie persönlich ihn in einem Segelboot nach Korsika führen sollten. Korsika lag von allen Zufluchtsstätten, die in Betracht kommen konnten, am wenigsten weit entfernt. Wurde die Insel glücklich erreicht, so durfte er, wenn sie auch unter französischer Herrschaft stand, doch hoffen, in den schwer zugänglichen korsischen Gebirgen so lange ein Unterkommen zu finden, bis die Zukunft sich günstiger für ihn gestaltet hatte und etwa durch seine Gemahlin irgendwo ein Niederlassungsrecht für ihn ausgewirkt war.

Die drei Seeoffiziere mußten bei Beschaffung eines Segelbootes große Vorsicht anwenden, um keinen Verdacht zu erregen, und so waren sie in der Auswahl beschränkt; scheinbar durfte es sich um nichts weiter als um eine Spazierfahrt handeln, nur ein kleines und ziemlich altes Fahrzeug vermochten sie aufzutreiben. Am 22. August abends um zehn Uhr gingen sie unter Donadieus [427] Führung in Toulon unter Segel und holten Murat von einem einsamen Punkte der Küste ab. Sie steuerten nach dem korsischen Hafen Bastia, der von Toulon in der Luftlinie 300 Kilometer entfernt ist. Gegen Morgen erhob sich ein mit Gewitter verbundener Sturm, man kam nur mit Mühe und bei starkem Kreuzen von der Stelle, die Wellen schlugen in das Schiff, und Murat, der bei der Bedienung des Segelwerks nicht mithelfen konnte, mußte stundenlang das eingedrungene Wasser mit seinem Hute ausschöpfen. Alle an Bord genommenen Lebensmittel mit Ausnahme von einigen Flaschen Wein und einigen Tafeln Chokolade wurden durch das Seewasser unbrauchbar. Nach vierundzwanzigstündiger Fahrt entstand im Boden des Fahrzeugs ein Leck, das man vorläufig mit allen vorhandenen Taschentüchern noch verstopfen konnte, aber wenn nicht binnen einer gemessenen Zahl von Stunden Hilfe kam, so war der Untergang unvermeidlich. Nachdem die zweite Nacht vergangen war, begegnete das Boot einem Handelsschiff, das nach Toulon segelte. Murat rief den Kapitän an und versprach ihm eine Belohnung, wenn er ihn und seine Gefährten aufnehmen und nach Korsika bringen wolle. Der Kapitän antwortete mit einer Wendung seines Schiffes, welche geeignet war, das Boot in den Grund zu bohren. Donadieu, der das Steuer hielt, wußte eben noch zu rechter Zeit auszubiegen. Das Verhalten des Handelsschiffskapitäns ließ nur die Erklärung zu, daß er die vier Männer in dem kleinen Boot für Seeräuber hielt, wahrscheinlich deshalb, weil Murat Pistolen im Gürtel trug. Ergrimmt drückte Murat mit dem Rufe „Verräter“ eine Pistole auf den Kapitän ab, aber der Schnß versagte, da das Pulver feucht geworden war.

Glücklicher verlief die Begegnung mit einem zwischen Toulon und Bastia fahrenden, jetzt nach Bastia segelnden französischen Postschiff. Von diesem wurden die vier Insassen des Bootes, die bereits bis an die Knie im Wasser standen, nach sechsunddreißigstündiger Fahrt aufgenommen. Donadieu verließ das Boot zuletzt, und unmittelbar darauf versank es in den Wellen.

An Bord des Postschiffes befanden sich mehrere angesehene Männer, die nach Korsika flüchteten, weil sie als frühere Anhänger und Beamte des Kaiserreichs in den französischen Südprovinzen ihres Lebens nicht mehr sicher waren; auch ein Mameluck mit Namen Othello, der unter Murat gedient hatte, war auf dem Schiffe. Sie alle begrüßten Murat als König, unter lauten Kundgebungen ihrer Freude, ihn wiederzusehen. Das Schiff landete am 25. August in Bastia, und die drei französischen Seeoffiziere kehrten in der Stille nach Toulon zurück. Murat nahm beim Landen den Namen eines Grafen von Campo Melle an, aber es wäre ein vergebliches Bemühen gewesen, das Inkognito zu wahren, die Nachricht, daß er angekommen sei, verbreitete sich mit Windeseile über die Insel. Die französischen Bourbonen, die nun wieder über Korsika herrschten, waren bei den Korsen wenig beliebt, und so hatten sowohl Anhänger des Kaiserreichs von Frankreich aus als besonders Parteigänger Murats von Neapel aus gerade diese Insel als Zufluchtsstätte ausersehen, wo sie vor den Verfolgungen der neuen heimischen Regierungen verhältnismäßig besser geschützt waren als irgendwo sonst in Frankreich oder Italien. Hunderte von Offizieren und Soldaten aus den Armeen Napoleons und Murats lebten auf der Insel, sie jubelten dem gestürzten König entgegen, wo er sich zeigte, und die Korsen stimmten in diese Jubelrufe ein, ohne daß die königlich französischen Behörden es wagten, der allgemeinen Begeisterung für König Joachim entgegenzutreten. Der General Franceschetti, der jahrelang unter Murats Befehlen gestanden hatte und den dieser in Vescovato bei Bastia aufsuchte, stellte sich sofort wieder unter seine Befehle und war fortan sein vornehmster Berater. Viele andere frühere Offiziere und Soldaten strömten nach Vescovato und boten dem Könige ihre Dienste an. Es galt ihnen als selbstverständlich, daß Murat sein Königreich Neapel sich wiedererobern müsse.

