Das Haideprinzeßchen/Fortsetzung

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Autor: Eugenie John Marlitt
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Titel: Das Haideprinzeßchen
(Fortsetzung)
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 50–52
Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1871
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[825]
28.

Am anderen Morgen, als ein bleicher, kalter Sonnenstrahl auf mein Bett fiel, da zerstob freilich der wonnige Spuk nach allen vier Wänden. Ich schämte mich und wußte doch eigentlich nicht weshalb. … Fräulein Fliedner protestirte energisch, aber das half Alles nichts – ich sprang aus dem Bett, kleidete mich eiligst mit bebenden Händen an und lief nach der Karolinenlust – ich floh aus dem Vorderhause. … Allein dem scharfen Blick, unter dem ich mit einem Mal wehrlos zitterte, konnte ich doch nicht mehr entfliehen, und seltsam – Herr Claudius, der bis dahin meinem abweisenden Benehmen eine ruhig ernste Stirn, eine völlig reservirte Haltung entgegengestellt hatte, er wich nicht um Haaresbreite mehr von dem Standpunkte zurück, auf welchem er an jenem Abend Fuß gefaßt. … Er hatte mich einmal stützend umschlungen, und nun war es, als geschähe das unsichtbar fort und fort, bis in alle Ewigkeit. Meine scheue Flucht bei seinem Erblicken, meine consequent gesenkten Augenlider, wenn er mit mir sprach, mein Schweigen in seiner Nähe, das Alles blieb ohne Wirkung – er sprach unverändert in den warmen Tönen zu mir, die er einmal angeschlagen, und seine strahlend heitere Stirn furchte sich nicht. Er hielt mich eisern fest, ohne mich zu berühren, und den Ausspruch, daß er mich zu beschützen wissen werde, machte er in jeder Beziehung wahr. Er war beinahe mehr in der Sternwarte, als in seiner Schreibstube; Theeabende gab es nicht mehr im Vorderhause – dafür saß Herr Claudius oft an unserem kleinen Theetisch in der Bibliothek, und während der Wintersturm draußen um die Ecken heulte, und die herabgelassenen grünen Wollvorhänge leise in das Zimmer hereinblies, hielt mein Vater vor seinen zwei Theetischgenossen einen seiner weltberühmten Vorträge. Tief nachsinnend hörte Herr Claudius zu; nur dann und wann fiel ein Einwurf von seinen Lippen – dann fuhr der Redner betroffen zurück, denn es war neu und originell, was er da hörte, und stützte sich auf einen Wissensschatz, den er bei „dem Krämer“ am allerwenigsten vermuthet hatte.

Unser Uebereinkommen, bezüglich meiner schriftlichen Leistungen für die Firma, war auch in Kraft getreten. Ich erhielt die Arbeit durch Fräulein Fliedner und lieferte sie in ihre Hände glücklich wieder zurück und war sehr erstaunt, daß man mit Schreiben so unmenschlich viel Geld verdienen könne; denn die Sorgen traten nie mehr an mich heran, und doch blieb mir immer noch ein kleiner Schatz zur Verfügung.

Welche Veränderung! Ich fühlte mich unrettbar umstrickt und festgebunden an eine andere Seele, und doch beneidete ich den Vogel nicht mehr, der frei über die heimische Haide streifen durfte – ich hätte aufjubeln und es allen Winden erzählen mögen, daß ich gefangen sei, und meine Stirn mochte ich in der That an den Bäumen wund stoßen, nur um noch einmal wonnig zu fühlen, wie die andere Seele um mich leide. Um des Einen willen vergaß ich mich und die ganze Welt und auch die Thatsache, daß ich zwei Sünden auf dem Gewissen hatte – die der Lüge und der verschwiegenen Mitwissenschaft eines ihn so tief berührenden Geheimnisses. Wie fiel ich dann aus all’ meinen Himmeln, wenn Charlottens Stimme mein Ohr traf, oder ihre gewaltige Erscheinung in meinen Gesichtskreis trat! Zwar sie hüllte sich jetzt in eine stolze Zurückhaltung. Am Tag nach jenem stürmischen Abend war sie in mein Zimmer gekommen. – „Ich will Sie nicht mit meinen Fingerspitzen, ja nicht einmal mit dem Hauch meines Mundes berühren!“ hatte sie mir von der Schwelle aus bitter zugerufen. – „Ich will nur Frieden mit Ihnen machen, Prinzeßchen! – Verzeihen Sie mir, was ich Ihnen angethan!“ – Ich war auf sie zugesprungen und hatte gerührt ihre Hand ergriffen.

„Haben Sie gesehen, wie ich unsern Tyrannen gestern auf die Zinne führte? … Er ist verloren! … Ich gehe mit geschlossenem Mund und unterdrücktem Herzschlag im Krämerhause herum – jeden Bissen, den ich esse, vergällt mir der Ingrimm, die innere Empörung; aber ich halte aus – ich muß unseren kostbaren Schatz im Schreibtisch hüten, ich darf nicht gehen, ehe Dagobert kommt! … O, wie will ich aufjubeln, wenn ich endlich die Thür der Krambude für immer hinter mir zuschlagen und meinen Fuß auf den Boden des Elternhauses setzen werde!“

Bei diesem leidenschaftlichen Ausbruch hatte ich scheu ihre Hand sinken lassen und war zurückgetreten. Seit jenem Augenblick trafen wir uns selten allein; nur wenn ich im Hofwagen von der Prinzessin zurückkehrte, da kam sie in den Hof und begleitete mich durch den Garten, und ich mußte ihr erzählen und berichten. … Kurz nach dem Besuch im Claudius-Hause war die fürstliche Frau an einem rheumatischen Leiden erkrankt und hatte K. behufs einer schleunigen Cur verlassen müssen. Während ihrer Abwesenheit war ich selbstverständlich nicht an den Hof gekommen, nun aber mußte ich allwöchentlich zwei Mal erscheinen – das waren die einzigen Momente, wo Herr Claudius mit kaltfinsterem Gesicht umherging.

[826] So unter Glück und herzbeklemmender Angst, unter innerem Kampf und doch auch wieder seligem Ausruhen, war Woche um Woche verstrichen, und nun kamen die letzten Tage des Januar, und mit ihnen Dagobert. … Ein tödtlicher Schrecken durchfuhr mich, als es hieß, der Herr Lieutenant sei mit Sack und Pack angekommen – so nahe, stieg der gefürchtete Moment tiefdunkel und riesengroß vor mir auf, ich mochte die Augen schließen, um ihn nicht zu sehen; und doch sagte ich mir, daß ein rasch befreiender, schmerzhafter Schnitt dem Schweben zwischen Fürchten und Hoffen vorzuziehen sei. Mochte doch die Entscheidung fallen, wie sie wollte, ich war dann meiner unseligen Mitwissenschaft ledig, ich durfte sprechen und meinen Leichtsinn reuig bekennen.

Das waren schwere Tage für mich; denn auch noch eine andere Last bedrückte meine Seele – mein Vater erschien mir plötzlich unheimlich verändert. Sein ganzes Thun und Wesen erinnerte mich an die Zeit, wo es sich um den Ankauf der Münzen gehandelt hatte; er aß nicht, und des Nachts hörte ich ihn ruhelos umherwandern. Eine befremdliche Fluth von Briefen aus allen Richtungen her überschwemmte ihn, und mit jedem neuen, den er hastig erbrach, erhöhte sich die Fiebergluth auf seinem eingefallenen Gesicht. Er schrieb anhaltend, aber nicht an dem Manuscript, das den Fund in der Karolinenlust behandelte – es lag unberührt auf dem Schreibtisch. … Angestrengt lauschte ich auf das Gemurmel seiner Selbstgespräche, unter denen er oft das Zimmer durchmaß, aber ich konnte kein Wort verstehen, und zu fragen wagte ich nicht, um ihn nicht ungeduldig zu machen. …

Nie werde ich die Stunden vergessen, in denen seine gewaltsam beherrschte innere Unruhe endlich zum Durchbruch kam! Es war an einem jener trüben, dunklen Winternachmittage, die sich wie Blei über die Erde und die Menschenseelen legen. Mein Vater hatte sich nach Tische in sein Zimmer zurückgezogen und die eben eingelaufenen Zeitungen mitgenommen. Schon nach wenigen Minuten hörte ich ihn drinnen aufspringen, er schlug die Thür krachend zu und rannte hinauf in die Bibliothek. Angstvoll ging ich ihm nach.

„Vater!“ rief ich bittend und umschlang ihn, als er, ohne mich zu bemerken an mir vorüberstrich.

Ich mußte wohl sehr erschrocken aussehen; denn er fuhr mit beiden Händen durch die Haare und bemühte sich sichtlich, ruhig zu scheinen.

„Es ist nichts, Lorchen“ sagte er gepreßt. „Gehe nur wieder hinunter, mein Kind. … Die Leute lügen! Sie gönnen Deinem Vater den Ruhm nicht – sie wissen, daß sie ihm den Todesstoß versetzen, wenn sie ihm seine Autorität antasten. … Und nun kommen sie zu Haufen, und Jeder hat einen Stein in der Hand. … Ja, steinigt ihn, steinigt ihn! Er hat schon allzulange geleuchtet!“

Er schwieg plötzlich und sah über meinen Kopf hinweg nach der Thür. Eine Dame war geräuschlos eingetreten, eine hohe Erscheinung in schwarzem Sammetmantel und breitem Hermelinkragen. Sie schlug einen weißen Schleier zurück – Himmel, welche Schönheit! Ich mußte an Schneewittchen denken – Augen, schwarz wie Ebenholz, die Stirn weiß, und auf den Wangen lag eine sanfte Rosengluth.

Mein Vater starrte sie befremdet an, während sie mit schwebenden Schritten auf uns zukam. Ein feines Lächeln flog um ihren Mund, und schelmisch blinzelnd streifte ihr Seitenblick meinen Vater – das sah reizend, fast kindlich ungezwungen aus; und doch meinte ich, hinter den harmlosen Geberden müsse ein ängstliches Herz klopfen, die kirschrothen Lippen zuckten in nervöser Aufregung.

„Er kennt mich nicht,“ sagte sie in wohllautenden Tönen, als mein Vater consequent schwieg. „Ich werde ihn wohl an die Zeit erinnern müssen, wo wir im Garten zu Hannover gespielt haben, wo die ältere Schwester willig als Pferdchen umhergaloppirte und Wilibald’s Peitsche zu fühlen bekam – weißt Du noch?“

Mein Vater wich zurück, als kämen aus dem Sammetmantel der wunderschönen Frau die Krallen eines Ungeheuers. Mit einem eisigen Blick maß er sie von Kopf bis zu Füßen – nie hätte ich gedacht, daß dieser stets so unsicher umherhastende Mann ein so festes Gepräge abweisender Härte und Kälte anzunehmen vermöchte!

„Ich kann mir unmöglich denken, daß Christine Wolf, die allerdings einst im Hause meines Vaters, des Herrn von Sassen, gelebt hat, in der That meine Schwelle betritt,“ sagte er streng.

„Wilibald –“.

„Ich muß sehr bitten,“ unterbrach er sie und hob abwehrend die Hand, „wir haben Nichts mit einander gemein! Wäre es nur die Verirrte, die aus unbesiegbarer Neigung zur Kunst heimlich das mütterliche Haus verlassen hat – ich nähme sie sofort auf – mit der Diebin aber will ich nichts zu schaffen haben.“

„O mein Gott!“ Sie schlug die Hände zusammen und sah schmerzhaft gen Himmel – ich begriff nicht, wie er diesem Madonnenblick widerstehen konnte, wenn mich auch das Wort „Diebin“ wie ein elektrischer Schlag berührt hatte. – „Wilibald, sei barmherzig! Richte nicht so streng diese eine Jugendsünde!“ flehte sie. „Konnte ich denn die heißersehnte Laufbahn mit leeren Händen beginnen? Die Mutter bewilligte mir keinen Pfennig, das weißt Du, und es war doch so wenig, so geringfügig, was ich von der reichen Frau verlangte –“

„Nur zwölftausend Thaler, die Du aus ihrem festverschlossenen Secretär mitnahmst –“

„Hatte ich nicht doch ein Recht darauf, Wilibald? … Sage selbst.“ –

„Auch auf die Brillanten unseres damaligen Gastes, der Baronin Hanke, welche mit Dir spurlos verschwanden, und die meine Mutter mit den größten Opfern ersetzen mußte, nur um unser Haus vor der öffentlichen Schande zu bewahren?“

„Lüge, Lüge!“ schrie sie auf.

„Gehe hinaus, Lorchen – das ist nichts für Dich!“ sagte mein Vater zu mir und führte mich nach der Thür.

„Nein, gehe nicht, mein süßes Kind! Sei barmherzig und hilf mir ihn überzeugen, daß ich schuldlos bin! … Ja, Du bist Lenore! … O, ihr süßen, wonnigen Augen!“ Sie zog mich in ihre Arme und küßte mich auf die Lider – der weiche Sammetmantel fiel über mich her, ein köstlicher Veilchenduft entströmte ihrem Busen und berauschte mich förmlich.

Mit harter Hand riß mich mein Vater von ihr los. „Bethöre mir mein unschuldiges Kind nicht!“ rief er heftig und führte mich hinaus.

Ich ging die Treppe hinab und kauerte mich auf der untersten Stufe wie betäubt nieder. … Das war also meine Tante Christine, „der Schandfleck der Familie,“ wie sie Ilse, „der Stern“, wie sie sich selbst genannt hatte! … Ein Stern war sie, diese hinreißend schöne Frau! … Alles, was ich an weiblicher Lieblichkeit bis jetzt gesehen, es erblaßte neben dem Farbenreiz, dem Jugendhauch auf dem Gesicht meiner Tante! … Wie schwer und wuchtig lagen die schwarzen Locken auf dem weißen Hermelin! Wie glänzte diese ungefurchte Stirn, von der feine Adern in zartem Blau sich über die Schläfen herabringelten! Ach, und diese köstlich schmeichelnde Stimme, sie war wieder da, die Cur hatte geholfen! … Die schlanken Hände, die mich so weich und lind angefaßt und an den Busen der bezaubernden Frau gezogen hatten – sie sollten gestohlen haben! … Nein, nein, die Entrüstung meiner Tante widerlegte diese Beschuldigung vollständig – sah ich doch Thränen in ihren Augen blitzen!

Mit klopfendem Herzen horchte ich auf den Wortwechsel droben in der Bibliothek – ich konnte kein Wort erhaschen und er dauerte auch nicht lange an. Die Thür wurde geöffnet – „Gott mag Dir vergeben!“ hörte ich meine Tante sagen, dann rauschte ihre Schleppe die Treppe herab. … Ihre Schritte wurden immer matter und langsamer – plötzlich legte sie die Hand über die Augen und lehnte sich an die Wand. Ich sprang die Stufen hinauf und faßte ihre Rechte.

„Tante Christine!“ rief ich tief ergriffen.

Sie ließ die Hand langsam von den Augen sinken und sah mich mit einem traurigen Lächeln an.

