Das Erdbeben auf Guadeloupe
Eins jener furchtbaren Ereignisse, die besonders seit dem Unglücksjahr 1842 die Welt mit Trauer und Schrecken erfüllen, hat neuerdings Frankreich in seiner blühendsten Colonie betroffen.
Am 8. Februar 1843, genau neun Monate nach dem beispiellosen Unglück auf der Versailler Eisenbahn und dem [20] Brande von Hamburg erschütterte ein Erdbeben die Antillen. Pointe à Pitre, die bevölkertste und reichste Stadt auf Guadeloupe, wurde in einem Augenblick von Grund aus umgestürzt.
Das Erdbeben dauerte 70 Secunden. Solch’ ein flüchtiger Augenblick, der in einem glücklichen und thätigen Leben fast für nichts genügt, war dort hinreichend, eine ganze Stadt zu zerstören, die Trümmer in Brand zu stecken und mehre Tausend Menschen zu tödten. Was das Erdbeben verschont hatte, verschlang sogleich eine andere Geißel. Vier Tage lang zehrte die Flamme davon und verbrannte Alles, was unter den Trümmern lag: Lebendige, wie Leichen! Nur Eins verschonte die allgemeine Vernichtung: eine Uhr, die bei der ersten Erschütterung stehen blieb und genau den Augenblick anzeigte, in welchem das Unglück die Stadt überraschte.
Guadeloupe galt übrigens stets als ein gefährlicher Boden. Es besteht aus zwei, durch den Salzfluß, eigentlich einen Arm des Meeres, getrennten Inseln: Grande Terre im Osten, Basse Terre oder das eigentliche Guadeloupe im Westen. Basse Terre ist durchaus vulcanisch. Der gegen 5000 Fuß hohe Schwefelberg (La Soufrière) dampft fortwährend. An verschiedenen Stellen des Bodens dringen erstickende Dünste hervor. Auf einer bedeutenden Strecke des Meeres in der Nähe des Ufers ist das Wasser beständig siedend heiß. Dennoch hat diesmal Basse Terre mit seiner Hauptstadt gleiches namens weniger gelitten. Der Hauptstoß traf Grande Terre und besonders dessen Hauptstadt Pointe à Pitre.
Pointe à Pitre ward 1763 erbaut und hieß damals Morne Renfermé – der eingeschlossene Hügel. Siebzehn Jahre später, im Jahr 1780, legte eine Feuersbrunst fast die ganze Stadt in Asche. Damals ging sie aus ihren Trümmern bevölkerter, regelmäßiger, schöner und reicher wieder hervor. Mit Hülfe Frankreichs und bei der Thätigkeit und der Entschlossenheit ihrer Bewohner ist zu hoffen, daß sie auch dieses Mal wieder neu erstehen, daß sich eine dritte Stadt als treue Hüterin ihrer Mutter und Großmutter auf deren Grabe erheben werde.
Vor der Zerstörung zählte Pointe à Pitre 16–20,000 Einwohner, ganz Guadeloupe, auf einem Flächenraume von 30 Quadratmeilen, etwa 110,000 Einwohner, worunter 87,000 Negersklaven, 13,000 Weiße, 9000 freie Farbige waren. Es bildet mit den kleinen dazu gehörigen Inseln Desirade, Marie Galante und Les Saintes, nebst Martinique die französischen Besitzungen in Westindien, und bringt besonders Zucker, Kaffee, Indigo, Cacao und Baumwolle hervor. Columbus entdeckte es 1493; französische Flibustier nahmen es 1635 in Besitz; 1691 und 1705 griffen die Engländer es vergeblich an, 1759 gerieth es in deren Gewalt, kam aber 1763 beim Abschlusse des Friedens wieder an Frankreich; 1793 eroberten die Engländer es von neuem, wurden 1794 vertrieben, besetzten es 1810 abermals, und traten dasselbe 1813 an Schweden ab, von dem Frankreich es im Pariser Frieden zurückerhielt.
Am gedachten Tage um 10 Uhr 25 Minuten Morgens, bei einem Thermometerstande von nur 22°, vernahm man ein unterirdisches Tosen, worauf ein Erdstoß folgte, der, wie schon erwähnt wurde, 70 Secunden dauerte und alle steinernen Häuser umstürzte. Dann brach sogleich an 2–300 Stellen Feuer aus, welches auch die hölzernen Häuser verzehrte. Die Anzahl der von den Mauern Erschlagenen oder im Feuer Umgekommenen wird auf 6000 geschätzt. Der Verlust an Waaren etc. soll 30 Mill. Fr. betragen. Den Werth der zerstörten Gebäude gibt [21] man auf 40 Mill. Fr. an. Alle Documente, Archive, Obligationen etc. sind vernichtet. Der Hauptgewerbzweig des Landes ist unterbrochen. Von 56 Zuckerfabriken in der Nähe von Pointe à Pitre blieben nur 3 stehen. Das reife Zuckerrohr in den Pflanzungen verdarb. Auch auf dem Lande richtete das Erdbeben großen Schaden an. Mehre Ortschaften wurden dort ebenfalls ganz oder theilweise zerstört. Ungeheure Erdspalten thaten sich auf und spieen Wasserströme, Flammen und Asche.