Murat trat dem Landungsplane, den er längst erwogen hatte, nunmehr näher. Der erwähnte Mameluck Othello, der sich seinem Gefolge angeschlossen, hatte in Castellamare bei Neapel einen Verwandten, seinen Schwiegervater, und so beauftragte ihn Murat, nach Castellamare zu reisen, bei seinem Schwiegervater abzusteigen und möglichst unauffällig die Briefe zu bestellen, die er ihm einhändigte. Murat wandte sich in diesen Briefen an einige ihm aus seiner Regierungszeit her bekannte Personen, auf deren Anhänglichkeit er zählen zu dürfen meinte, und eröffnete ihnen, daß er in einem Hafen der Küste von Neapel eine bewaffnete Landung versuchen wolle; sie möchten ihn bei der Wahl des Hafens mit ihren Ratschlägen unterstützen. Nach Othellos Abreise begab er sich nach Ajaccio, wo er wie im Triumph einzog; man trug ihn auf den Armen in den von ihm gewählten Gasthof. Von dem freudigen Empfange hingerissen, sagte er zu dem General Franceschetti: „Wenn die Korsen mich so aufnehmen, was werden erst die Neapolitaner für mich thun!“ Er verschaffte sich durch den Verkauf mehrerer Diamanten die Verfügung über ansehnliche Geldmittel und betrieb nun die erforderlichen Vorbereitungen. Unter seinen alten Offizieren, die ihm wieder dienen wollten, traf er eine Auswahl. Von den älteren und jüngeren Soldaten, die sich zu seiner Fahne drängten, ließ er 250 Mann anwerben, sie sollten als Landungstruppe Verwendung finden. Zu schwerem Nachteil gereichte es ihm, daß es in Korsika nicht möglich war, größere Schiffe zu mieten. An fremde Hafenplätze hätte er sich nicht wenden dürfen, ohne Aufsehen und Verdacht hervorzurufen, und die Zeit drängte, denn er konnte in Ajaccio nicht länger den König und künftigen Eroberer spielen, ohne daß man von Frankreich aus gegen ihn eingeschritten wäre. Es gelang ihm nur, sich zehn kleine Fahrzeuge zu verschaffen, die, nachdem sie mit den nötigen Matrosen bemannt worden waren, zusammen nicht einmal für jene 250 Mann Raum boten; nur 160 Mann konnte er einschiffen. Die ganze Ausrüstung wurde in wenigen Tagen vollendet, und alle Beteiligten hielten sich bereit, auf den ersten Befehl an Bord zu gehen und abzusegeln. Es waren jetzt nur noch die Antworten auf die durch den Mamelucken bestellten Briefe abzuwarten.

[443] In Castellamare angekommen, hatte Othello, noch ehe er seine Briefe abgab, mit seinem Schwiegervater über seine Aufträge gesprochen. Dieser aber wurde zum Verräter und erstattete der Polizei Anzeige. In der nächsten Nacht drang die Polizei in das Haus, nahm die Briefe in Beschlag und verhaftete den Mamelucken. Die durch die Aufschriften als Empfänger bezeichneten Personen wurden ebenfalls verhaftet und angewiesen, dem Verfasser der Briefe so zu antworten, als wenn sie auf freiem Fuße wären, ihren Antworten aber den Wortlaut zu geben, den der Polizeiminister in Neapel dafür festgesetzt hatte und der dahin ging, daß ein Landungsversuch alle Aussicht auf Gelingen habe und daß dafür Salerno zweifellos der geeignetste Hafen sei. Zwei der Briefempfänger, ein aus Spanien stammendes Brüderpaar, weigerten sich, diesem Befehle nachzukommen, sie wurden in Haft behalten. Die übrigen, fünf an der Zahl, erkauften ihre Freiheit durch Befolgung des Polizeibefehls. Mit der Ueberbringung der Briefe an Murat wurde vom Minister ein gewisser Luigi beauftragt, der in Diensten der Polizei stand. Luigi kam am 28. September früh in Ajaccio an, stellte sich dem König Joachim als Bote Othellos vor, der noch in Castellamare bleiben wolle, überreichte die Briefe und spielte vor dem Könige den begeisterten Parteigänger. Murat ahnte nicht im entferntesten, daß er einen Verräter vor sich hatte, der ihm gefälschte Briefe überbrachte. In der Freude über die günstigen Berichte, die er mündlich und schriftlich empfangen, gab er seinen Offizieren ein großes Fest, ließ den Soldaten doppelte Löhnung auszahlen und ordnete den Aufbruch des Geschwaders für den Abend desselben Tages an.