„Mein kleiner Engel, mein Augentrost, gelt, Du glaubst nicht, daß ich eine Verbrecherin bin?“ sagte sie, mir sanft das Kinn streichelnd. „Die bösen, bösen Menschen, wie hetzen sie mich mit ihren Verleumdungen durch das Leben! … Was Alles habe ich schon erdulden müssen! Und in welcher entsetzlichen Lage bin ich nun, wo Dein strenger Vater mich unerbittlich verstößt! Kind, ich habe kein Dach über mir, keinen Pfühl, auf den ich Nachts mein Haupt legen kann! Mit dem letzten Groschen in der Tasche habe [827] ich K. mühsam erreicht – ich wollte ja Dich sehen, Dich, meine kleine Lenore! … Gott im Himmel, nur für einige Tage ein Obdach, dann werde ich mir ja weiterhelfen!“

Das war eine peinliche Lage für mich! … Ich hätte ihr sofort mein eigenes Bett eingeräumt und auf dem Stroh geschlafen – so sehr umstrickte mich der Zauber dieser Frau, aber gegen den Willen meines Vaters durfte ich sie doch nicht im Hause behalten. Ich dachte an Fräulein Fliedner – sie war so gut und bereitwillig zu helfen, vielleicht wußte sie Rath. … Ach, alle meine schönen Vorsätze, nach welchen ich stets zuerst überlegen und dann handeln wollte, wo waren sie hin? …

Ohne ein Wort zu sagen, führte ich meine Tante die Treppe hinab und hinaus über den Kiesplatz – sie folgte mir lenksam wie ein Kind. Wir wollten eben in das Bosquet einbiegen, da traten uns die Geschwister entgegen – Charlotte in weißglänzender Atlaskapuze und den violetten kostbaren Sammetpelz um die Schultern geschlagen – sie wollten offenbar promeniren.

Ich hatte „den Herrn Lieutenant“ noch nicht gesehen, denn ich war ihm consequent ausgewichen, so oft er auch Tags über die Karolinenlust aufsuchte. Nun erschrak ich vor ihm bis in das innerste Herz und fuhr zurück. Aber auch er schien überrascht – seine braunen Augen, vor denen ich mich seit jenem Auftritt im Saal der Beletage stets entsetzte, hingen mit einem seltsamen Aufblitzen an meinem Gesicht. Ich that, als sähe ich die Hand nicht, die er mir lächelnd hinreichte, und stellte Charlotten meine Tante vor. Mit Befremden sah ich, daß eine heftige Bewegung blitzschnell durch die schönen Züge der unglücklichen Frau lief – sie wollte sprechen, und doch kam kein Laut über ihre Lippen.

Charlotte neigte flüchtig und vornehm den Kopf, während ein ziemlich hochmüthig musternder Blick die vor ihr stehende Erscheinung streifte.

„Fräulein Fliedner wird Ihnen schwerlich rathen können,“ sagte sie kalt zu mir, als ich ihr mein Vorhaben mit einigen Worten andeutete. „Und helfen noch viel weniger – wir haben sehr wenig Platz im Vorderhause. … Wenn ich Ihnen rathen soll, so gehen Sie zu Ihren Freunden Helldorf – die haben doch gewiß ein Stübchen, wo Sie Ihre Frau Tante unterbringen können.“

Ich wandte mich empört ab, und meine Tante ließ hastig ihren Schleier über das Gesicht fallen.

In dem Augenblick ging der Gärtner Schäfer grüßend an uns vorüber. Das Schweizerhäuschen war sein Eigenthum, und ich wußte, daß er die sogenannte Putzstube seiner verstorbenen Frau öfter an Fremde vermiethete. Ich lief ihm nach und fragte ihn – er war sofort bereit, meine Tante aufzunehmen, und bat sie, gleich mitzukommen, es sei Alles „in schönster Ordnung“.

Ohne noch einen Blick auf die Geschwister zu werfen, ging sie neben dem alten Manne her, der in seiner gutmüthig sanften Weise zu ihr sprach und sie nach der Thür führte, zu welcher ich den Schlüssel hatte. … War es doch, als triebe sie eine gewaltige innere Aufregung vorwärts – Schäfer vermochte kaum, Schritt mit ihr zu halten, und ich blieb, trotz aller Bemühungen, eine ziemliche Strecke hinter ihnen zurück.

„Um Gotteswillen, schaffen Sie sich diese hereingeschneite Tante vom Halse!“ raunte mir Charlotte zu. „Mit der legen Sie keine Ehre ein – die Schminke sitzt ihr ja fingerdick auf dem Gesicht! … Und dieser immitirte Theaterhermelin! Fi donc! … Kind, Sie haben ja eine merkwürdige Verwandtschaft – eine Großmutter, die eine geborne Jüdin ist, und nun gar diese über und über gefirnißte Komödientante! … Apropos, kommen Sie nicht zu spät heute Abend – Onkel Erich läßt es sich, wider Erwarten, ein tüchtiges Stück Geld kosten – das Glashaus wird brillant beleuchtet – mag es ihm gut bekommen!“

Sie lachte auf und ergriff den Arm Dagobert’s, der meiner Tante forschend nachsah.

„Ich weiß nicht – ich – muß der Frau schon einmal begegnet sein,“ sagte er und legte die Hand nachsinnend an die Stirn. „Gott mag wissen, wo –“

„Nun, das ist doch sehr leicht zu sagen – Du wirst sie auf der Bühne gesehen haben,“ meinte Charlotte und trieb ihn ungeduldig weiter.

Tief erbittert sah ich ihnen nach. … Arme Tante! Ja, sie war eine unglückliche, von den Menschen verfolgte Frau – nun sollte gar auch das Einzige, was sie noch besaß, ihre Schönheit, eine – gemalte sein.

Ich fand das Erkerstübchen, in welches uns Schäfer führte, überaus hübsch und gemüthlich. In wenigen Minuten hatte der alte Mann Feuer im Ofen gemacht und auf die Fenstersimse vollblühende Rosen- und Resedastöcke gestellt.

„Eng und niedrig,“ sagte meine Tante und hob den Arm, als wolle sie an die schneeweiße Zimmerdecke greifen „Ich bin das nicht gewohnt, aber ich werde schon aushalten – mit gutem Willen kann man Alles, gelt, mein Engelchen?“

Sie warf Hut und Mantel ab und stand in königsblauem Sammetkleide vor mir. An den Nähten und Ellenbogen war das Prachtgewand freilich verblichen und abgeschabt, aber es umschloß einen tannenschlanken Wuchs; die kleine Schleppe vervollständigte den wahrhaft fürstlichen Anstand der ganzen Erscheinung, und aus dem tiefen herzförmigen Ausschnitt leuchtete Schneewittchens blendende Brust. … Und welch ein Haar! Ueber der Stirn kräuselten sich die blauschwarzen Locken, sie fielen lang und voll über Rücken und Brust hinab, und doch umschlangen noch die reichsten Flechten den feinen Kopf – wie er diese märchenhafte Pracht ertrug, begriff ich nicht, noch weniger aber, daß er sich dabei so rasch und anmuthig bewegte.

Diese unverhohlene Bewunderung las sie jedenfalls auf meinem Gesicht.

„Nun, kleine Lenore, gefällt Dir Deine Tante?“ fragte sie schelmisch lächelnd.

„Ach, Du bist zu schön!“ rief ich enthusiastisch. „Und so jung, so jung – wie ist das nur möglich? Du bist doch drei Jahre älter als mein Vater!“

„Närrisches Ding, das schreit man nicht so in alle vier Winde hinaus!“ rief sie gezwungen lachend und legte ihre zarte Hand auf meinen Mund.

Ihre Augen fuhren suchend im Zimmer umher und blieben auf dem kleinen Spiegel an der Fensterwand hängen.

„Ach, das geht aber nicht, nein – das geht wirklich nicht!“ fuhr sie ganz erschrocken auf. „In dieser Scherbe sieht man ja kaum die Nasenspitze! … Wie soll ich denn die Toilette machen? Ich bin doch keine Bauernfrau, Kind – ich bin gewohnt, fürstlich zu leben! … Man fügt sich ja gern einmal, aber – das kann ich nicht! … Gelt, Du verschaffst mir ein anderes, anständiges Glas, damit ich wenigstens annähernd meine gewohnte Ordnung habe? … Da drüben in dem Schloße, wo Du augenblicklich wohnst, giebt es gewiß irgend einen überflüssigen Trumeau. … Kindchen – im Vertrauen – jede Aufmerksamkeit, die Du mir in diesem vorübergehenden Moment des Gedrücktseins erzeigst, sie wird Dir später von einer andern Seite tausendmal gedankt werden. … Lasse getrost herüberschaffen, was ich zur Bequemlichkeit nöthig habe – ich werde es verantworten.“

„Wie kann ich denn das, Tante?“ antwortete ich ganz verdutzt. „Die Möbel in unseren Zimmern gehören ja Herrn Claudius!“

Sie lächelte.

„Ich möchte nicht einen Stuhl anders stellen, als ich ihn gefunden habe,“ fuhr ich ernstlich protestirend fort. „Aus der Karolinenlust kann ich Dir mit dem besten Willen nichts verschaffen, aber vielleicht giebt die Frau Helldorf, was Du brauchst – wir wollen hinaufgehen.“

Es schlug mich sehr nieder, als auch die kleine Frau meine schöne, prächtig geschmückte Protégée mit einem sichtlich befremdeten Blicke empfing. Es half nichts, daß ihr meine Tante mit unwiderstehlich süßer Stimme tausend Schönheiten sagte und die beiden im Zimmer spielenden Kinder goldgelockte Engel nannte. Das feine Gesicht meiner Freundin verlor nichts von seiner kühlen, mißtrauischen Zurückhaltung, und als ich schließlich mit der Bitte um den Spiegel zögernd herausrückte, da wurde sie steif wie eine Statue, nahm den ziemlich großen Spiegel – ihren einzigen – von der Wand, übergab ihn der schönen Frau und sagte mit unverkennbarem Spott: „Ich kann mich auch so behelfen.“

„Seien Sie vorsichtig, Lenore, ich bitte Sie dringend! Ich werde auch wachen,“ flüsterte sie mir auf dem Vorsaale zu, während das blaue Sammetkleid im Treppenhause verschwand.

Sehr kleinlaut legte ich drunten meine kleine Börse auf den Tisch. Ich erhielt dafür einen Kuß und die Versicherung, daß mir in jedenfalls kurzer Zeit „alle meine kleinen Opfer“ tausendfache [828] Zinsen eintragen würden. Dann aber machte sich meine Tante emsig daran, den Spiegel so günstig wie möglich zu placiren, und ich kehrte mit doppelt schwerem Herzen in die Karolinenlust zurück.




29.

Die Abenddämmerung brach leise herein, als ich wieder in die Bibliothek trat. Mein Vater wanderte im Antikensaal unter all den stillen bleichen Gestalten umher und erwähnte die verstoßene Schwester mit keinem Worte gegen mich – er mochte denken, sie sei fort für immer, werde seinen Weg nie wieder kreuzen, und ich sollte den Auftritt so schnell wie möglich vergessen. Frierend zog ich den Ueberwurf auf der Brust zusammen – es war bitterkalt in dem ungeheizten, weiten Saal, und ein beginnendes feines Schneegestöber umflog draußen die Glaskuppel.

„Du wirst Dich hier erkälten, Vater,“ sagte ich, und ergriff seine Hand – sie glühte wie eine Kohle; ach, und wie brannten die Augen in den tiefen Höhlen!

„Erkälten? … Es ist wonnig hier – mir ist so wohl, als sei mir ein kühler Umschlag auf das Gehirn gelegt worden.“

„Aber es ist schon spät“ – versetzte ich zögernd – „und ein klein wenig ordnen mußt Du Deinen Anzug doch. … Du hast wohl vergessen, daß die Prinzessin heute kommt, um das große Glashaus auch einmal in Gasbeleuchtung zu sehen?“

„Ach mein Gott, was soll ich im Glashause!“ rief er ungeduldig. „Wollt Ihr mich verrückt machen mit den vielen Lichtern und dem Blumenbrodem, der mir stets die Gehirnnerven afficirt? … Nichts, nichts! – Was geht mich die Prinzessin an, was der Herzog!“

Mit seiner heftigen Armbewegung stieß er unversehens eine reizende kleine Statue von ihrem Postament – seltsam – er, der sonst die Antiken nur mit zärtlich schmeichelnder Hand berührte, er wandte kaum den Kopf nach dem angerichteten Schaden hin und ließ die mißhandelte Göttergestalt achtlos liegen.

Tief erschrocken suchte ich ihn zu beruhigen. „Ganz wie Du willst, Vater,“ sagte ich. „Ich werde sogleich in das Vorderhaus schicken und für uns Beide absagen lassen –“

„Nein, nein, Du gehst auf jeden Fall, Lorchen!“ unterbrach er mich milder. „Ich wünsche es um der Prinzessin willen, die Dich lieb hat, und möchte auch gern heute Abend allein sein.“

Er trat wieder in die Bibliothek und machte sich an seinem Schreibtische zu schaffen. Ich schloß die Thüren, schürte das Feuer im Ofen und arrangirte den Theetisch; dann ging ich beklommenen Herzens hinunter und machte Toilette, das heißt, ich nahm zum ersten Male wieder die Perlen meiner Großmutter aus der Schachtel und schlang die lange Schnur durch meine Locken. In fast märchenhaftem Glanze, aber auch weit auffallender und anspruchsvoller als am Halse, lagen die feucht und bläulich schimmernden Tropfen schwer in dem dunklen Haar – und das wollte ich eben; wer wußte, wann die Prinzessin einmal wieder in das Claudiushaus kam! …

Es war spät geworden, als ich endlich über die Brücke nach dem Glashause schritt. Einen Augenblick blieb ich geblendet stehen. Leise überrieselten mich die letzten Flocken der droben sich lichtenden und zerstäubenden Wolken; unter meinen Schritten kreischte der gefrorene fußtiefe Schnee, und wohin ich sah, streckten sich mir die starren, weißen Gespensterarme der schneebeladenen Bäume und Büsche entgegen – und dort breiteten sich prächtig gefiederte Palmenwipfel in stolzer Grazie über die Farren- und Cacteenwildniß und den grünen Federduft kleiner freigelassener Rasenflächen, und dazwischen sprang und troff in silbernen Strähnen die Cascade. In dem Lichtbade der verborgenen Gasflammen zerfloß das Grün in tausendfache Nüancen, vom phosphorescirenden Maigrün an bis zum düstern Tannendunkel herab – das Glashaus lag inmitten des mattdämmernden Schneefeldes, wie eine Smaragdrosette auf weißem Sammet.

„Ah, guten Abend, meine Kleine!“ rief die Prinzessin, als ich auf sie zuschritt. Sie saß inmitten der Farrengruppe, auf derselben Stelle, wo ich eines Abends von meiner Großmutter erzählt hatte. Herr Claudius stand etwas seitwärts hinter ihrem Stuhle und sprach mit ihr, während ihr Gefolge und die Geschwister in zwanglosen Gruppen zu beiden Seiten Platz genommen hatten. „Haideprinzeßchen, wie nixenhaft kommen Sie daher!“ scherzte sie. „Sollte man nicht meinen, die Cascade hier habe Sie plötzlich emporgehoben? … Kind, Sie wissen wirklich nicht, was für einen kostbaren Schatz Sie da so harmlos und ungezwungen in Ihren prächtig wilden Locken tragen!“

„Ja, Hoheit, ich weiß es – die Perlen sind der letzte Rest eines großen Reichthums,“ versetzte ich und suchte mit Gewalt meiner Stimme einen ruhig sonoren Klang zu geben. „Meine arme Großmutter sagte, als sie mir auf ihren Wunsch um den Hals gelegt wurden, daß sie viel Familienglück gesehen hätten, daß sie aber auch mitgeflohen seien vor dem Scheiterhaufen und anderen Martern welche die christliche Unduldsamkeit über die Juden verhängt hat – denn meine liebe Großmutter war eine Jüdin, Hoheit, eine geborene Jakobsohn aus Hannover.“

Ich hatte die letzten Worte scharfmarkirend mit lauter Stimme gesprochen und sah dabei zu Herrn Claudius auf. … Was kümmerte es mich, daß sich Herr von Wismar verlegen räusperte und scheu nach der Prinzessin hinschielte, während Fräulein von Wildenspring eine triumphirende Geste machte, als wolle sie sagen! „Habe ich nicht Recht gehabt, als meine hochadelige Nase das bürgerliche Element in diesem Geschöpf witterte?“ … Was lag mir daran, daß der schöne Tancred grimmig seinen feinen Lippenbart drehte und mit einer verächtlichen Wendung seines Kopfes Charlotten einige Worte zuflüsterte? – Sah ich doch das jubelnde Aufschrecken in Herrn Claudius’ Gesicht – meinte ich doch, er wolle seine Hände zu mir herüberstrecken und mich aus der erbärmlichen Gesellschaft an sein starkes, stolzes Herz ziehen, weil ich die falsche Scham überwunden, weil ich muthig die Verachtung der aristokratischen Kaste auf mich nahm, um seine Achtung wieder zu gewinnen!