„Wie dunkel die Schilderung unsers Unglücks auch gefärbt sein mag“, schreibt ein Geistlicher auf Guadeloupe einem Amtsgenossen in Paris, „stets wird sie noch weit hinter der Wirklichkeit zurückbleiben. Während wir bei einem Pfarrer in Pointe à Pitre, den ich besuchte, beim Frühstück waren, vernahmen wir ein Geräusch, ähnlich dem Wirbeln vieler Tambours, oder als ob Karren um das Haus führen. Es war das unterirdische Tosen des Erdbebens, das sogleich drei Viertel der Stadt zertrümmerte. Aber jetzt welch’ ein gräßliches Schauspiel! Noch lebende Wesen, in Stücken zerrissen, nach Hülfe rufend, wenn sie es vermochten, oder um den Gnadenstoß bittend; Tausende von Stimmen um Erbarmen flehend; der Staub all’ der Trümmer die Augen blendend und die Stimme erstickend; überall das Bild des Todes, der Verzweiflung! Nie wird die menschliche Sprache solche Scenen zu schildern vermögen! Und dies war erst der Anfang unserer Leiden; uns stand noch größeres Unglück bevor. Es brach Feuer aus, griff, von einem starken Winde angefacht, rasch um sich, und verzehrte Alles, was das Erdbeben übrig gelassen hatte. Binnen zwei Stunden hatte es seine Verheerungen überall verbreitet, neue Opfer gefordert, den frühern Beistand zu leisten verhindert und die Trümmer in einen Aschenhaufen verwandelt. Die Feuerspritzen waren von einstürzenden Häusern zerschlagen, und während die Fluthen des Oceans zu unsern Füßen strömten, hatten wir nicht ein einziges Gefäß, sie zu schöpfen und auf die verzehrenden Flammen zu gießen. Fast alle Kirchen auf der ganzen Insel sind eingestürzt etc.“ In einem andern Schreiben heißt es: „Dieses furchtbare Ereigniß erinnert an das Unglück auf der Versailler Eisenbahn. Allein es ist viel größer und hat außerdem den Todeskampf der unter den Trümmern eingschlossenen Opfer zum Voraus.“
Ueberall auf den Antillen rührte Guadeloupe’s Unglück Aller Herzen, regte es allgemeine Theilnahme an. Die Insel Martinique, welche vor vier Jahren ebenfalls von einem Erdbeben furchtbar heimgesucht worden, fühlte den Boden unter den Füßen zittern und ahnete sogleich das ungeheure Unglück. Mit Ungeduld, ängstlich wartete man auf Nachrichten. Endlich erscheint ein Schiff. Seine Flagge zeigt Trauer. Sogleich bilden sich Hülfsvereine; Geld, Brot, Kleider, Geräthe, Alles wird dargeboten, Alles wird gesammelt, und gleich geht ein erstes Schiff mit diesen ersten Hülfeleistungen ab.
In allen Colonien, die Frankreich in Westindien besitzt, [22] benahm sich die Bevölkerung bewunderungswürdig. Die Behörden ordneten und leiteten die gemeinsamen Anstrengungen mit Ordnung und Thätigkeit.
Die französische Regierung beantragte sogleich eine Unterstützung von 21/2 Mill. Fr. bei den Kammern, und diese bewilligten sie ohne alle Berathung. Ueberall bildeten sich Hülfsvereine, und eine Commission, in welcher der Minister der Marine und der Colonien den Vorsitz führt, vereinigt alle Gaben und überwacht deren Verwendung. Die Schulen, der Handelsstand, die Nationalgarde, die Presse, die Geistlichkeit, kurz ganz Frankreich schloß sich in großmüthiger Theilnahme an. Gegenwärtig sind durch freiwillige Beiträge bereits über drittehalb Millionen Franken zusammengebracht und zum Theil abgesendet worden.
Berichte aus Guadeloupe geben ein sehr düsteres Bild von dem moralischen und materiellen Zustande der Bewohner des von dem Erdbeben heimgesuchten Theiles der Insel. Der Anblick, den die verwüstete Stadt darbietet, wird mit dem einer Ruine verglichen, über welche schon Jahrhunderte hinweggegangen. Der Boden, auf welchem Pointe à Pitre stand, ist von großen Spalten zerrissen, welche ganze Massen von Schlamm ausgespieen haben. Die Quais haben sich an mehren Punkten anderthalb und zwei Fuß tief gesenkt. Der auf das Erdbeben gefolgte Brand der Stadt wird hauptsächlich unterirdischem Feuer zugeschrieben. Die Spitzen der meisten Berge der Insel sind eingestürzt. Die beiden Flüsse Lamentin und Moustique führen statt des Wassers nur noch Schlamm. Auf die fieberhafte Thätigkeit, mit welcher die Ueberlebenden in den ersten Tagen an der Rettung von Menschen und Eigenthum arbeiteten, ist, seitdem sich der ganze Umfang des Unglücks deutlicher übersehen läßt, Abspannung und Entmuthigung gefolgt. Alle durch die Umstände nothwendig gemachten Arbeiten werden durch den Mangel an baarem Gelde gelähmt. Man hat vergebens in den Gouverneur gedrungen, eine Summe von 11/2 Mill. durch Ausstellung von Wechseln auf den französischen Schatz zu realisiren und sie als Darleihe an die Verunglückten zu vertheilen. Auch die Einberufung der Colonialrepräsentation ist von dem Gouverneur zum großen Misvergnügen der Bevölkerung abgelehnt worden. Indessen müssen die ersten Geldsendungen von Paris bereits eingetroffen sein, und ohne Zweifel eine wohlthätige Wirkung hervorgebracht haben.
Das Departement der Marine rüstet mit löblichem Eifer fortwährend Schiffe aus, welche den Opfern des Erdbebens in Guadeloupe Hülfe bringen sollen. Die öffentliche Theilnahme spricht sich außerdem in Concerten, Lotterien, Benefizvorstellungen der Theater und selbst in Billardpartien aus, welche in den Cafés gespielt werden, und deren Einsatz demselben wohlthätigen Zwecke gewidmet ist; die bedeutendste Unterstützung hat jedoch der große Bazar im Palais Royal gewährt, der, von den ersten Damen von Paris gehalten, über 100,000 Fr. eingebracht hat.