König Murat saß noch an der Tafel, da meldete man ihm einen Herrn von Maceroni, der im Auftrage des Kaisers Franz von Oesterreich kam. Murat empfing den Abgesandten in einem Nebenzimmer und nahm aus seinen Händen ein unter dem 1. September erlassenes kaiserliches Schreiben entgegen, worin Kaiser Franz ihm eine Zufluchtsstätte auf österreichischem Gebiet anbot, jedoch nur unter der Bedingung, daß er fortan den Königstitel ablege, als Privatmann lebe und das österreichische Staatsgebiet ohne Erlaubnis des Kaisers nicht verlasse. Murat beendete lächelnd die Lesung dieses Briefes und trat mit dem Boten auf die Terrasse des Gasthofs. Dort sah man Murats Königsbanner wehen, man blickte auf sein im Hafen liegendes Geschwader und auf die die Straße füllende Menschenmenge, die beim Erscheinen Murats zu den Klängen seiner Militärkapelle rief: „Es lebe König Joachim!“ Staunend betrachtete der Bote das alles. Nun führte Murat ihn in den Salon, wo Offiziere Murats in glänzenden Uniformen versammelt waren, wie während der vorhergehenden Jahre in den Königsschlössern zu Neapel und Caserta. Von dem Gesehenen etwas eingeschüchtert, fragte der Bote: „Welchen Bescheid habe ich dem Kaiser von Oesterreich zu überbringen?“ Stolz antwortete Murat: „Sagen Sie meinem Bruder Franz, was Sie gehört und gesehen haben, und dann bestellen Sie ihm, daß ich noch heute abend ein Schiff besteige, um mir mein Königreich wiederzuerobern.“ Einige Stunden später ging Murat mit seinem Geschwader, an dessen Spitze er einen aus Malta stammenden Kapitän mit Namen Barbara gestellt hatte, unter Segel.

In welcher Selbsttäuschung befand sich doch der leichtlebige, hoffnungsfreudige, sorglose Murat! Mit den Vorbedingungen für ein Gelingen seines Unternehmens stand es so mißlich wie nur möglich. In den von Luigi überbrachten gefälschten Briefen hatte König Ferdinands Polizeiminister ihm deshalb Salerno als Landungsplatz bezeichnen lassen, weil von dem österreichischen Heere, das die Truppen Murats besiegt hatte, dort 3000 Mann standen. Die Anwesenheit der Oesterreicher im Königreich Neapel reichte bei der Ueberlegenheit der österreichischen Soldaten über die neapolitanischen allein hin, um eine erfolgreiche Schilderhebung zu gunsten Murats zu verhindern, und von dieser Anwesenheit mußte Murat Kenntnis haben, wenn er auch nicht für jede Stunde wissen konnte, an welchen Punkten sie standen. Erst nach dem Abzug der Oesterreicher hätte das Gelingen des Eroberungszuges einige Wahrscheinlichkeit für sich gehabt. Im neapolitanischen Heere hatte Murat wohl noch einige Anhänger, und es ist bezeichnend, daß König Ferdinand ihm lieber österreichische als neapolitanische Soldaten entgegenstellen wollte. Aber alle Offiziere, die als Parteigänger Murats bekannt waren, hatte König Ferdinand längst abgesetzt und in die Verbannung geschickt. Immerhin hätte Murat beim Eindringen in das Land einige Bataillone seines alten Heeres um sich versammeln können, wenn er selbst nur, wie Napoleon es that, mit einigen hundert Mann hinter sich gelandet wäre; aber so viele hatte er nicht, und auch nur mit denen zu landen, die er hatte, wurde ihm zum Teil durch Verrat unmöglich gemacht. Fast [444] alle seine Schiffskapitäne, Barbara nicht ausgeschlossen, sind, vielleicht durch Luigi gewonnen, der Verräterei dringend verdächtig, und überwiegend durch ihre Schuld wurde Murats Unternehmen einem kläglichen Ausgang zugeführt.