„Ach sieh da, das ist ja eine sehr pikante Entdeckung!“ rief die Prinzessin heiter und völlig unbefangen. „Nun weiß ich doch auch, wie mein Liebliug zu diesem echt orientalischen Profil kommt! … Ja, ja, solch ein schwarzlockiges Mädchen mit quecksilbernen Füßen mag es wohl auch gewesen sein, das dem Herodes den Kopf des Johannes abgeschmeichelt hat! … Wenn Sie wieder zu mir kommen, dann will ich mehr über die interessante Großmutter wissen – hören Sie, mein Kind?“ Sie zog mir die Perlenschnur tiefer in die Haare und ließ dann die Finger sanft durch mein loses Haar gleiten „Ich habe sie herzlich lieb, diese kleine Rebecca mit dem reinen Kindessinn und dem harmlos plaudernden Mund!“ setzte sie mit herzlicher Innigkeit hinzu und küßte mich.

Ach, diesmal war meine Plauderei durchaus keine harmlose gewesen, das wußte er, dessen Blick nicht mehr von mir wich, am besten! …

Die Prinzessin zog mich auf ein Bänkchen zu ihren Füßen, und da blieb ich schweigend und zuhörend sitzen, bis Fräulein Fliedner kam und meldete, daß im Vorderhause Alles bereit sei. Die fürstliche Frau hatte sich eine Tasse Thee „im alten, interessanten Hause“ ausgebeten – ihres rheumatischen Leidens wegen mochte sie sich nicht allzulange in der feuchten dunstigen Atmosphäre des Warmhauses aufhalten. Sie hüllte sich in ihren Pelz, ergriff Herrn Claudius’ Arm und schritt der vermummten, lebhaft plaudernden Gesellschaft voraus durch den beschneiten Garten. Es bedurfte der begleitenden Laternenträger nicht – die Wolken am Himmel waren zerstoben, durch das dürre Geäst der Pappelwand floß es hell herein und warf groteske silberne Lichter auf die Schneefläche – der Mond ging auf.

Ich lief noch einmal über die Brücke zurück und sah hinauf nach den Fenstern der Bibliothek. Die Vorhänge waren nicht zugezogen; auf dem Schreibtisch meines Vaters brannte das ruhige Licht der Lampe und drüben in der entgegengesetzten dunklen Ecke des weiten Saales, in der Nähe des Ofens, wo der Tisch mit dem Abendbrod stand, spielte ein leichter, bläulicher Schein auf und ab – es war die Spiritusflamme unter der Theemaschine. Das sah gemüthlich aus. Zum Ueberfluß schlüpfte ich noch in das Haus, die Treppe hinauf, und horchte an der Thür. Es war still drinnen; mein Vater schrieb jedenfalls. Völlig beruhigt ging ich nach dem Vorderhause.

Heute mochten sich wohl die alten Hausgeister der Firma Claudius scheu und grimmig in die dunkelsten Ecken verkriechen – das war ja ein Lichterglanz, wie ihn einst die wohledlen Kaufherren sicher nicht einmal bei der Taufe eines künftigen Chefs sich erlaubt hatten!

„Was ist mir denn das, Fräulein Fliedner? Der Herr kann ja heute gar nicht genug Licht kriegen!“ brummte der alte Erdmann [830] verwundert und lehnte oben eine Leiter an die Wand des oberen Corridors, als ich die Treppe herauf kam. „Muß ich doch gar auch noch die großen Lampen aus den Geschäftslocalen hier herauf hängen!“

„Lassen Sie das doch, Erdmann,“ meinte die alte Dame, die aus dem ersten Salon trat – eine wahre Lichtfluth quoll mit ihr heraus. „Ich bin glücklich, daß es endlich einmal hell wird im alten Claudiushause.“ Mit einem feinen, schelmischen Lächeln. fuhr sie mir über das Haar und eilte in die Hausflur hinab.

Dieses Lächeln trieb mir das Blut in die Wangen. Scheu ließ ich die Hand von dem Drücker der Salonthür niedersinken – ich meinte, in diesem Augenblick könne ich mich unmöglich von den zahllosen Kerzen des Kronleuchters da drin anstrahlen lassen. Ich trat in Charlottens Zimmer. Es war leer; auf dem aufgeschlagenen Flügel brannten zwei Lampen, und aus dem Salon, wo das Bild des schönen Lothar hing, scholl das Klirren der Theetassen und lautes Sprechen herüber. Noch stand ich und überlegte, wie ich meinen Eintritt am wenigsten auffallend bewerkstelligen könne, da rauschte es durch das Nebenzimmer, und Charlotte trat in Begleitung ihres Bruders herein.

„Die Prinzessin will mich singen hören,“ sagte sie zu mir und wühlte in den Noten. „Wie kommen Sie denn hierher, und wo haben Sie bis jetzt gesteckt, Kleine? – Man vermißt Sie drüben.“

„Ich war besorgt um meinen Vater und habe nach ihm gesehen – er ist unwohl –“

„Unwohl?“ lachte Dagobert leise auf – er saß bereits am Flügel und präludirte. „Ja, ja, ein schlimmes, ein sehr bedenkliches Unwohlsein! Ich habe vorhin im Club diese interessante Neuigkeit erfahren – man sprach von nichts Anderem, und durch die Stadt geht es im Jubel wie ein Lauffeuer, daß der Archäologieschwindel in den letzten Zügen liege. … Binnen Kurzem werden wir eine andere Mode haben, Charlotte! Gott sei Dank, daß man dies griechische, römische und ägyptische Kauderwelsch nicht mehr zu radebrechen braucht – es ist Einem sauer genug geworden!“ Er fuhr mit beiden Händen über die Tasten und erging sich in den brillantesten Läufern, während mir der Herzschlag stockte vor Bestürzung. – „Und in dem Augenblick, wo Ihr Papa im Sattel wankt und bügellos wird, erzählen Sie auch noch mit köstlicher Naivetät, daß er schnurstracks von den Juifs abstamme – das bricht ihm vollends das Genick!“

„Ja, das war eine kleine Dummheit, nehmen Sie mir’s nicht übel!“ schalt Charlotte und legte ein Notenheft auf das Pult des Flügels. „Ich verlange nicht, daß Sie geradezu lügen sollen, ich thue es ja auch nicht – aber in solchen Fällen hält man sich an die Mittelstraße – man schweigt.“

Dagobert begann die Introduction, und gleich darauf schlug Charlottens mächtige Stimme gegen die Wände.

Was war geschehen? Es hatte Alles so dunkel geklungen, was der schöne Tancred in nachlässig spöttischem Ton gesprochen und mit allen möglichen Läufern und Trillern auf dem Flügel begleitet hatte. Mit unsäglicher Bitterkeit sah ich nach dem Elenden hin, – „Archäologieschwindel“ hatte er das Wirken meines Vaters genannt, er, der sich als unterwürfiger „Famulus“ an den berühmten Mann herangedrängt und ihm oft genug beschwerlich gefallen war; wie manchmal hatte ich ihn über den zudringlichen, verständnißlosen Störer klagen hören! … So viel begriff ich, die Stellung meines Vaters bei Hofe war erschüttert, und nun wandte sich die feige Meute, die ihn einst umschmeichelt, kläffend gegen den Stürzenden. …

Die Prinzessin war noch nie so liebevoll und gütig gegen mich gewesen, als an diesem Abend; und doch konnte ich mich augenblicklich nicht überwinden, ihr wieder nahe zu kommen. Ich schlich in den anstoßenden Salon und setzte mich in eine dunkle Ecke, während Charlotte mit schmetternder Stimme weiter sang. … Von meinem Platz aus konnte ich den Theetisch sehr gut übersehen. Die Prinzessin saß ein wenig seitwärts unter Lothar’s Bild, jedenfalls nicht nach ihrem Wunsche, denn ich sah, wie sie sich verstohlen bemühte, einen vollen Anblick des Portraits zu gewinnen. Ihr Nachbar zur Linken war Herr Claudius. Ein einziger Blick auf dieses edle ruhige Gesicht besänftigte mein grollendes, geängstigtes Herz. … Welch ein Sonnenglanz lag heute auf seiner Stirn! … Der prachtvolle Soldatenkopf mit dem Blick voll Seele über ihm, vielleicht war er schöner in den Linien, überwältigender im feurigen Ausdruck – aber was hatte ihm all sein herausfordernder Soldatenmuth genützt? Den Kampf mit dem Leben hatte er doch nicht aufzunehmen vermocht – der frevelhafte Selbstzerstörer war untergegangen, während der stillgelassene Mann dort das halbentrissene Steuer mit einem kräftigen Aufraffen wieder erfaßt und sich selbst gerettet hatte. …

„Sie haben eine schöne Stimme, Fräulein Claudius,“ sagte die Prinzessin, als Charlotte nach beendigtem Gesang wieder an den Theetisch trat. „Besonders in der Mittellage erinnert sie mich lebhaft an den Mezzosopran meiner Schwester Sidonie. … Auch Ihr lebendig feuriger Vortrag mahnt mich an längstvergangene Zeiten – meine Schwester zog rauschende, wildoriginelle Weisen dem einfach elegischen Lied vor.“

„Wenn Euer Hoheit gnädigst erlauben wollen, dann möchte ich eine solche wildoriginelle Weise singen,“ versetzte Charlotte rasch. „Ich liebe die Tarantella – sie berauscht mich. … Già la luna –“

„Ich möchte Dich bitten, die Tarantella nicht zu singen, Charlotte,“ unterbrach sie Herr Claudius ruhig ernst – seine Stimme bebte nicht, aber eine tiefe Blässe bedeckte sein Gesicht, und die Brauen falteten sich finster und drohend.

„Sie haben Recht, Herr Claudius,“ sagte die Prinzessin lebhaft. „Ich theile Ihre Antipathie. Diese Tarantella grassirte förmlich zu meiner Zeit – sie war das Paradepferd aller Sängerinnen von Fach, und auch Sidonie sang sie zu meinem Verdruß leidenschaftlich gern. Mir ist sie zu bacchantisch wild!“

Sie schob ihre Taste zurück und erhob sich. „Ich meine, wir gehen jetzt ein wenig auf Entdeckungen aus,“ sagte sie lächelnd. „Ich will mir einmal recht gründlich diese wundervoll alterthümliche Einrichtung ansehen – ist mir doch, als läse ich in einem uralten Buche, so oft ich den Blick erhebe. … Herr von Wismar, sehen Sie dort den prachtvollen Hirschkopf?“ – Sie deutete nach dem letzten Zimmer der langen Flucht. – „Das ist Etwas für Ihr Waidmannsherz!“

Der Kammerherr wirbelte davon und die Hofdame desgleichen – Ihre Hoheit wollte ja allein sein. … In diesem Augenblick wandte Charlotte den Kopf, so daß ich ihr voll in das Gesicht sehen konnte; beim Anblick dieser gespannten Züge, dieser flackernden Unruhe und Leidenschaft in den Augen, sagte ich mir sofort, daß das junge Mädchen noch an diesem Abend entschlossen auf ihr Ziel loszuschreiten gedenke. Jetzt freilich folgte sie an der Seite ihres Bruders pflichtschuldigst den zwei Hofschranzen nach dem von fürstlichem Finger gebieterisch bezeichneten Hirschkopf, während die Prinzessin allein in dem an den Salon stoßenden kleinen Zimmer zurückblieb und anscheinend mit großem Interesse die Leidensgeschichte der Genoveva auf der farbenprächtigen, alten Wolltapete betrachtete.

„Wisten Sie nicht, wo Fräulein von Sassen geblieben ist?“ fragte Herr Claudius hastig Fräulein Fliedner, die eben in das Zimmer eintreten wollte, wo ich mich aufhielt.

„Hier bin ich, Herr Claudius,“ sagte ich mich erhebend.

„Ach, meine kleine Heldin!“ rief er und trat rasch auf mich zu, ohne zu berücksichtigen, daß Anderen dieses ungewohnte Feuer in Stimme und Bewegungen auffallen müsse. … Fräulein Fliedner zog sich sofort wieder in den Salon zurück und machte sich am Theetisch zu schaffen.

„In die dunkelste Ecke haben Sie sich vergraben, heute, wo ich Haideprinzeßchen mit allem Licht, das das alte Haus zu geben vermag, überschütten möchte?“ sagte er mit gedämpfter Stimme.

„Wissen Sie auch, daß ich in diesen köstlichen Abendstunden eine Art Wiedergeburt feiere?. … Ich war noch sehr jung, als ich mich selbst dazu verurtheilte, in den bedächtigen Geleisen des Alters zu wandeln. Rauh und unerbittlich habe ich die hochaufspringenden Quellen der Jugend in meinem Herzen niedergehalten – ich wollte nicht mehr jung sein. … und nun, wo ich es in der That nicht mehr sein sollte, brechen sie unaufhaltsam hervor und verlangen ihr Recht, ihr verjährtes und verfallenes Recht! … und ich gebe mich ihnen willenlos hin – ich bin unaussprechlich glücklich, mich wieder jung zu fühlen, als hätten dieses köstliche Kleinod in meiner Brust weder die Jahre, noch schlimme Erfahrungen berührt – ist das nicht thöricht von ‚dem alten, uralten Mann‘, den Sie zuerst in der Haide gesehen?“

[831] Ich senkte den Kopf auf die Brust, die sich unter fliegenden Athemzügen hob. Die Sorge um meinen Vater, die Angst vor Charlottens Beginnen, die Menschen, die sich um uns her bewegten, Alles, Alles versank vor den bebenden Tönen, die halb geflüstert an meinem Ohr hinstrichen. … Und er mit seinem scharfen Blick, er mochte wohl wissen, was in mir vorging. …

„Lenore,“ sagte er, sich über mich herabbeugend, „wir wollen denken, wir Beide seien mutterseelenallein im alten Kaufhause und hätten mit all Denen“ – er deutete in die Zimmer hinein – „nichts zu schaffen. … Ich weiß, wem Ihr mutiges Bekenntniß heute Abend galt – ich nehme die Wonne jenes Augenblicks für mich, mich allein in Anspruch, gegen die ganze Welt, ja, gegen Sie selbst, wenn Sie im alten Trotz zu leugnen versuchen wollten! … Unsere Seelen berühren sich, mögen Sie auch, hart genug, mir wehren, die Hand in Wirklichkeit zu fassen, die mir einst mein Geld trotzig vor die Füße geworfen hat.“

Mit wenigen raschen Schritten stand er drüben am Flügel, und gleich darauf klangen Harmonien an mein Ohr, die mich in eine Art von Taumel versetzten. … Diese wundervollen Klänge gehörten mir, dem kleinen unbedeutenden Geschöpf allein – sie hatten „nichts mit Denen zu schaffen“, deren Geplauder aus dem letzten Zimmer fern herüberscholl! … Ja, hochauf sprangen die erlösten Quellen der Jugend im Herzen des so schwer Gekränkten, der eine kurze Zeit maßlos aufschäumender Leidenschaft durch Entsagung und vollständige Resignation auf Lebensglück und Lebensgenuß hatte sühnen wollen. … Und die Hände, „die nie wieder eine Taste berührt hatten“, jetzt schlugen sie das Thema an, das die geheimnißvoll vermittelnde Beziehung zwischen seinem gereiften, starken Geist und meiner schwachen, schwankenden Kinderseele aussprach:

„O säh’ ich auf der Haide dort
Im Sturme dich!
Mit meinem Mantel vor dem Sturm
Beschützt’ ich dich!“ –

„Gott im Himmel, ist das nicht Herr Claudius, der spielt?“ fuhr Fräulein Fliedner aus dem Salon herein und schlug bei Erblicken des am Flügel Sitzenden in freudiger Bestürzung die Hände zusammen.