Nachdem das Geschwader Murats die Wasserstraße durchsegelt hatte, welche Korsika von Sardinien trennt, wurde er bald durch widrige Winde von der Richtung nach Salerno abgedrängt und südwärts getrieben. Das war, wenn man will, nur ein Glück für ihn, denn so lief er den Oesterreichern, welche ihn erwarteten, nicht geradezu in die Arme. Aber nun veranlaßte auch entweder der Wind oder das verräterische Verhalten der Kapitäne oder beides, daß die Schiffe nicht zusammenblieben. Murat, der auf dem vom Kapitän Barbara befehligten Schiffe fuhr, sah ein Fahrzeug nach dem anderen in der Ferne verschwinden; am 7. Oktober hielten sich in der Nähe seines Schiffes nur noch zwei andere. Als auch eines von diesen verdächtige Bewegungen ausführte, ließ es Murat ins Schlepptau nehmen, aber sein Kapitän kappte das Tau in einem unbewachten Augenblicke, befahl seinen Leuten, die Ruder anzuwenden, und entkam. So hatte Murat jetzt außer dem eigenen, auf dem er fuhr, nur noch ein einziges Schiff zur Seite, und nur 28 Soldaten waren noch verfügbar. Der getreue Franceschetti riet dem Könige, von der Landung abzustehen, durch die Straße von Messina nach Triest zu fahren und den bereits zugesagten Schutz des Kaisers von Oesterreich anzunehmen, und Murat war auch nicht abgeneigt, diesen Rat zu befolgen. Aber als man nun, an der Küste von Kalabrien südwärts hinsegelnd, am Morgen des 8. Oktober auf der Höhe von Pizzo angekommen war, behauptete der Kapitän Barbara, er müsse landen, um Wasser und Lebensmittel einzunehmen. Wahrscheinlich wollte Barbara den König in einem der letzten Häfen, die für eine Landung überhaupt noch in Betracht kommen konnten, zu landen zwingen, damit er sich nicht nach Oesterreich rettete. Das kleine Gefolge war ja kaum noch gefährlich, und ohnehin hatte Murat in seinem früheren Königreiche nirgends entschlossenere Gegner als in Kalabrien, das dem König Ferdinand die eifrigsten Vorkämpfer „für Thron und Altar“ schon gestellt hatte, als Murat noch regierte. Anfangs widersetzte sich Murat der Landung, aber dann wurde ihm der Gedanke unerträglich, daß er, der den Gefahren der Schlacht so oft getrotzt, für die Wiedereroberung seiner Krone gar nichts wagen und daß er eine Fahrt, die er als Triumphator begonnen, als Schutzflehender beenden sollte. So befahl er, daß die beiden Schiffe vor Anker gingen.

Auf dem Kirchturm von Pizzo schlug es 10 Uhr, als Murat in Generalsuniform und mit Federhut, zwei Pistolen im Gürtel und eine Fahne unter dem Arme, das Ufer betrat. Mit ihm landeten einige Offiziere, darunter der General Franceschetti und der Adjutant Campana, die 28 Soldaten und einige Diener, unter ihnen der Verräter Luigi. Mnrat stieg, seinem Gefolge voranschreitend, den steilen, treppenartigen Zugang zu der kleinen Stadt Pizzo hinauf, die auf einer etwa 100 Schritt vom Ufer entfernten und 10 Meter über das Meer emporragenden Anhöhe liegt. Dem Wege folgend, betrat er den Markt- und Kirchplatz des Ortes. Es war eben Sonntag, und viele der Einwohner standen auf dem Platze versammelt, um beim Beginn der Messe in die Kirche einzutreten. Staunend schaute die Menge auf die in glänzende Uniformen gekleideten Fremden. Murat erkannte unter den Leuten einen Mann wieder, der bei seiner Garde in Neapel als Sergeant gestanden hatte. „Tavella,“ sagte er, ihn bei Namen rufend, „kennst Du mich niht?“ Da jener schwieg, fuhr er fort: „Ich bin Joachim Murat; ich bin Dein König, Du sollst die Ehre haben, zuerst zu rufen: Es lebe Joachim!“ Das Gefolge wiederholte diesen Ruf mit lauter Stimme, aber der Angeredete und die übrigen Umstehenden verharrten in Schweigen, ja es wurde bald ein Gemurmel des Unwillens bemerkbar. Murat begriff, daß hier nicht der Punkt war, wo er den Hebel einsetzen konnte. Er beschloß, sich nach der nächstgelegenen größeren Stadt, nach dem eine Meile entfernten Monteleone zu begeben. „Wenn Du mich doch nicht hochleben lassen willst,“ wandte er sich weiter an Tavella, „dann verschaffe mir wenigstens ein Pferd, und ich will Dich dafür zum Kapitän ernennen.“ [445] Tavella jedoch entfernte sich schweigend und ließ sich nicht wieder sehen. „Nach Monteleone!“ rief Murat seinem Gefolge zu und schlug den Weg dahin, der in südlicher Richtung unfern der Küste hinlief, in Ermangelung eines Pferdes zu Fuß ein.