Ich ging an ihr vorüber – ich konnte sie unmöglich in mein Gesicht sehen lassen. In eine der tiefen Fensternischen des Salons flüchtete ich mich, hinter die dicken seidenen Vorhänge, die ich bis auf einen schmalen Spalt zusammenzog – mochten doch da meine Wangen glühen und meine Augen glückselig aussehen; Niemand kümmerte sich um mich, selbst Fräulein Fliedner nicht mehr, die sich jetzt mit gesenktem Kopf und auf dem Schooß gefalteten Händen in die dunkle Ecke gesetzt hatte und regungslos dem Spiel lauschte.

Einen Augenblick blieb es still im leeren Salon. Jeder Ton, auch der Schwächste, schwebte vom Flügel zu mir herüber, und aus dem Zimmer mit dem Hirschkopf klang dann und wann ein Auflachen oder ein lauter gesprochenes Wort dazwischen.

Da kam plötzlich die Prinzessin mit leisen Sohlen über die Schwelle; ich sah, wie sich ihre Brust gleichsam befreit hob unter der Gewißheit, endlich allein zu sein. Sie nahm den verdunkelnden Schirm von der auf dem Theetisch stehenden Kugellampe, so daß auch dieses Licht voll auf Lothar’s Bild fiel. Noch einmal ließ sie ihren Blick rasch und mißtrauisch durch den Salon und das Nebenzimmer streifen, dann trat sie vor das Bild, zog ein Buch aus der Tasche und warf in fliegender Hast mit dem Stift Linien auf das Papier – sie suchte offenbar die Umrisse des schönen Männerkopfes, vielleicht auch nur „die Augen voll Seele“, in diesem unbelauschten Moment zu erhaschen.

Ich erschrak in meinem Versteck, denn ich sah plötzlich bestürzt in das Herz der stolzen fürstlichen Frau und sagte mir selbst, daß sie sicher Lebensjahre darum geben würde, wenn sie das Bild als ihr eigen von der Wand nehmen dürfe. … Niemand fühlte wohl in diesem Augenblick tiefer und inniger mit ihr, als ich, die Glückliche, zu der „die andere Seele“ eben in tiefergreifenden Melodien sprach! … War es mir doch, als müsse ich hervorspringen und ihr Buch und Stift aus der Hand nehmen, um Beides zu verbergen, denn sie hörte nicht, daß nahende Schritte durch die lange Flucht der Zimmer kamen; sie sah nicht auf, als Charlotte, einen Seitenblick auf sie werfend, lautlos durch den Salon huschte, und maßlos erstaunt zurückfuhr, als sie in dem Spielenden am Flügel Herrn Claudius erkannte. Ehe ich mich dessen selbst versah, hatte sie die Thür leise zugedrückt, so daß die Musik nur noch gedämpft herüberklang – dann stand sie mit wenigen Schritten hinter der Prinzessin.

Dieses Geräusch ließ endlich die hohe Zeichnerin aufsehen – purpurn schoß ihr die Röthe des Erschreckens über das ganze Gesicht; aber sie sammelte sich unglaublich rasch, klappte das Buch zu und maß die Störerin über die Schulter mit einem indignirten stolzen Blick.

„Hoheit, ich weiß, daß ich eine schwer zu entschuldigende Tactlosigkeit begehe,“ sagte Charlotte – an dem starken zuversichtlichen Mädchen bebte jede Fiber, ich hörte es an ihrer Stimme. – „Es ist ein günstiger Augenblick, den ich kühn erhasche, ohne die Erlaubniß zu haben, zu Euer Hoheit sprechen zu dürfen, aber ich weiß mir nicht anders zu helfen! … Wenn Hoheit mir auch zu jeder Stunde eine Audienz im Schlosse gewähren wollten, ich glaube, ich würde den Muth nicht finden, das auszusprechen, was ich hier, unter dem Schutze dieser Augen“ – sie zeigte nach Lothar’s Bild – „getrost wage.“

Die Prinzessin wandte ihr im höchsten Erstaunen nun voll das Gesicht zu. „Und was haben Sie mir zu sagen?“

Charlotte sank in die Kniee, ergriff die Hand der fürstlichen Frau und zog sie an ihre Lippen. „Hoheit, verhelfen Sie mir und meinem Bruder zu unserem Rechte!“ flehte sie mit halberstickter Stimme. „Wir werden um unsern wahren Namen betrogen, wir müssen das Gnadenbrod essen, während wir vollgültige Ansprüche auf ein bedeutendes Vermögen haben und längst auf eigenen Füßen stehen könnten. … In unseren Adern fließt stolzes edles Blut, und doch fesselt man uns förmlich mit Ketten an dieses Krämerhaus und zwingt uns gewaltsam in bürgerliche Verhältnisse –“

„Stehen Sie auf und sammeln Sie sich, Fräulein Claudius,“ unterbrach sie die Prinzessin – die hoheitsvolle tiefernste Geberde, mit der sie winkte, hatte durchaus nichts Ermuthigendes. „Sagen Sie mir vor Allem, wer betrügt Sie?“

„Es will mir nicht über die Lippen, denn es sieht aus wie schwarzer Undank. … Die Welt kennt uns nur als die Adoptivkinder eines großmüthigen Mannes –“

„Ich auch –“

„Und doch ist er’s, der uns beraubt!“ fiel Charlotte wie verzweifelt ein.

„Halt – ein Mann wie Herr Claudius raubt und betrügt nicht! Da glaube ich weit eher an einen schweren Irrthum Ihrerseits!“

Ich hätte hervorstürzen und die Kniee der Dame umfassen mögen für diesen Ausspruch.

Charlotte hob den Kopf – man sah, sie raffte all’ ihren Muth zusammen. Mit einer raschen Bewegung stieß sie auch die Thür zu, durch welche ein lautes neckendes Gespräch zwischen der Hofdame und Dagobert herüberscholl. – „Hoheit, es handelt sich hier nicht um Geld – das ist vorläufig völlig Nebensache,“ sagte sie fest. „Herr Claudius liebt den Besitz, aber ich selbst bin fest überzeugt, daß er streng jedweden unrechtlichen Erwerb von sich weist. … Dagegen werden Hoheit mir zugeben, daß schon mancher tüchtige Charakter in leidenschaftlicher Verfolgung einer Idee, einer hartnäckig verblendeten Ansicht zuerst zum Selbstbetrüger und schließlich zum Verbrecher an Anderen geworden ist!“

Sie preßte die Hand auf die Brust und schöpfte tief Athem, während drüben die wundervollen Melodieen hochauf rauschten – er ließ ahnungslos seine strengverschlossene Seele zum ersten Male nach langen Jahren wieder in Tönen ausströmen, und hier wurde sein reiner Name an den Pranger gestellt – und ich durfte ihn nicht einmal warnen, ich mußte aushalten auf dieser Folter! Wie haßte ich in diesem Moment unbeschreiblicher Qualen die Anklägerin dort!

„Herr Claudius mißachtet den Adel, ja, er haßt ihn!“ fuhr sie fort. „Er ist selbstverständlich zu einflußlos, um an dem Bestehenden rütteln zu können; aber wo es in seine Hand gelegt ist, das Erstarken der Aristokratie zu verhindern, da thut er es aus allen Kräften, ja, eben in diesem Punkte scheut er selbst den Betrug nicht. … Hoheit, mit meinem Bruder tritt ein neues Adelsgeschlecht in das Leben, und, ich sage es mit Stolz, eine [832] neue feste Stütze in das Fundament der maßlos beneideten hohen Kaste; denn wir Geschwister sind durch und durch aristokratisch gesinnt. … Aber gerade deshalb sollen wir nie erfahren, wer uns das Leben gegeben hat – Herr Claudius will das Wappenschild an dem alten Krämernamen nicht dulden.“

Das Gesicht der Prinzessin wurde plötzlich weiß wie Wachs. Sie hob hastig unterbrechend die Hand und deutete nach Lothar’s Bild. „Und weshalb wollten Sie mir das Alles gerade unter dem Schutze dieser Augen sagen?“ stieß sie mit völlig veränderter heiserer Stimme heraus.

„Weil es die Augen meines lieben Vaters sind – Hoheit, ich bin seine Tochter!“

Die Prinzessin taumelte zurück und hielt sich an der Tischecke.

„Lüge, abscheuliche Lüge! … Sagen Sie das nicht noch einmal!“ schrie sie auf – wie entsetzlich veränderte sich das liebliche Gesicht, wie hart und eckig hob sich der drohende Arm! – „Ich dulde keinen Flecken auf seinem Namen! … Claudius war nie verheirathet, nie – das weiß die ganze Welt! … Er hat nicht einmal geliebt, nie geliebt – o mein Gott, nur diesen einen Trost raube mir nicht!“

„Hoheit“ –

„Schweigen Sie! … Wollen Sie wirklich behaupten, daß er sich vergessen habe, der stolze, unnahbare Mann? … Und wenn – o Gott im Himmel, es ist ja nicht wahr – aber wenn auch, möchten Sie in der That auf Rechte pochen, die Sie einer augenblicklichen Verirrung, nicht aber der Liebe danken?“

Mit welch beißendem Hohn warfen die schmerzhaft zuckenden Lippen diese Worte hin! … Charlotte war sprachlos vor Bestürzung in sich zusammengesunken; die Beleidigung aber traf sie wie ein Schlag in das Gesicht und gab ihr die Fassung zurück.

„Er habe nie geliebt?“ fragte sie. „Wissen Hoheit nicht, weshalb er freiwillig in den Tod gegangen ist?“

„Aus plötzlicher Schwermuth – er war krank – fragen Sie Alle, die ihn gekannt haben,“ murmelte sie und legte die Hand über die Augen

„Ja, er war krank, er war wahnsinnig vor Verzweiflung über den Tod –“

„Ueber wessen Tod? Ha, ha, ha!“

Charlotte sank abermals auf den Boden und umfaßte mit hervorstürzenden Thränen namenloser Angst die Kniee der Prinzessin.

„Hoheit, ich beschwöre Sie, hören Sie mich nur einen Augenblick ruhiger an!“ flehte sie. „Ich bin bereits zu weit gegangen, um zurückweichen zu können. Ich muß die Wahrheit sagen, schon um meines Bruders willen, denn ich darf nicht dulden, daß Sie in dem Glauben beharren, wir seien illegitime Kinder. … Lothar von Claudius war verheirathet – in geheimer, aber von der Kirche eingesegneter, rechtmäßiger Ehe hat er in der Karolinenlust gelebt – da sind wir geboren.“

„Und wer war die Glückliche, die er so heiß geliebt hat, daß er um ihretwillen gestorben ist?“ fragte die Prinzessin mit unheimlicher Ruhe – wie eine Statue von Marmor stand sie da, und die Worte zischten klanglos von ihren Lippen.

„Ich finde nicht den Muth, ihren Namen auszusprechen,“ stammelte Charlotte wie erschöpft. „Hoheit haben meine Mittheilungen zu ungnädig aufgenommen – ich darf nicht weiter gehen! … Der Mann da drüben,“ sie deutete über die Schulter zurück nach ihrem Zimmer, „darf vorläufig nicht erfahren, daß ich um das Geheimniß weiß – haben wir doch ohnehin unseren Anker verloren, da Hoheit sich von uns verfolgten und verlassenen Geschwistern abwenden. … Ich habe vorhin bei jedem heiligen Wort, bei jedem Laut angstvoll gezittert und gefürchtet, daß sie dort hinüber dringen würden. … Ich weiß es, Sie werden den Namen nicht mit Ruhe anhören –“

„Wer sagt Ihnen denn das, Fräulein Claudius?“ unterbrach sie die Prinzessin sich hoch aufrichtend – die letzten Worte Charlottens hatten genügt, den ganzen Fürstenstolz in ihr wach zu rufen. – „Sie sind auf völlig falschem Wege, wenn Sie meiner augenblicklichen Hast einen anderen Grund, als den einer allerdings maßlosen Ueberraschung zuschreiben! … Was geht es mich schließlich an, wer die Frau gewesen ist? … Ich würde es Ihnen erlassen, den Namen zu nennen, wenn ich nicht gerade beweisen möchte, daß ich ihn sehr ruhig anhören kann; und somit befehle ich Ihnen, Ihre Bekenntnisse mit dem Namen zu schließen!“

„Nun denn, ich gehorche Hoheit!     Die Frau war die Prinzessin Sidonie von K.“ –

Sie hatte sich vermessen, die stolze Fürstin! Sie hatte gewähnt, sie könne das verächtliche Lächeln auf den Lippen festhalten, das Blut gebieterisch in die Wangen beschwören, wie auch der Name lauten mochte – und jetzt fiel er wie ein Blitzstrahl auf ihr Haupt, und sie sank mit versagenden Blicken an die Wand zurück und stöhnte auf, als sei ihr ein Messer durch die Brust gestoßen worden.

„Das ist wohl der grausamste Betrug, dem je ein Frauenherz verfallen mußte!“ hauchte sie. „Pfui, pfui, wie schwarz und falsch!“

Charlotte wollte sie stützen.

„Fort! Was wollen Sie?“ zürnte sie und stieß die Hände des jungen Mädchens zurück. „Ein Dämon muß Ihnen den teuflischen Gedanken eingegeben haben, mich, gerade mich zu Ihrer Vertrauten zu machen! … Gehen Sie! Ich gebe Ihnen Ihr Geheimniß wieder in die Hände – ich will Nichts gehört haben, Nichts! Denn ich kann und werde mich nie damit befassen, Ihnen zu Ihren sogenannten Rechten zu verhelfen!“

Sie richtete sich empor, war aber genöthigt, sich sofort wieder am Tisch festzuhalten. „Haben Sie die Güte, mein Gefolge herbeizurufen – mir ist sehr übel!“ gebot sie mit erlöschender Stimme.

„Verzeihung, Hoheit!“ rief Charlotte außer sich.

Die Prinzessin zeigte wortlos und gebieterisch nach der Thür, während sie in den nächsten Fauteuil sank. Charlotte flog über die Schwelle, und sofort füllte sich der Salon mit bestürzt herzueilenden Gestalten. Auch die Musik riß mit einem schrillen Accord ab – Herr Claudius kam herüber.

„Ein altes Leiden hat mich plötzlich überrascht,“ sagte die Prinzessin matt lächelnd zu ihm. „Ich habe Herzkrampf. Wollen Sie mir Ihren Wagen leihen? Ich kann unmöglich warten, bis der meine kommt.“

Er eilte hinaus, und nach wenigen Minuten führte er die hohe Leidende die Treppe hinab. Sie stützte sich fest auf ihn; die Art und Weise aber, mit welcher sie sich von ihm verabschiedete, bewies, daß Charlottens Mittheilungen auch nicht den allermindesten Einfluß auf ihre Hochachtung für ihn ausgeübt hatten.

[841]
30.

Ich benutzte die allgemeine Bestürzung und Verwirrung, hüllte mich unbemerkt in Mantel und Kapuze und verließ das Vorderhaus. Noch zitterten mir die Kniee, und das Blut jagte mir fieberisch durch die Adern – die Scene war entsetzlich gewesen! … Die grenzenlose Unbesonnenheit, mit welcher ich mich mitten in die geheimnißvollen Beziehungen des Claudiushauses gestellt hatte, rächte sich grausam, in unerbittlicher Consequenz. Glied um Glied der verhängnißvollen Kette wurde an meinem Auge vorübergeführt, und eine heimtückische Hand stieß mich stets mithandelnd und mitleidend in die verschiedenen Phasen der Entwickelung hinein. … Ich hatte mit anhören müssen, wie er, für den ich freudig mein Herzblut hingegeben hätte, nun in der That des notorischen Betruges angeklagt wurde. Jedes Wort war für mich ein Dolchstich gewesen und hatte mich mit heißen Rachegefühlen für die leidenschaftliche Anklägerin erfüllt; und doch hatte ich mit geballten Händen und überströmenden Augen stillhalten müssen in meinem Versteck. Ja, gerade in jenen Momenten war ich der Wucht vernichtender Beschämung fast erlegen. … Hatte ich nicht auch einst bei Hofe vor dem Angesicht der Prinzessin, genau so wie jetzt Charlotte, den ahnungslosen Mann aus allen Kräften zu verlästern gesucht? Hatte ich nicht damals grausamen Muthes entschieden erklärt, daß ich ihn nicht leiden könne? Und wenn ich ihm mein Lebenlang diente wie eine Magd, ich konnte nie sühnen, was ich ihm angethan in kindischer Verblendung! … Und das trieb mich aus seinem Hause, hinaus in die todtenstillen Gärten. … Hätte ich doch so weiter wandern dürfen auf den glatten, beschneiten Wegen! Immer weiter, bis tief in die Haide hinein, wo Ilse und Heinz jetzt friedlich neben dem großen Kachelofen saßen. Hätte ich mich auf das Fußbänkchen neben Spitzens zottigen Pelz setzen und wie sonst an den stillen trauten Winterabenden Ilse’s liebe harte Hand auf meinem Scheitel fühlen dürfen, vielleicht wäre Friede über mich gekommen, Friede! Jetzt erst wußte ich die einstige köstliche Stille in und außer mir zu schätzen, seit mich der ungestüme Herzschlag ruhelos umhertrieb und mich bald in den Himmel hob, bald in den Abgrund bitterer Reue und Selbstanklagen stieß.

Eine blendende Helle breitete sich jetzt über die weiten Gärten; wie aus klingendem Silber geschnitten, schwebte die Mondscheibe scharf abgegrenzt am kalt gläsernen Himmel. Ich schritt über die Brücke. Drunten lag schlangenhaft gleißend der erstarrte Fluß zwischen dem blätterlosen Ufergebüsch, und im Bosquet stäubte silbernes Geflimmer von den Zweigen. Die steinernen Titanen des Teiches lagen nicht mehr auf blauer Sammetdecke – ein riesiger Eisbrillant trug sie in seiner Mitte, und sie hatten Schneeturbane über den bärtigen Gesichtern und das leichtgeschürzte Florgewand der frierenden Diana säumte dicker, weißflockiger Winterpelz. Und alle Contouren des architektonischen Schmuckes auf dem Rococoschlößchen hatte Frau Holle mit ihrem Federweiß zart und weich nachgemalt und auf dem Balcon vor den Glasthüren ein hochschwellendes, fleckenlos weißes Polster niedergelegt. … Wie kindlich harmlos war meine erste Vorstellung von dem Geheimniß der versiegelten Zimmer gewesen – ich hatte das Märchen drinnen wandeln sehen! Und nun waren es eine Handvoll Papiere, die da spukten und von denen zwei schrankenlos ehrgeizige Menschen erwarteten, daß sie ihnen in der That das goldene Zauberthor öffnen sollten, aus welchem ihnen mühelos die Schätze der Welt in den Schooß fielen.

Ich sah hinauf nach den Fenstern der Bibliothek. Die Lampe brannte noch auf dem Schreibtische, aber über den Plafond hin flog ein hastig auf- und ablaufender Schatten – das war mein Vater – er schien unruhiger und aufgeregter als je. Beklommen stieg ich die Treppe hinauf – die Bibliothek war verschlossen. Zwischen die unaufhörlich das Zimmer durchmessenden Schritte klang dumpfes Gemurmel, und hier und da schlug mein Vater mit knöcherner Faust auf die Tischplatte, daß sie dröhnte.

– Ich klopfte und bat ihn, zu öffnen.

„Laßt mich in Ruhe!“ rief er rauh und heftig drinnen, ohne sich der Thür zu nähern. „Gefälscht, sagt Ihr?“ – Er stieß ein gellendes Gelächter aus. – „Kommt her und beweist! … Aber thut Eure Stecken weg! … Was schlagt Ihr mich denn auf den Kopf? … O, mein Gehirn!“

„Vater, Vater!“ rief ich angstvoll.

Ich wiederholte meine Bitte, mich einzulassen.

„Gehe – quäle mich nicht!“ rief er ungeduldig und wanderte wieder tiefer in das Zimmer hinein.

Ich mußte gehorchen, wollte ich ihn nicht noch mehr reizen, und entfernte mich für den Augenblick. Drunten brannte ich die Lampe an und ging in sein Zimmer, um für die Nacht Alles vorzurichten … Da lagen die Zeitungen, die er heute erhalten, auf dem Tische, aufeinandergeschichtet und scheinbar unberührt [842] nur eine hatte er, zu einem Klumpen zerknüllt, auf den Boden geschleudert. Ich entfaltete sie und sah alsbald einen bezeichnenden rothen Strich neben einem langen Artikel herablaufen. Wie ein Funke sprang mir der Name Sassen aus dem Buchstabengetümmel entgegen und erfüllte mich mit einem ahnungsvollen Schrecken. Ich überflog den Anfang und verstand ihn nicht, er wimmelte von technischen Ausdrücken. Aber nun kam es, und ich schlug niedergeschmettert die Hand vor die vergehenden Augen. Da stand:

„Mit diesem Münzenschwindel hat der Autoritätsglaube abermals einen empfindlichen Schlag erhalten – einer unserer ersten Namen ist für alle Zeiten compromittirt. Doctor von Sassen hat in unbegreiflicher Verblendung den Fälscher und seine Münzen, von denen auch nicht eine echt ist, an alle Höfe und Universitäten empfohlen. … Allerdings sagt Professor Hart in Hannover, welcher dem Betruge zuerst auf die Spur gekommen ist, die Fälschung sei eine meisterhafte –“

Professor Hart in Hannover! Das war der Fremdwörterprofessor am Hünengrab, der Mann mit dem guten Gesicht und der rasselnden Blechbüchse auf dem Rücken. … Ich hatte ihn liebgewonnen, weil er in so gütiger Weise meine Haide vertheidigte, und nun war dieser fast kindlich milde Greis ein so gewappneter Gegner meines Vaters und stieß ihn aus dem Sattel, wie heute Dagobert sagte. … Und das waren die Münzen gewesen, zu deren Ankauf ich so ungeberdig mein Vermögen von Herrn Claudius gefordert – und um seiner nur zu wohl begründeten Weigerung willen hatte ich ihn dann bei Hofe als anmaßenden Besserwisser angeklagt. … Jetzt sah ich ihn wieder vor seinem Münzenschatz stehen, so weise und bescheiden aber auch so ruhig fest in seinem Urtheile. Und weil es der Kenntnißreiche verschmähte, sein Wissen prunkend auf dem großen Markte auszubreiten, so mußte er sich von Dagobert unverschämt schelten lassen und ich hatte als dankbares Echo dieses häßliche Wort wiederholt. … Wie glänzend gerechtfertigt stand der stolz schweigende Mann nun da! … Gerade diese Münzengeschichte führte den Sturz meines Vaters bei Hofe herbei – das war’s, was der charakterlose, erbärmliche Dagobert mir heute Abend in dunklen, spöttischen Worten hingeworfen hatte. … Armer Vater! Dieser eine Irrthum schleuderte ihn von seiner Höhe herab unter die Füße seiner Feinde und Neider. … Das mochte freilich genügen, um den armen Kopf des kränklich schwachen Mannes, der Tag und Nacht im Interesse der Wissenschaft angestrengt arbeitete, zu verwirren.

Wie ohnmächtig stand ich junges unerfahrenes Geschöpf seinem Mißgeschick gegenüber! Ich begriff sehr wohl, daß dem Manne in solchen Stunden selbst die geliebteste Stimme keinen Trost zu geben vermag – und was konnte ich ihm auch sagen? … Aber allein lassen durfte ich ihn nicht; er mußte die stillwaltende Liebe doppelt fühlen, ohne daß sie ihm in Worten beschwerlich fiel.

Eiligst verließ ich sein Zimmer, um hinaufzueilen und mit Bitten nicht abzulassen, bis mir das Bibliothekzimmer geöffnet wurde. Da blieb ich plötzlich stehen und horchte – aus meiner Schlafstube drang ein Geräusch, als ob Möbel gerückt würden – ich riß die Thür auf; der Mondschein fluthete mir blendend entgegen, denn beide Fenster standen noch offen – in meiner Aufregung über die Ankunft der Tante hatte ich vergessen, sie zu schließen und die Läden vorzulegen. Mit einem Aufschrei prallte ich zurück – ein Mann hielt den verhängnißvollen Schrank umklammert und schob ihn mit einem abermaligen Rucke seitwärts, so daß die Tapetenthür vollständig freigelegt war. Er fuhr herum – Dagobert’s weiße Stirn leuchtete mir entgegen, und seine Augen sprühten mich an. Mittelst eines einzigen Sprunges kam er herüber, schlug die Thür hinter mir zu und zog mich tiefer in das Zimmer hinein.

„Seien Sie jetzt einmal vernünftig, und bedenken Sie, daß mein und auch Ihr Lebensglück von diesem einen Augenblicke abhängt!“ flüsterte er. „Charlotte hat die Sache geradezu verrückt angefangen – sie hat der Prinzessin das Geheimniß mitgetheilt und ist mit der Thür in’s Haus gefallen. Das Allerschlimmste, das uns passiren konnte, ist eine plötzlich wie vom Himmel fallende wahnwitzige Liebe der alten Hoheit, die meinen Vater selbst im Grabe keiner Anderen gönnen will! … Jetzt haben wir zwei Gegner zu bekämpfen, die sich möglicherweise heimlich verbünden – solch einer verrückt gewordenen alten Jungfer traue der Teufel! … Wer bürgt uns dafür, daß nicht eines Nachts das Gerichtssiegel von einer der Thüren fällt? Das hat dann der Onkel nicht gethan – bewahre – die ganze Welt weiß, daß er gerade die Siegel streng hütet. Es kann ja zufällig abgestoßen worden sein; und wenn dann die Papiere aus dem Schreibtische verschwunden sind, wer in der Welt erfährt das je? … Seien Sie kein Kind! … Hier in der Thür steckt der Schlüssel, ich brauche ihn nur umzudrehen – es ist kein Einbruch, wenn ich hinaufgehe und das in Sicherheit bringe, was mir von Rechtswegen gehört.“

Ich weiß selbst nicht, wie es mir in jenem Augenblicke möglich geworden ist, so blitzschnell und aalglatt hinter ihm wegzugleiten, mit einem einzigen Griff den Schlüssel aus der Tapetenthür zu reißen und in meine Tasche zu stecken.

„Schlange!“ stieß er zwischen den Zähnen hervor. „Sie wollen sich theuer verkaufen! Sie meinen, mit diesem Schlüssel in der Tasche sind Sie noch begehrenswerther für mich!“

Damals verstand ich den Sinn dieser abscheulichen Worte nicht im Entferntesten; wie hätte ich sonst den Elenden auch nur noch eines Wortes, eines Blickes würdigen können?

„Ich will Sie von einem Unrecht abhalten!“ sagte ich und lehnte mich entschlossen mit dem Rücken gegen die Thür. „Seien Sie offen und wahr gegen Herrn Claudius; Sie werden damit weit eher zum Ziele kommen, als wenn Sie das Schloß droben erbrechen … Ich will mit Ihnen gehen – wir wollen ihm noch in dieser Stunde Alles sagen –“

Ich verstummte, denn seine Augen glitten in beleidigender Weise langsam musternd über mich hin, und ein spöttisches Lächeln zuckte um seinen Mund. „Schön sind Sie, Barfüßchen! Die schlanke Eidechse mit dem Prinzessinnenkrönchen ist in wenigen Monaten geradezu sirenenhaft geworden – wo aber ist die Eidechsenklugheit geblieben?“ – Er lachte laut auf. – „Eine reizende Situation beim Zeus! Wir treten in corpore vor das hehre Angesicht des Onkels, bringen ihm unser kostbares Geheimniß auf dem Präsentirteller und ziehen mit langer Nase wieder ab!“ – Er kam an mich näher heran, so daß ich mich angstvoll und noch fester als vorher gegen die Wand drückte. – „Nun lassen Sie sich Eines sagen! Noch halte ich an mich und berühre Sie nicht – das danken Sie meiner grenzenlosen Schwäche, meiner geheimen Abgötterei für Sie! Ich will Sie grundsätzlich nicht reizen, denn ich weiß, daß Sie ein kleiner Teufel an Bosheit sind – ich glaube, in solchen Augenblicken unbezähmbarer Widerspenstigkeit sind Sie im Stande, mir abzuleugnen, was ich Beglückter längst weiß! …“

Was sollte das heißen? Ich mochte ihm wohl ein sehr erstauntes Gesicht zeigen, denn er lachte abermals. „Ei, thun Sie doch nicht, als sei ich der Wolf und Sie das Rothkäppchen, das den Bösewicht mit großen, unschuldig fragenden Augen verständnißlos ansieht!“ rief er. „Die Situation ist mir allerdings mit heute sehr erschwert worden – Ihre unbegreiflich geschwätzige kleine Zunge, die ich in unserem beiderseitigen Interesse bereits geschult zu haben meinte, hat den Makel des Judenthums auf Ihre Abkunft geworfen; desgleichen hat sich Ihr Papa bei Hofe unmöglich gemacht – allein meine Leidenschaft für Sie überwindet Alles; auch meine ich, der Fürstenmantel meiner Mutter vermag Vieles zuzudecken“ – er berührte mit seinen Lippen fast mein Ohr – „und ich will den sehen, der meine reizende, kleine Lenore –“

Jetzt hatte ich ihn begriffen – ach, wie hart und bitter wurde in diesem Augenblick der blinde Enthusiasmus gestraft, mit welchem ich mich bedingungslos den Geschwistern hingegeben! Außer mir, wandte ich mein Gesicht weg und hob drohend den Ellenbogen über den Kopf – ich glaube, ich habe in einer Art Fechterstellung ihm gegenüber gestanden.

„Ah, da ist er ja wieder, der Dämon! Wollen Sie nicht wieder nach mir schlagen, wie?“ höhnte er zwischen den Zähnen hervor. „Hüten Sie sich! … Ich habe Ihnen schon einmal gesagt –“

„Ich weiß es wohl, daß Sie mich mit einem einzigen Druck Ihrer Hände erwürgen können – thun Sie es doch!“ rief ich unerschrocken. „Freiwillig gebe ich den Schlüssel nicht heraus! … Sie sind ein Ehrloser! … Ich bin das blöde Kind nicht mehr, das darin“ – ich zeigte auf seine im Mondschein funkelnden [843] Epauletten – „lediglich einen Schmuck sieht – ich weiß, daß sie nur in Ehren getragen werden dürfen! Und da kömmt nun der stolze Officier bei Nacht und Nebel als Einbrecher und bedroht ein wehrloses Mädchen.“ –

„Ah, die kleine Viper versucht zu stechen?“ knirschte er und schlug seine Arme um mich; aber meine Geschmeidigkeit kam mir zu Hülfe – aufschreiend entschlüpfte ich ihm und stand mit einem Sprung auf der Fensterbrüstung.