Inzwischen war einer der auf dem Platze versammelten Männer, Pellegrino mit Namen, in sein Haus gegangen, hatte seine Flinte zur Hand genommen und erhob nun auf dem Platze den Ruf: „Zu den Waffen!“ Während die meisten Männer, diesem Rufe folgend, ebenfalls ihre Flinten holten, benachrichtigte Pellegrino den Kapitän Capelli, den Vorsteher der nächsten Gendarmeriestation, der zufällig in Pizzo weilte, und diese beiden Männer nahmen nun an der Spitze von etwa 200 bewaffneten Bürgern und Bauern die Verfolgung Murats auf. Nach zehn Minuten schon hatten sie ihn eingeholt. Murat wandte sich zu ihnen zurück, blieb mit den Seinigen stehen und kam der Anrede Capellis, der mit dem Degen in der Hand auf ihn zuschritt, mit den Worten zuvor: „Wollen Sie, mein Herr, Ihre Kapitänsepauletten mit Generalsepauletten vertauschen so rufen Sie ‚Es lebe Joachim‘ und folgen Sie mir mit diesen tapferen Leuten nach Monteleone!“

„Sire,“ antwortete Capelli, „wir sind treue Unterthanen des Königs Ferdinand, und wir kommen, um Sie zu bekämpfen, nicht, um Sie zu begleiten; ergeben Sie sich, wenn Sie Blutvergießen vermeiden wollen.“

Murat winkte ihm zu, sich zu entfernen, und legte die Hand auf den Griff einer seiner Pistolen. Capelli trat zurück, Pellegrino aber, der die Bewegung Murats beobachtet hatte, schoß seine Flinte auf diesen ab; die Kugel streifte das Haar Murats. Nun wollte der General Franceschetti die paar mitgekommenen Soldaten feuern lassen, aber Murat wehrte ab und suchte, indem er mit seinem Taschentuche winkte, auch die Gegner von weiteren Feindseligkeiten abzuhalten. Er winkte jedoch vergebens, die Gegner schossen, und von Murats Gefolge fielen ein Offizier und mehrere Soldaten. Nun gab Murat das Spiel verloren. Er wandte sich, um sein Schiff wieder zu erreichen, in eiligem Laufe von der Landstraße ab der nahen Küste zu, und an der Kante des die Stadt tragenden felsigen Höhenzuges angekommen, wagte er den Sprung auf den wohl 10 Meter unter ihm liegenden Meeresstrand. Der hier aufgehäufte tiefe Sand schützte ihn vor Verletzungen, obwohl er zu Falle kam, und auch die beiden einzigen Begleiter, die ihm bei seinem Laufe gefolgt waren, der General Franceschetti und der Lieutenant Campana, führten den Sprung glücklich aus. Auf dem Wege zum Ufer hatten die drei Flüchtlinge ein kleines Gehölz zu durchschreiten, das sie auf kurze Zeit den Blicken der an der Kante der Anhöhe zunächst stillstehenden Verfolger entzog. Aber als sie das Gehölz verließen, wurde wieder nach ihnen geschossen, ohne daß jedoch jemand getroffen wurde. Mit Schrecken entdeckten sie nun, daß die beiden Kapitäne, die bis auf weiteres am Ufer hatten warten sollen, mit ihren Schiffen treuloserweise wieder in See gegangen waren. Als einziges Rettungsmittel bot sich ihnen ein Fischerkahn dar, der mit der einen Hälfte im Wasser, mit der anderen auf einem zum Trocknen ausgebreiteten Netze am Strande lag, und sie bemühten sich nun, den Kahn ganz ins Wasser zu bringen. Indessen hatten die Verfolger, die hier ortskundig waren, einen Abstieg von der Höhe gefunden und gaben noch einmal aus nächster Nähe eine Salve auf die Flüchtlinge ab. Durch die Brust getroffen, sank Campana tot nieder. Franceschetti sprang in das Boot, das endlich ganz ins Wasser geschoben war, und Murat wollte nach einem letzten Abstoß vom Lande folgen, aber seine Sporen verwickelten sich in das Netz, während das Fahrzeug seinen Händen entglitt. Er fiel nieder, und ehe er Zeit hatte, sich zu erheben, stürzten sich die Verfolger, zu denen sich auch Frauen gesellt hatten, über ihn her, nahmen ihm seine Fahne, rissen ihm die Epauletten ab, zogen ihm seinen Rock aus, und eine der Frauen raufte sogar seinen Bart. Die wütende Menge würde ihn getötet haben, wenn ihn Capelli und Pellegrino nicht geschützt hätten. Eine Stunde nach der Landung wurde Murat, getrennt von allen seinen Gefährten, in das Gefängnis geführt, das sich im Schlosse zu Pizzo befand und das er mit Dieben, Räubern und Mördern teilen mußte. Der Kommandant des Schlosses, der ihn bald nach der Verhaftung [446] aufsuchte, erfüllte seine Bitte, ihm einen anderen Raum anzuweisen; er wurde in einem zur Pförtnerwohnung gehörenden Zimmer untergebracht. Die übrigen Teilnehmer des Zuges wurden ebenfalls sämtlich gefangen genommen und später zum Tode oder zu Kerkerstrafen verurteilt.