„Um Gotteswillen, was ist denn das?“ rief draußen der alte Schäfer – er war auf dem Weg nach Hause und kam jetzt über das helle Schneefeld hergelaufen.

„Kommen Sie herein – ach, schnell, schnell!“ stammelte ich, zwischen einem Thränenausbruch und dem Jubel des Erlöstseins schwankend.

Mit einem Fluch sprang Dagobert durch das andere Eckfenster, während der alte Gärtner die Hausfront entlang lief und gleich darauf eintrat.

„Was hat’s denn gegeben?“ fragte er, sich erstaunt im Zimmer umsehend. „Du lieber Gott, Fräulein, Sie sehen ja so erschrocken aus wie mein Kanarienvögelchen, wenn die Katze in der Stube gewesen ist! … Hat’s vielleicht rumort im alten Hause? Fürchten Sie sich nicht – das sind nur die Mäuse, Fräulein. Gespenster giebt’s nicht, und wenn die Leute zehn Mal sagen, es sei nicht richtig in der Karolinenlust.“

Ich ließ den guten Alten, dessen Stimme mich so sanft zu beschwichtigen suchte, in dem Wahn, daß eine Art Phantom mich erschreckt habe, und bat ihn nur, die Fensterläden so fest wie möglich zu verrammeln, dann schloß ich alle Thüren ab und ging hinauf in das Bibliothekzimmer. … Ich fühlte mich so kampfmüde – der letzte Rest der bedeutenden Dosis von Trotz und Widerstandsfähigkeit, mit welcher ich der neuen Welt entgegengetreten, war erschöpft. – und ich war noch so jung, so jung! … War das ganze Menschenleben solch ein Kampf mit den unerbittlichen Consequenzen, die das eigene Irren heraufbeschworen? Und sollte meine bange, geängstigte Mädchenseele nun fort und fort, auf ihr eigenes Ringen angewiesen, hülf- und stützelos in Nacht und Sturm auf- und niedertaumeln? … Ich schüttelte mich vor Grauen – ich mußte versinken in Angst und Noth, wenn nicht eine starke Hand nach mir herübergriff. … „Mit meinem Mantel vor dem Sturm – beschützt’ ich Dich!“ – Ach ja, geborgen sein! Wer doch mit lahmen Flügeln unter die Hut des Stärkeren flüchten und dort aufathmen durfte! … Wie hatte ich die Kraft der „Kinderhände“ überschätzt, weil sie sich lustig durch den Frühlingssturm der Haide hindurchgekämpft! Wie sanken sie schon jetzt ermattet nieder und tasteten nach Halt und Stütze! …

Das Bibliothekzimmer war noch verschlossen, als ich hinaufkam, und so viel ich auch klopfen und rütteln mochte, ich erhielt keine Antwort. Im ersten Augenblick meinte ich, mein Vater sei fortgegangen – es war todtenstill drinnen. Aber nun hörte ich von fern herüber ein dumpfes Gepolter, dem ein kicherndes Auflachen folgte – der Lärm kam aus dem Antikensaal, dessen Thüren jedenfalls weit offen standen. Mir klang es, als würden schwere, harte Massen niedergeworfen, und das Lachen war ein so seltsam Unheimliches, daß sich mir unter einem Angstschauer leise die Haare sträubten. … Und jetzt flog ein Gegenstand in die Bibliothek herein und zersprang auf dem Fußboden klirrend in tausend Scherben – ein wahres Triumphgeschrei folgte dem Geschmetter. … Ich schlug mit den geballten Händen auf die dröhnende Thür und rief verzweiflungsvoll unaufhörlich den Namen meines Vaters.

Da ging jenseits des weiten Treppenhauses eine Thür auf, und Herr Claudius trat aus seiner Sternwarte – fast tageshell floß das Mondlicht mit ihm heraus. Ich eilte zu ihm hin und theilte ihm unter krampfhaftem Ringen mit den hervorstürzenden Thränen meine Seelenangst und Noth mit. Während in der Bibliothek auf meinen Lärm hin eine unheimlich tiefe Stille eingetreten war, erzählte ich mit niedergeschlagenen Augen flüsternd von der Münzengeschichte.

„Ich weiß es,“ unterbrach mich Herr Claudius ruhig.

„Der Kummer macht meinen Vater wahnsinnig – ach, wie leide ich um ihn!“ rief ich. „Er ist gebrandmarkt und hat über Nacht seinen berühmten Namen verloren!“ –

„Glauben Sie das nicht! Es wäre traurig, wenn ein einziger Irrthum ein ganzes Leben von angestrengter Geistesarbeit aufheben sollte. … Herr von Sassen hat ungeheure Verdienste um die Wissenschaft, die kann ihm Niemand rauben, und gerade deshalb suchen ihn die Mücken in einem Augenblick der Schwäche nur so empfindlicher zu stechen. … Das geht vorüber. Seien Sie ruhig, Lenore, und weinen Sie nicht.“ Er hob unwillkürlich die Hand, als wolle er die meine tröstend fassen, aber sie ebenso rasch sinken lassend, trat er an die Thür der Bibliothek und rüttelte an dem Drücker.

In demselben Moment schlug es drinnen krachend und fortrollend auf die Dielen nieder.

„Du bist ja kein Agasias!“ schrie mein Vater – ach, ich erkannte diese kreischende Stimme kaum wieder! – „Sassen hat gelogen! Fragt nur den Hart in Hannover, der weiß es! … Fort mit dir, du bist auch gefälscht!“ – Man hörte, wie er nach dem zu Boden geschmetterten Gegenstand stieß.

„Ach, das ist der schlafende Knabe, sein Abgott, über den er ganze Bände schreibt, um zu beweisen, daß es ein Werk des Agasias ist!“ stieß ich zitternd heraus. „Gott im Himmel, er zertrümmert die Antiken!“

Herr Claudius klopfte mit starkem Finger an die Thür.

„Wollen Sie mir nicht öffnen, Herr Doctor?“ rief er laut, aber mit völlig beherrschter Stimme.

Mein Vater stieß ein gellendes Gelächter aus. „Und es steht geschrieben – ha, ha, ist Alles Lüge gewesen vom Anfang an! Wehre dich doch, wenn du von Gottes Gnaden unsterblicher Geist bist! Siehst du, wie dich die gelben Flammen fressen? … Hei, da wirbelt sie hinauf an die Decke, die Lügenbrut des Geistes, auf die der berühmte Mann stolz war! – Rauch, nichts als Rauch!“

Herr Claudius fuhr entsetzt zurück – aus dem Schlüsselloch und den Thürfugen quoll dicker Qualm und ein erstickender Geruch – wollene Stoffe brannten.

„Er verbrennt sein Manuscript, und das Feuer hat die Vorhänge angegriffen!“ schrie ich auf. Ich brach in lautes Jammern aus und warf mich verzweiflungsvoll gegen die Thür – ach, was vermochten meine armen kleinen Hände und Füße gegen die dicken Bohlen, die sich nicht rührten!

Herr Claudius sprang in die Sternwarte zurück, und jetzt dachte ich auch an die kleine, kaum sichtbare Tapetenthür in der Bibliothek; sie führte in einen weiten, dunklen Raum voll Gerümpel, der das genannte Zimmer von der Sternwarte trennte. Und wenn die Thür auch verschlossen war, zwei harte Fußtritte genügten, um das leichte Brettergefüge zu sprengen. Aber es bedurfte dessen nicht einmal; rasches Laufen drinnen und ein zorniger Schrei meines Vaters belehrten mich, daß Herr Claudius, ohne Widerstand zu finden, eingedrungen sei. Der Schlüssel wurde umgedreht und die Thür aufgerissen. Welch ein Anblick! … Rauch und Qualm, und dazwischen hochaufschießende Flammenfratzen, von knisterndem Funkenregen umstiebt, wogten um die traute Schreibecke meines Vaters. An den sehr schweren, dicken Wollvorhängen fraßen sich „die gelben Zungen“ nur langsam empor; desto lustiger und begehrlicher leckten sie bereits über die Stöße alter Brochüren hin, die ein zwischen den Fenstern stehendes Regal füllten. Mein Vater schrie und geberdete sich wie ein Rasender – er floh vor Herrn Claudius, der ihn zu fassen und aus dem Zimmer zu ziehen suchte. Unter den Füßen der Laufenden knirschten und krachten unaufhörlich Scherben – der Boden war bedeckt mit Trümmern kostbarer antiker Thongefäße.

Ich lief hinein.

„Zurück, Lenore! Hinaus! Denken Sie an Ihre feuerfangenden Kleider!“ rief Herr Claudius angstvoll herüber, indem er meinem Vater, der sich auflachend in die Flammen zu werfen suchte, den Weg vertrat. „Laufen Sie in das Vorderhaus um Hülfe!“

Ich sah im Davoneilen, wie mein Vater, über die am Boden liegende Marmorfigur strauchelnd, niederfiel, von Herrn Claudius erfangen und, trotz seiner wüthenden Gegenwehr, auf kraftvollen Armen nach der Thür getragen wurde; aber kaum hatte ich die Halle betreten, als ich hörte, wie die Ringenden droben im unausgesetzten Kampfe die Treppe erreichten.

„Mörder, elender Mörder!“ schrie mein Vater, daß die marmorbekleideten Wände gellten – dann erfolgte ein entsetzliches Gepolter.

[844] Wie ich mit meinen versagenden Füßen die Beletage wieder erreicht habe, kann ich bis heute nicht sagen, ich weiß nur, daß mir war, als sei ich plötzlich von einem Wirbel erfaßt und da hingeschleudert worden, wo ein dunkler Knäuel, droben vor der untersten Treppenstufe lag.

Herr Claudius stand bereits wieder auf seinen Füßen; er hielt sich mit der Hand am Treppengeländer fest und wandte mir sein vom Mond beschienenes Gesicht zu – es war mit einer fahlen Blässe bedeckt.

„Wir sind unglücklich gefallen,“ sagte er, noch athemlos von der Anstrengung, und deutete auf meinen Vater. „Er ist bewußtlos, und ich kann ihn nicht weiter bringen. Arme, arme Lenore, Ihre Füße tragen Sie nicht, und doch müssen Sie mir Hülfe holen.

Nun rannte ich durch die Gärten – hinter mir schlugen die feurigen Zungen aus den Fenstern der Bibliothek und schwarze, dick aufschwellende Rauchwolken zogen über die Baumwipfel hin, mir nach.

„Feuer in der Karolinenlust!“ schrie ich in die Hausflur hinein.

Im Nu war das ganze Vorderhaus rebellisch. Allgemeines Entsetzen, als die Herbeilaufenden in den Hof traten und über der Pappelwand den rothglühenden Dampf in das ruhige, stete Silberlicht des Himmels hineinlohen sahen. Wer Hände hatte, ergriff Kübel und Eimer und aus der Remise wurden zwei große Handspritzen gehoben. Man hatte auch in der Seitenstraße den Brand bemerkt; durch das Thor stürmte ein Menschenhaufe um den andern – in wenigen Minuten wimmelten die Gärten und der Platz vor der Karolinenlust von Rettenden, die das Eis auf Teich und Fluß einschlugen und Wasser in das brennende Stockwerk schleppten.

Als ich zurückkehrte, lehnte Herr Claudius am Treppengeländer; mit seiner Rechten drückte er den linken Arm gegen die Brust. Ich konnte nicht sprechen vor Jammer und bog mich über meinen Vater, dessen Kopf auf der untersten Treppenstufe lag. – Herr Claudius hatte ihm seinen Shawl als Polster untergeschoben. Die Augen waren geschlossen, und das eingefallene Gesicht sah so blutleer und wächsern aus, daß ich meinte, er sei todt – aufstöhnend schlug ich die Hände vor das Gesicht.

„Er ist nur betäubt, und so viel es mir möglich war, zu untersuchen, hat er auch kein Glied gebrochen,“ sagte Herr Claudius – wie lernte ich diese ruhig gelassene Stimme, um deretwillen ich ihn einst einen Eiszapfen gescholten, in den Augenblicken unaussprechlicher Angst und Seelenqual schätzen! An ihr richtete ich mich sofort auf.

„Hinunter in Herrn von Sassen’s Zimmer!“ gebot er den Leuten, die den Gestürzten vom Boden aufnahmen. „Es liegt weit ab – das Haus ist massiv, und Wasser und rettende Hände sind genug da – bis dahin dringt die Feuersgefahr nicht mehr!“

Ein Menschenstrom wogte an uns vorüber, die Treppe hinauf.

„Und Sie?“ sagte ich zu Herrn Claudius, während wir seitwärts traten, und die zwei Männer, von Fräulein Fliedner geleitet, meinen Vater nach unserer Wohnung trugen. – „Ich sehe es wohl, Sie haben Schmerz, Sie haben sich wehe gethan! … Ach, Herr Claudius, wie schwer müssen Sie dafür leiden, daß Sie meinen Vater und mich in Ihr Haus aufgenommen haben!“

„Meinen Sie?“ – Ein fast sonniges Lächeln verdrängte für einen Moment den Zug des Leidens, der seine Brauen faltete. „Ich rechne anders, als Sie denken, Lenore. Ich kenne die weise Einrichtung sehr gut, nach welcher wir erst verschiedene Stadien durchlaufen müssen, ehe wir in den Himmel eingehen dürfen – mit jedem kommen wir dem Ziele näher, und dafür sei er gesegnet.“

Er stieg in das brennende Stockwerk hinauf, und ich eilte zu meinem Vater. Er lag still und unbeweglich auf seinem Bett; nur als eine Feuerspritze drüben donnernd über die Brücke fuhr und unter heftigem Getöse vor dem Hause hielt, hob er die Lider und sah mit einem umschleierten, völlig verständnißlosen Blick umher. Von diesem Augenblick an flüsterte er unaufhörlich vor sich hin, ganz sanft und sacht. Fräulein Fliedner legte ihm kalte Tücher um den Kopf, das schien beruhigend auf ihn zu wirken. Hülfe und Beistand fehlten mir nicht. Auch Frau Helldorf, die den Claudiusgarten seit jenem verhängnißvollen Sonntagmorgen nicht wieder betreten, hatte die Angst und Scheu vor einer Begegnung mit ihrem Vater überwunden, und war zu mir herübergekommen.

Ich saß neben dem Kranken und hielt seine glühende Hand in der meinen. Sein gespenstiges Murmeln, das auch nicht für einen Augenblick abriß, der Anblick seines Leidensgesichtes, von welchem jede Spur eines selbstständigen Denkens für immer weggewischt schien, dazu die folternde Angst um Herrn Claudius, den ich droben in den brennenden Räumen wußte – das Alles versetzte mich in einen Zustand stiller Verzweiflung.

In der Zimmerecke brannte ein verdecktes Nachtlicht – tiefe Schatten webten um das Krankenbett; desto heller breitete sich der Platz vor den Fenstern hin. Ueber die versilberte Baumwand drüben wogten wie flatternde Fahnen die Schatten der Rauchwolken; zischend fuhr der funkelnde Wasserstrahl der Feuerspritze aus dem Menschengewimmel hinauf – sie zerstoben und duckten nieder, um sich gleich darauf, zu meinem bangen Schrecken, majestätisch wieder aufzublähen … „Habt Acht!“ scholl es fort und fort aus dem Gemurmel und Gebrause – gerettete Gegenstände, Vasen, Spiegel, Marmorfiguren wurden vorübergetragen und bei der Diana niedergelegt – hohe Bücherstöße reckten sich an der Göttin empor, und die umstehenden Polstermöbel und glänzenden Tischplatten sahen wunderlich genug aus in der schneefunkelnden Winterlandschaft.