Der optische Telegraph, der damals noch in Gebrauch war, um wichtige Nachrichten in die Ferne gelangen zu lassen, und der übrigens nur den Regierungen zur Verfügung stand, meldete Murats Landung und Verhaftung nach den nächsten Militärstationen und nach der Hauptstadt. Der Befehlshaber in Kalabrien, General Nunziante, der, einige Stunden von Pizzo, in Tropea stand, traf nach einem Eilmarsch noch am Nachmittage mit mehreren Regimentern in Pizzo ein. Nunziante hatte früher unter König Joachim gedient, inzwischen aber dem König Ferdinand Treue geschworen. Als er sich dem Gefangenen vorstellte, mochte dieser im ersten Augenblick wohl noch einige Hoffnung hegen, den alten Waffengefährten auf seine Seite zu ziehen. Aber schon nach Nunziantes ersten Worten erkannte Murat, daß er einen General König Ferdinands vor sich habe. Nunziante hielt, wenn auch in Form eines Gespräches, eine Art Verhör mit ihm ab. Der Gefangene erklärte unbefangen, daß er mit einem vom Kaiser Franz ausgestellten Passe – so bezeichnete er den oben erwähnten Brief des österreichischen Kaisers – von Korsika nach Triest reise und daß widrige Winde und der Mangel an Lebensmitteln ihn gezwungen hätten, bei Pizzo an Land zu gehen. Er wußte vermutlich nicht, daß ein von ihm erlassener Aufruf an die Neapolitaner und andere Schriftstücke, die das Festhalten seiner Ansprüche auf den Thron bewiesen, bei seinen Gefährten aufgefunden und mit Beschlag belegt worden waren. Weitere Fragen ließ er unbeantwortet, und Nunziante grüßte und ging.

Mnrat täuschte sich vollkommen über den Ernst seiner Lage, wenn er sich einredete, daß die Darstellung des Geschehenen, die er dem General Nunziante gegeben hatte, Anklang finden werde. Aber falls König Ferdinand sie nicht glaubte, so sollte wenigstens der Befehlshaber der österreichischen Truppen in Neapel und der englische Gesandte daselbst sie insoweit glauben können, daß sie ihm zu sofortiger Befreiung aus der Haft behilflich waren. An diese Persönlichkeiten schrieb er also im Sinne der von ihm dem General Nunziante erteilten Auskunft, auch seine in Triest weilende Gemahlin benachrichtigte er. Als er nach Beendigung der Briefe an das Fenster trat, sah er, daß man den bei der Landung gefallenen Lieutenant Campana nicht weit vom Schlosse begrub. Der General Nunziante, der jetzt wieder eintrat, traf den Gefangenen in ernster Stimmung, aber ohne Besorgnisse für sich selbst. „Campana, Campana,“ äußerte Murat, „wenn ich den Thron je wieder besteige, so lasse ich Dir ein königliches Grabmal bauen!“ Die Gefälligkeiten, die man dem Gefangenen erwies – man bereitete ihm ein Bad, verschaffte ihm eine neue Uniform und umgab ihn mit den kleinen Annehmlichkeiten des Lebens – mochten mit dazu beitragen, ihn, den allezeit Hoffenden, in der Meinung zu bestärken, daß man ihn bald in Freiheit setzen werde. Der General Nunziante speiste mit ihm zu Abend und ließ ihn dann allein.