Allmählich verdünnten sich die intensiv schwarzen Rauchstreifen schleierartig vor meinem starr hinausgerichteten Blick – der Lärm, trepp auf, trepp ab, klang gedämpfter – es wurden keine geretteten Sachen mehr vorübergetragen.

„Das Feuer ist nieder,“ sagte Frau Helldorf tiefaufathmend, und ich vergrub meine überströmenden Augen in die Bettkissen.

Charlotte kam herein. Ihr Kleidersaum schleppte zerfetzt am Boden hin, und die schweren Zöpfe hingen ihr unordentlich in den Nacken – sie hatte beim Retten wie ein Mann geholfen.

„Das ist ja ein schöner Abend für uns, Prinzeßchen,“ sagte sie tonlos und setzte sich neben mich erschöpft auf ein Fußbänkchen. Sie legte die Stirn auf meine Kniee. „Ach, mein armer Kopf!“ flüsterte sie, während die beiden Damen für einen Moment in das Nebenzimmer gingen. „Kind, wenn Sie wüßten, wie es in mir aussieht! … Glauben Sie wohl, daß mir droben der verzweifelte Gedanke gekommen ist, ob es nicht besser wäre, der Feuerstrom packe meine Kleider und mich mit, und die ganze Qual hier drinnen“ – sie preßte die Hände auf das Herz – „nähme plötzlich ein Ende? … Und an den versiegelten Thüren bin ich vorübergelaufen und habe gemeint, es müsse sich eine aufthun und meine Mutter die Arme herausstrecken, um ihr unglückliches Kind aus dem vorbeibrausenden Menschenschwarm hineinzuziehen. … Heute zum ersten Mal kann ich’s meinem Vater nicht vergeben, daß er uns so bedingungslos, so auf Treu und Glauben in die Hände seines Bruders geliefert hat! Und wenn er noch so furchtbar litt, er durfte nicht sterben, er mußte für uns leben – er hat feig gehandelt!“

Draußen verlief sich allmählich die Menschenmenge, es wurde stiller, und das Zischen der Wasserstrahlen, die noch von Zeit zu Zeit hinaufgeschickt wurden, drang schärfer an das Ohr. Und jetzt endlich kam auch der so heiß ersehnte Arzt. Während er den Kranken untersuchte und schweigend beobachtete, klang draußen eine gewaltige Stimme durch den hallenden Corridor und herein in das stille Zimmer.

„Habe ich’s nicht gewußt, Herr Claudius, daß dieses Hervorzerren der von Ihren Vorfahren wohlweislich vergrabenen heidnischen Götzenbilder dem Herrn ein Gräuel sein müsse?“ fragte der alte Buchhalter in seinem breitesten Prophetenton.

„Er ist unverbesserlich, der alte Fanatiker!“ murmelte Charlotte ärgerlich.

„Habe ich nicht vorhergesagt, daß das Feuer vom Himmel fallen würde?“

„Es ist nicht vom Himmel gefallen, Herr Eckhof,“ unterbrach ihn Herr Claudius hörbar ungeduldig.

„Sie mißverstehen das absichtlich, lieber Herr,“ sagte eine andere Stimme sanft.

[846] „Ach, das ist der Muckerdiaconus, der schlimmste Seelenhetzer der ganzen Residenz – die Beiden kommen eben aus der Andacht, man hört es! Für die ist das Feuerunglück in der Karolinenlust das größte Gaudium,“ flüsterte Charlotte.

„Bruder Eckhof weiß recht gut, daß der Herr in unseren Zeiten seine Strafen nicht mehr so direct vom Himmel niederschickt, wie ehemals,“ fuhr die Stimme fort. „Aber sein Walten bleibt immer ein sichtbarliches – es kommt nur darauf an, daß wir es verstehen. … Ja, Herr Claudius, es schmerzt mich in der Seele, daß Sie so heimgesucht worden sind, aber, ich kann nicht umhin, den Herrn zu preisen, der in seiner unerschöpflichen Gnade so deutlich zu Ihnen spricht. … Er hat es in seiner Weisheit und Gerechtigkeit geschehen lassen, daß die heidnischen Gräuel – ich habe eben gesehen, daß diese sogenannten Wunderwerke vom Rauch geschwärzt und zertrümmert draußen im Garten liegen – vertilgt wurden –“

Er kam nicht zu Ende mit seinem Zelotensermon – denn Herr Claudius öffnete, ohne noch ein Wort zu verlieren, die Thür meines Wohnzimmers, und ich hörte ihn drüben eintreten. Der Arzt ging zu ihm. Herr Claudius stand neben der Lampe, die auf dem Tische brannte und sein Gesicht hell beleuchtete – er drückte noch in der eigenthümlichen Weise mit der Rechten den linken Arm gegen die Brust. Ich sah von meinem dunklen Platz aus, wie sich seine Züge bei dem geflüsterten Bericht des Arztes sehr verdüsterten.

„Sie leiden auch, Herr Claudius,“ hörte ich schließlich den Doctor lauter zu ihm sagen.

„Ich habe mir den Arm verletzt,“ versetzte Herr Claudius ruhig, „und werde mich nachher im Vorderhause Ihren Händen überliefern.“

„Ist recht – und die Augen werden wir auch für einige Zeit in ein dunkles Verließ stecken müssen, wie ich bemerke,“ sagte der Doctor bedeutsam.

„Still, still – Sie wissen, das ist der Punkt, wo ich verwundbar bin, wo Sie mir bange machen können!“

Mir stockten die Pulse – wenn er blind wurde? … Ich meinte, so viel Jammer und Elend sei noch nie über ein Menschenherz hereingebrochen, wie heute über das meine.

Charlotte erhob sich rasch und ging hinüber. Fast zugleich wurde die Thür meines Wohnzimmers aufgerissen und hastige Männerschritte kamen herein.

„Herr Claudius, Herr Claudius! … O, über diese Verruchtheit!“ hörte ich den alten Buchhalter stöhnen. Er kam in das Bereich meiner Blicke – wie weggewischt war alle Salbung, das breit wohlgefällige Gepräge eines frommen, heiligen Wandels vor Gott und den Menschen aus diesem fassungslosen, verstörten Gesicht.

Herr Claudius winkte ihm mit der Hand, seine Stimme zu mäßigen, aber er war viel zu aufgeregt, um diese Bewegung zu beachten.

„Mir, mir das!“ rief er grimmig, in tiefster Indignation. „Herr Claudius, ein Elender hat die allgemeine Verwirrung beim Brande benutzt, ist in meine Wohnung eingebrochen, und hat mir eine Cassette mit meinen geringen Ersparnissen geraubt. … Ach, ich kann mich kaum auf den Füßen halten! Ich bin dermaßen alterirt – geben Sie Acht, das ist mein Tod!“

„Das ist unchristlich und sündhaft gesprochen,“ verwies ihm der Diaconus sanft den heftigen Ausbruch. „Bedenken Sie, daß es sich um irdischen Mammon handelt. … Uebrigens ist ja die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, daß der Verbrecher entdeckt wird, und Sie wieder zu Ihrem Gelde kommen – und wenn nicht, nun, dann heißt es ja: ‚Es ist leichter, daß ein Kameel durch ein Nadelöhr gehe, denn daß ein Reicher in das Reich Gottes komme.‘“ – Ich sah deutlich, wie er dabei Herrn Claudius fixirte. – „Ist das nicht ein köstlicher Trost für Den, der durch den Verlust der irdischen Habe heimgesucht wird?“

„Aber in der Cassette waren ja auch die tausend Thaler Missionsgelder, die in diesen Tagen abgeschickt werden sollten!“ ächzte verzweiflungsvoll der Buchhalter, und fuhr sich mit beiden Händen an den sauber frisirten Kopf.

Jetzt war die Reihe zu erschrecken an dem Herrn Diaconus.

„O, das ist freilich sehr, sehr fatal, lieber Herr Eckhof!“ rief er bestürzt. „Aber ich bitte Sie, wie konnten Sie auch diese Ihnen anvertrauten Gelder so – verzeihen Sie – so unverantwortlich leichtsinnig verwahren? Sie wissen doch, daß an jedem Groschen das Seelenheil Anderer hängt! … Was sollen wir nun anfangen? … Das Geld muß in diesen Tagen abgeliefert werden. Unser Verein gilt als ein Muster von Pünktlichkeit, er darf seinen Ruf um Ihretwillen nicht einbüßen – das werden Sie doch einsehen. … Es thut mir unsäglich leid, aber ich kann Ihnen mit dem besten Willen nicht helfen, Sie müssen das Geld zu der festgesetzten Frist schaffen!“

„O mein Gott, wie soll ich denn das ermöglichen? Ich bin augenblicklich ein Bettler!“ – Er hielt seine weißen, vollen Hände gegen die Lampe. – „Nicht einmal über meinen Brillantring, das kostbare Geschenk meines vormaligen Chefs, habe ich zu verfügen, er lag auch in der Cassette – ich thue stets den eitlen, weltlichen Schmuck von mir, wenn ich zur Andacht gehe. O Du mein Herr und Gott, womit habe ich, Dein getreuster Knecht, dieses Schicksal verdient!“

Der Diaconus trat ihm näher und legte tröstend die Hand auf seinen Arm. „Nun, nun, verzweifeln Sie nicht, mein lieber Herr Eckhof. … Die Sache ist allerdings ernst genug, und man kann sie nicht schwer genug auffassen; aber ich will Ihnen sagen – wer, wie Sie, solch einen mächtigen Gönner hat, der darf schon muthig sein! … Herr Claudius ist ein edler Mann, ein reicher Mann; für ihn ist es eine Kleinigkeit, Abhülfe in Ihrer Bedrängniß zu schaffen. Er riskirt ja Nichts dabei – er hat Sie und Ihren Gehalt in den Händen und kann sich leicht durch Abzüge bezahlt machen.“

„Das werde ich mir denn doch sehr überlegen, Herr Diaconus,“ sagte Herr Claudius ruhig. „Einmal lasse ich mich grundsätzlich auf derartige Abzüge niemals ein, und dann – Sie haben vorhin behauptet, der Allmächtige habe es in seiner Weisheit und Gerechtigkeit geschehen lassen, daß die schönsten Denkmäler des edlen von ihm erschaffenen Menschengeistes, die Blüthen einer herrlichen Cultur, elend umgekommen sind – nun denn, ich will mich auch einmal auf den Standpunkt der Gläubigen stellen, will in ihrer anmaßenden und einseitigen Weise das göttliche Walten auslegen und denken, der Herr habe es in seiner Weisheit und Gerechtigkeit geschehen lassen, daß das Geld abhanden gekommen ist, mit welchem eine Heidenseele – tausend Thaler kostet ja wohl solch ein zweifelhaft Bekehrter? – in das Christenthum hineingepreßt werden sollte – er habe ferner Ihnen, Herr Eckhof, die Lehre geben wollen, wie die Kirche, der Sie selbst das Heiligste, die Familie, geopfert haben, in Geldsachen die unerbittlichste Gläubigerin ist.“

Er sah stolz und gelassen über die Schulter nach dem kleinen Diaconus hin, der giftig auf ihn zusprang. „Wir müssen unerbittlich sein – es ist unsere heilige Pflicht,“ eiferte er. „Wo käme die Kirche hin, wenn wir nicht als treue Wächter Zions sammelten und sparten und wirkten, so lange es Tag ist. … Und je saurer die Scherflein geworden, je mehr Schweiß und Blut der Arbeit und Armuth daran hängen, desto wohlgefälliger sieht sie der Herr an. … Sie sind ja Einer der Unseren, Herr Eckhof, Sie wissen, welchen Gesetzen wir uns unterwerfen müssen, und werden Alles aufbieten, das Geld herbeizuschaffen. … Ich wasche meine Hände! Ich habe mehr als meine Schuldigkeit gethan – ich habe mich vor den Ungläubigen erniedrigt!“

Er schritt mit steifem Nacken der Thür zu.

Da stand plötzlich Frau Helldorf neben ihrem in sich zusammengesunkenen Vater.

„Vater,“ sagte sie mit bebender Stimme. „Ich kann Dir helfen. Du weißt, ich habe siebenhundert Thaler von der seligen Mutter, und das Uebrige giebt mir ganz gewiß mein Schwager, der sich ein kleines Capital erspart hat.“

Eckhof fuhr herum, als seien diese lieblichen Töne niederschmetternd und zermalmend, wie der Donner des jüngsten Gerichts. Er sah wie versteinert in das Gesicht seiner Tochter, dann aber stieß er mit den Händen nach ihr.

„Fort, fort mit Dir! Ich will Dein Geld nicht!“ schrie er auf und taumelte dem Diaconus nach, zur Thür hinaus.

„Seien Sie ruhig, neine Frau,“ tröstete Herr Claudius die Weinende. „Es hätte noch gefehlt, daß Sie Ihr letztes Scherflein in diesen unersättlichen Schlund würfen! … Ich war gezwungen, hart zu sein – dieser anmaßenden Kaste gegenüber kann man nicht streng genug auftreten. … Aber fassen Sie Muth – es soll noch Alles gut werden.“

[847] Während Alle entrüstet durcheinander sprachen, kam er herüber in das Krankenzimmer, wo ich im Halbdunkel neben dem Bett saß. Er bog sich lauschend über meinen Vater, der, unberührt von Allem, was um ihn her vorging, fort und fort eintönig murmelte.

„Er ist glücklich in seinen Phantasien, er ist im sonnigen Griechenland,“ flüsterte mir Herr Claudius nach einer Pause zu. … Er stand dicht neben mir – da griff ich mit beiden Händen rasch nach seiner Rechten und drückte sie an meine Lippen – mein Vergehen, meine einstige Rauhheit gegen ihn war gesühnt.

Er taumelte förmlich zurück – kein Wort kam über seine Lippen; aber er legte seine Hand auf meinen Scheitel, bog mir den Kopf in den Nacken, und sah mir tief und forschend in die Augen – ach, wie schwer lagen die Lider über seinen schönen, blauen Augensternen!

„Ist nun Alles gut zwischen uns, Lenore?“ fragte er endlich in halberstickten Lauten.

Ich neigte lebhaft bejahend den Kopf, ohne daran zu denken, daß ja noch das finstere Geheimniß zwischen uns lag.




31.

Mehrere Tage lang schwebte mein Vater zwischen Leben und Tod. Jener Anfall von Tobsucht, in Folge dessen er den Brand in der Karolinenlust verursacht, war nicht, wie ich gefürchtet, Wahnsinn, sondern der erste Paroxysmus einer nicht beachteten, schon seit Tagen in ihm wühlenden nervösen Krankheit gewesen. Die Gefahr, die über seinem Leben hing, konnte mir nicht verborgen bleiben, und so saß ich Tag und Nacht an seinem Bett und meinte in der alten trotzigen Weise, der Tod könne es gar nicht wagen, unter meinen stets wachen Augen den schwachen Lebensfunken auszulöschen. … Ob er sich vor der dräuenden Mädchenseele in der That gefürchtet, ich weiß es nicht – aber er ging vorüber, und nach einer Woche voll unaussprechlicher Angst erklärten die Aerzte den Kranken für gerettet. Außer Frau Helldorf stand mir noch eine tüchtige Wärterin zur Seite, und der Leibarzt des Herzogs, den Seine Hoheit selbst geschickt, blieb stundenlang in der Karolinenlust und wachte ängstlich über „das kostbare Leben des berühmten Gelehrten“. … Es erwies sich nun auch als eine sehr irrige Voraussetzung der guten Residenz K., daß die Münzenaffaire meinen Vater bei Hofe nothwendig stürzen müsse – nie war der Herzog liebevoller und theilnehmender gewesen, als während dieser schweren Zeit; täglich mehrere Male erschienen seine Boten um sich nach dem Ergehen des Kranken zu erkundigen, und mit ihnen stellte sich auch der mehr oder minder betreßte Lakaientroß der plötzlich wieder niederduckenden Hofcoterie ein.