Am folgenden Tage, dem 9. Oktober, erhielt Nunziante morgens ein Telegramm aus Neapel, welches ihn anwies, den Gefangenen als einen mit bewaffneter Hand in das Land eingedrungenen Friedensbrecher und Staatsfeind vor ein Kriegsgericht zu stellen. Er begab sich darauf zu Murat, um ihn auf sein Schicksal vorzubereiten, das nun nicht mehr zweifelhaft sein konnte. Aber da er ihn, der noch über einen mit Goldstücken gefüllten Geldbeutel verfügte, dabei beschäftigt fand, zwei Schneidern wegen einiger neuer Anzüge Weisungen zu geben, konnte er sich nicht entschließen, seine Absicht auszuführen und die ahnungslose Lebensfreudigkeit des an schöne Kleider denkenden Gefangenen zu stören. Er nahm es auf sich, mit allen weiteren Schritten so lange zu warten, bis das Telegramm durch ein amtliches Schreiben bestätigt sein würde. Erst am 12. Oktober früh kam dieses Schreiben, das am 9. von Neapel abgegangen war, in Pizzo an. Es enthielt eine königliche Verfügung, welche so lautete:

„Wir Ferdinand von Gottes Gnaden König etc. haben beschlossen, was folgt.

Artikel 1.0 Der General Murat wird vor ein Kriegsgericht gestellt, dessen Mitglieder von unserem Kriegsminister ernannt werden.

Artikel 2.0 Dem Verurteilten wird zum Empfange der Tröstungen der Religion nur eine halbe Stunde bewilligt.
 Ferdinand.“ 

Beigefügt war ein Schreiben des Kriegsministers, welches den Vorsitzenden, die sechs Beisitzer, den mit dem Vortrage über den Thatbestand beauftragten Berichterstatter und den Protokollführer des Kriegsgerichts, sowie den Ankläger und den Verteidiger des Gesangenen mit Namen bezeichnete.

Am frühen Morgen des 13. Oktober trat das Kriegsgericht im Schlosse zu Pizzo zusammen. Um sechs Uhr begab sich der mit der Verteidigung betraute Kapitän Starace in das Zimmer Murats. Da dieser, der von den Befehlen König Ferdinands nichts ahnte, noch ruhig schlief, so gewann es der Kapitän nicht über sich, ihn zu wecken. Indem er sich entfernen wollte, stieß er unwillkürlich an einen Stuhl, und Murat erwachte. „Was wünschen Sie?“ fragte er.

Dem Kapitän, der wie die meisten Teilnehmer an dem Kriegsgericht noch unter Murat gedient hatte, versagte die Stimme.

„Sie haben wohl Nachrichten aus Neapel?“ fragte Murat weiter, der nun erst seine Lage zu begreifen anfing.

„Ja, Sire,“ murmelte der Kapitän.

„Was besagen diese Nachrichten?“

„Sie sollen vor ein Kriegsgericht gestellt werden.“

„Wer soll dann aber als Richter auftreten?“ wandte Murat ein, indem er sich an die letzte Hoffnung klammerte. „Wie will man Männer meines Ranges finden, die allein mich würden richten können? Gelte ich als König, dann muß ein Gerichtshof von Königen gebildet werden, gelte ich als Marschall, dann müssen sich Marschälle versammeln, gelte ich als General, und weniger bin ich doch nicht, dann müssen Generale über mich richten.“

„Sire, Sie sind für einen Staatsfeind erklärt, und so können Sie vor ein gewöhnliches Kriegsgericht gestellt werden, das haben Sie früher selbst bestimmt.“

„Meine Verfügung war gegen Räuber gerichtet, nicht gegen gekrönte Häupter,“ erwiderte Murat verächtlich. „Nun denn, wenn man mich morden will, ich bin bereit. Ich hätte den König Ferdinand einer solchen Handlung nicht für fähig gehalten.“

Abbrechend fragte der Kapitän den Gefangenen, ob er die Namen der Richter zu erfahren wünsche. Murat bejahte. Nachdem sie vorgelesen waren, schlug der Kapitän vor, Murat selbst möge seine Sache vor Gericht vertreten. „Nichts davon,“ antwortete er. „Zu viele Seiten Geschichte müßten zerrissen werden, wenn ich die Richter anerkennen wollte, die man mir gesetzt hat. Dieser Gerichtshof ist unzuständig, und ich würde mich schämen, vor ihm zu erscheinen. Ich weiß, daß ich mein Leben nicht mehr retten kann – lassen Sie mich wenigstens die königliche Würde retten.“

Das Kriegsgericht beruhigte sich bei der Weigerung Murats, sich in Person zu stellen, und erzwang sein Erscheinen nicht. Dafür trat der mit der Berichterstattung vor Gericht beauftragte Lieutenant Froio bei ihm ein und fragte ihn nach Namen, Alter und Geburtsort. Ungeduldig antwortete Murat mit erhobener Stimme. „Ich bin Joachim Napoleon, König von Neapel, und ich fordere Sie auf, mein Zimmer zu verlassen.“ Der Offizier ging, und die Sitzung des Kriegsgerichts begann.

Murat schrieb indes an seine Gemahlin folgenden Brief: „Teure Frau! Die verhängnisvolle Stunde ist da, ich stehe vor der Hinrichtung. In einer Stunde hast Du keinen Gatten, haben unsere Kinder keinen Vater mehr. Denkt an mich und vergeßt mich nicht! Ich sterbe unschuldig, und das Leben wird mir durch ein ungerechtes Urteil genommen. Adieu, Achilles, adieu, Lätitia, adieu, Lucian, adieu, Louisa. Zeigt Euch meiner würdig! Ich lasse Euch auf einer Erde und in einem Lande, wo ich viele Feinde habe. Zeigt Euch dem Unglück überlegen und haltet Euch nicht, an vergangenes Glück denkend, für mehr, als Ihr seid! Lebt wohl, ich segne Euch. Flucht meinem Andenken nicht! Erinnert Euch, daß bei meinem Tode mein größter Schmerz ist, fern von meinen Kindern und von meiner Frau zu sterben und niemand zu haben, der mir die Augen zudrückt. Adieu, meine Karoline, adieu, meine Kinder! Empfangt meinen väterlichen Segen, meine Sehnsuchtsthränen und meine letzten Küsse! Lebt wohl und vergeßt Euren unglücklichen Vater nicht!
Pizzo, den 13. Oktober 1815. Joachim Murat.“ 

Nach einer längeren Weile – es war zehn Uhr geworden – trat der General Nunziante schweigend und mit bekümmerter Miene wieder ein. Murat verstand ihn; es war ein Todesurteil gefällt worden. Er ließ sich von Nunziante versprechen, die Besorgung des Abschiedsbriefes zu übernehmen, und sagte dann, als [447] wenn er den Gerichtsherrn trösten müßte, in heiterem Ton: „Mut, mein lieber General, wir sind Soldaten, wir wissen, was es heißt, in den Tod zu gehen. Sie erlauben mir doch, daß ich selbst kommandiere?“ Nunziante gab seine Zustimmung. Bald darauf kam der Lieutenant Froio mit einem Schriftstück in der Hand; es war das inzwischen niedergeschriebene Urteil. „Lesen Sie!“ sagte Murat und hörte gleichmütig zu. Dann fragte er den General, wann die Erschießung stattfinden solle. Trotz des oben mitgeteilten zur Eile antreibenden königlichen Befehles überließ es Nunziante dem Verurteilten, den Zeitpunkt der Hinrichtung selbst zu bestimmen. Murat setzte sie auf vier Uhr nachmittags fest, und die Offiziere verabschiedeten sich.

„Sehe ich Sie nicht mehr?“ rief Murat dem General nach.

„Ich habe Befehl, bei Ihrem Tode zugegen zu sein, aber ich werde die Kraft dazu nicht haben.“

„Gut, ersparen Sie sich das, aber ich möchte Ihnen doch noch einmal Lebewohl sagen.“

„Sie werden mich auf Ihrem Wege finden. Hier vor der Thür warten zwei Geistliche auf Sie. Wollen Sie sie empfangen?“

„Ja, lassen Sie sie eintreten!“ – –

Als es vier Uhr schlug, trat Murat aus seinem Zimmer. Vor der Thür erwarteten ihn der General Nunziante und ein Offizier. Nunziante warf sich dem Könige weinend in die Arme und verließ dann eiligst das Schloß. Murat durchschritt den Hausgang der Pförtnerwohnung, in der er seine letzten Lebenstage zugebracht hatte, und gelangte dann auf den großen, einem Saale gleichenden Flur des Schlosses, hier sah er die zum Vollzug der Hinrichtung bestimmten zwölf Soldaten aufgestellt. Er trat auf die erste Stufe eines Treppenaufgangs und rief, indem er seinen Rock über der Brust öffnete, mit lauter Stimme. „Feuer!“ Von acht Kugeln getroffen, sank er lautlos nieder. Man ließ dann die vor dem Thore wartende Volksmenge ein, damit sie sich von dem Tode Murats überzeuge.

In Pizzo erhielt sich das vielleicht nicht unbegründete Gerücht, daß die Leiche Joachims ohne Kopf begraben worden sei und daß der Geheimpolizist Luigi, der sich auf dem Landungszuge im Gefolge Murats befunden hatte, aus Neapel den Befehl erhalten habe, im Einverständnis mit dem Schloßkommandanten den Kopf abzutrennen und nach der Hauptstadt zu bringen. Es hieß, man habe sich auf diese Weise am besten gegen die Möglichkeit zu sichern gemeint, daß irgend ein Abenteurer, der sich für den König Joachim ausgeben könnte, Anhänger finde, denn dessen Unechtheit wäre durch den in Neapel verwahrten Kopf von vornherein verbürgt gewesen.