Im Vorderhause hatte man auch ein Krankenzimmer einrichten müssen – ein dunkles, tief verhangenes. … Herr Claudius hatte sich bei dem verhängnißvollen Sturz eine schmerzvolle Ausrenkung des Armes zugezogen, dazu kam eine heftige, durch den erstickenden Rauch und die blendenden Flammen hervorgerufene Augenentzündung, die anfänglich den Arzt das Schlimmste befürchten ließ. Ich litt unbeschreiblich, denn ich durfte ihn ja nicht sehen. Wenn mich aber die Aerzte vom Krankenbett fort, in’s Freie hinaus scheuchten, um nur einmal wenigstens frische Luft zu schöpfen, dann lief ich in das Vorderhaus und ruhete nicht, bis Fräulein Fliedner herauskam und mir persönlich Bericht erstattete. … Inmitten seiner schweren Leiden vergaß er doch die kleine Lenore nicht. Die Fenstersimse und Blumentische in meinem Zimmer waren zu Veilchen-, Maiblumen- und Hyacinthenbeeten geworden – ich fühlte mich stets beim Eintritt in Frühlingsodem förmlich versinken. Der Leibarzt meinte, Haideprinzeßchen werde nächstens den poetischen Tod durch Blüthenduft sterben, und der alte Schäfer vertraute mir schmunzelnd, im Treibhause sähe es gräulich leer aus, und der Obergärtner schneide ein grimmiges Gesicht. Frau Helldorf, die Aerzte, die Wartefrau, wer sich ein wenig von der Lust der Krankenstube erholen wollte, der flüchtete in das köstlich ausgeschmückte Zimmer; nur eine Person sah es mit ungnädigen Augen an, und das war meine Tante Christine.

So lange mein Vater bewußtlos dalag, kam sie täglich herüber, mich zu besuchen. Ich muß gestehen, daß ich stets zitterte, wenn ich ihren leichten schwebenden Schritt hörte; ihr erstes Erscheinen am Krankenbett hatte mich tief niedergeschmettert. Mit der graziösesten Wendung ihres schönen Kopfes hatte sie mir bei Erblicken des verfallenen Leidensgesichtes rückhaltslos zugeflüstert: „Kind, mache Dich auf das Schlimmste gefaßt – er geht rasch seinem Ende entgegen.“ – Seitdem fürchtete ich sie; Groll und Verdruß aber stiegen in mir auf, als sie eines Tages in mein Zimmer kam.

„Gott, wie himmlisch!“ rief sie und schlug in ihre rosig weißen Hände. „Herz, Du mußt über bedeutende Nadelgelder zu verfügen haben, daß Du Dir einen solchen außerordentlichen Luxus erlauben kannst!“

„Ich habe die Blumen nicht gekauft – Herr Claudius hat das Zimmer ausschmücken lassen,“ sagte ich beleidigt, – ich, und Luxus treiben!

Sie fuhr herum, und ich sah zum ersten Mal, daß diese prachtvollen sanftmüthigen Augen Blicke, scharf wie Dolchspitzen, schießen konnten.

„Es ist Dein Zimmer, Lenore?“ fragte sie in schneidendem Tone.

Ich bejahte!

„Ach, Kindchen, dann ist es wohl ein Irrthum Deinerseits! Nun, nun, das ist sehr verzeihlich, Du bist ja noch ein Kind!“ meinte sie darauf gutmüthig lächelnd und strich mir mit ihrem sammetweichen Finger schäkernd über die Wange. „Schau, der alte Schäfer ist solch ein Blumennarr – er wird Dir das Stübchen so zum Ersticken vollgestopft haben – Schelm, mir scheint, Du hast bei ihm einen Stein im Brett! … Ein Mann, wie Herr Claudius, so ernst, und so sehr in eine unbeglückte Vergangenheit vertieft – ich weiß das ja durch Dich und Frau Helldorf –, kommt sicher nicht auf die Idee, solch ein kleines – na, nimm mir’s nicht übel, kleine Maus –, ein wunderkleines Backfischchen mit dem Flor seiner Treibhäuser förmlich zu überschütten.“

Ich schwieg und schluckte meinen Groll hinunter. Ihre Behauptungen hätten mich sehr niederschlagen können, denn es war ja nicht zu leugnen, neben ihr, der Junogestalt, war ich das unbedeutendste Geschöpfchen, das sich denken ließ – aber die Blumen waren doch von Herrn Claudius, ich wußte es genau, wenn ich auch die beseligende Gewißheit tief im Herzen versteckte. … Meine Tante betrat das Zimmer nicht wieder, sie versicherte, der einmalige kurze Aufenthalt in der „Treibhausluft“ habe ihr entsetzliche Kopfschmerzen verursacht. … Seltsam, daß es der schönen Frau mit der sanften Stimme und dem geschmeidigen Wesen nicht gelingen wollte, sich im Schweizerhäuschen einzuschmeicheln! Der alte Schäfer machte mir stets ein vorwurfsvolles Gesicht, wenn ich auf Tante Christine zu reden kam, und meinte, sein schönes sauberes Stübchen sähe zum Spectakel aus – die Dame rühre kein Staubtuch an, und scheine gar nicht zu wissen, wozu die Nägel an den Wänden seien – sie lasse die Kleider auf dem Fußboden liegen; und Frau Helldorf zürnte ernstlich, als sie eines Tages sah, wie ich meiner Tante Geld gab.

„Sie versündigen sich förmlich,“ sagte sie, als wir allein waren, „denn Sie unterstützen geflissentlich die Faulheit und Verschwendung. … Drüben stehen die Tische voll Naschwerk aller Art – die Frau sollte sich schämen, Austern und marinirten Aal zu essen, die Champagnerflaschen hinter dem Sopha stehen zu haben, und das Alles durch Sie bezahlen zu lassen! – Das können Sie unmöglich durchsetzen! … Mag sie doch mit Gesangsunterricht ihr Brod verdienen – ihr Stimme ist ausgesungen, aber sie hat eine brillante Schule.“

Zu meiner eigenen Beruhigung konnte ich ihr versichern, daß das jedenfalls auch geschehen werde; Tante Christine habe wiederholt gesagt, daß sie einen festen Plan verfolge. Sie bedürfe zu der Ausführung aber eines männlichen Rathes und Beistandes und habe gehofft, Beides bei meinem Vater zu finden; nun er sie jedoch so lieblos verstoßen, wolle sie warten, bis Herr Claudius genesen sei – nach Allem, was sie von diesem Manne höre, sei er am ersten im Stande, ihr für einen längern Aufenthalt in K. Rath und Unterstützung zu gewähren. Ich fand an der Idee nichts auszusetzen und ward ein klein wenig unwillig, als Frau Helldorf mit Kopfschütteln meinte, Herr Claudius werde sich schwerlich damit befassen, wenn er einmal der Dame in das geschminkte Gesicht gesehen habe.

Die kleine Frau war mir in der Leidenszeit unbeschreiblich [848] lieb geworden. Welches Opfer brachte sie, indem sie das Haus betrat, welches ihr unversöhnlicher Vater bewohnte! In völliger Flucht kam sie stets athemlos und mit heftig klopfendem Herzen an – die Furcht vor einer abermaligen Begegnung jagte sie. Die arme Verstoßene liebte trotz alledem ihren Vater innig und war tief bekümmert, als sie hörte, daß er seine gesammte Habe verpfändet habe, um die Missionsgelder herbeizuschaffen. Trotz aller Bemühungen war man dem Diebe nicht auf die Spnr gekommen. … Mir erschien der alte Buchhalter seltsam verändert; er grüßte mich jetzt bei jeder Begegnung und hatte sich sogar einige Male herbeigelassen, nach meinem kranken Vater zu fragen. Charlotte bestätigte meine Wahrnehmung; sie behauptete zornig, er gehe ihr und Dagobert aus dem Wege, „der alte Schwachkopf“ bereue entschieden, das Geheimniß seines Chefs verrathen zu haben, und werde schließlich – das sehe sie voraus – im entscheidenden Moment zu leugnen versuchen. … Das leidenschaftliche Mädchen litt unsagbar. Die Prinzessin war leidend, hielt sich seit jenem Abend fern von allem Geräusch des Hoflebens, und das Haus in der Mauerstraße schien für sie nicht mehr zu existiren. Was sollte nun geschehen? Mein abermaliger Vorschlag, Herrn Claudius selbst Alles zu sagen, wurde auch von Charlotte mit Entrüstung und der anzüglichen Bemerkung zurückgewiesen, der Blumenduft in meinem Zimmer umschmeichle und besteche mich. Ich schwieg von da ab auf alle Klagen.

Fünf Wochen waren seit dem Feuerunglück vergangen, und furchtbare Heimsuchung lag hinter mir. Mein Vater war längst außer Bett; er erholte sich auffallend rasch, war durch die Aerzte schonend von allen Vorgängen unterrichtet worden, und hatte sich zur Verwunderung Aller ziemlich schnell und leicht in die betrübende Thatsache gefunden, daß sein Manuscript Staub und Asche sei. Weit schmerzlicher berührte ihn die Nachricht, daß eine Anzahl kostbarer Bücher und Handschriften nicht habe gerettet werden können, daß die prachtvollsten Exemplare der antiken Thongefäße vernichtet seien, und wie man mit dem besten Willen das abgeschlagene Marmorhändchen des schlafenden Knaben nicht wieder aufzufinden vermöchte. Er vergoß Thränen des Schmerzes und konnte sich nur schwer darüber beruhigen, daß er der Welt und Herrn Claudius diesen nie zu ersetzenden Schaden zugefügt. Der Herzog besuchte ihn sehr oft; er wurde damit unmerklich wieder in das Fahrwasser seines gewohnten Denkens und Wirkens geleitet und hatte bereits zahllose Pläne und Entwürfe im Kopfe. … Mir begegnete er mit unbeschreiblicher Zärtlichkeit – das Unglück hatte Vater und Tochter eng verbunden – er mochte mich nicht mehr missen; trotzdem versicherte er mir oft und ernstlich, er werde mich mit Beginn des Frühjahrs auf vier Wochen in die Haide schicken – ich sei zu blaß geworden und müsse mich erholen.

Es war ein trüber Märznachmittag. Zum ersten Mal wieder seit fünf Wochen wollte ich in das Schweizerhäuschen gehen; meine Tante hatte mir in einigen Zeilen Vorwürfe gemacht, daß ich sie, nachdem mein Vater doch genesen, so consequent vernachlässige. In der Halle stürmte mir Charlotte entgegen. Ich erschrak vor ihr – solch einen wilden Triumph und Jubel hatte ich noch nie auf einem Menschenantlitz gesehen. Sie riß ein Papier aus der Tasche und hielt es mir unter die Augen.

„Da, Kind!“ keuchte sie athemlos. „Endlich, endlich geht die Sonne über mir auf! … Ah! –“ Sie breitete die Arme weit aus, als wolle sie die ganze Welt an ihre Brust ziehen. „Sehen Sie mich an, Kleine – so sieht das Glück aus! … Heute zum ersten Mal darf ich sagen: Meine Tante, die Prinzessin! … O, sie ist doch gut, ja, sie ist grenzenlos edel! So sich selbst überwinden kann eben doch nur – der Edelgeborene! … Sie schreibt mir, sie will mich sehen und sprechen – morgen soll ich mich bei ihr einfinden. Seien unsere Ansprüche begründet – ah, ich möchte den sehen, der so frech wäre, sie anzufechten! – dann werde Alles geschehen, uns in unsere Rechte einzusetzen – sie habe bereits mit dem Herzog darüber gesprochen – hören Sie? mit dem Herzog,“ sie ergriff meinen Arm und schüttelte mich, „wissen Sie auch, was das heißen will? Wir werden als die Kinder der Prinzessin Sidonie anerkannt werden und als Familienglieder in das souveräne Haus eintreten.“ …

Ein Schauer lief durch meinen Körper – die Entscheidung war da.

„Wollen Sie die Angelegenheit wirklich zur Sprache bringen, so lange Herr Claudius noch leidend ist?“ fragte ich mit unsicherer Stimme.

„Ah bah – er ist ja nicht mehr krank. Die dicksten Hüllen sind von seinen Fenstern gefallen; er trägt einen grünen Schirm und hält sich heute zum ersten Mal in den ein klein wenig verhangenen Salons neben meinem Zimmer auf. Er hat sich den Privatspaß gemacht, Eckhof zu seinem Geburtstag in einem allerliebsten kleinen Portemonnaie die tausend Thaler Missionsgelder zu bescheeren, damit er seine Habe wieder einlösen kann. Der Alte war dermaßen zerknirscht, daß ich Todesangst hatte, er werde dem Onkel zu Füßen fallen und seine Ausplauderei uns gegenüber beichten – zum Glück fand er vor Rührung keine Worte. … Uebrigens bin ich hart geworden, hart wie ein Kieselstein – ich habe zu furchtbar gelitten in den letzten Wochen; auch von Dagobert mußte ich von früh bis spät die maßlosesten Vorwürfe über ‚das plumpe Anfassen der Sache‘ hören. … Ich kenne keine Rücksicht mehr; und wenn in dieser Stunde noch der Onkel vor die Schranken gefordert würde – ich rührte keinen Finger, es zu verhindern!“

Sie begleitete mich bis an die Gartenthür, dann sah ich sie wie einen Pfeil bergauf in das blätterlose Dickicht hineinstiegen – das Glücksgefühl, das ihr die Brust fast zersprengte, trieb sie auf den Berggipfel, von wo aus sie in die schrankenlos weite Welt hineinjubeln konnte, und ich wäre am liebsten umgekehrt und hätte mich in den dunkelsten Winkel der Karolinenlust verkrochen, um mein unsägliches Bangen, meinen Schmerz um Herrn Claudius, zu verbergen.

Ich schlüpfte vorläufig an Tante Christinens Zimmer vorüber – zu meinem Befremden scholl Hundegekläff heraus – und ging in das obere Stockwerk. In Helldorf’s Familienstube hatten sich stets meine stürmisch klopfenden Pulse gesänftigt. … Lauter Jubel empfing mich. Herr Helldorf streckte mir beide Hände entgegen, Gretchen umschlang meine Kniee, und der kleine Hermann saß auf dem Fußboden und krähte und strampelte mit beiden Beinchen und wollte genommen sein. Die kleine Frau aber nahm flugs die Kaffeemaschine aus dem Schrank, holte ein ganz speciell für mich aufbewahrtes Stück Kuchen herbei, und bald darauf saßen wir um den trauten Familientisch. … Dann und wann unterbrach eine kühne Coloratur – perlenreine Läufer und Triller – unsere Plauderei – Tante Christine sang, oder trällerte vielmehr drunten; das klang wundervoll; so oft sie aber einen Ton fest anschlug und aushielt, da that mir das Herz weh – die Stimme, die einst wohl von hinreißendem Klang gewesen sein mochte, war total gebrochen.

„Die Frau da unten muß sobald wie möglich einen Wirkungskreis erhalten – sie führt ein wahres Schlaraffenleben,“ sagte Herr Helldorf mit leichtem Stirnrunzeln. „Ihre Schule ist ganz vortrefflich, und ich habe mich erboten, ihr Schülerinnen zu verschaffen – sie kann sehr viel Geld verdienen, wenn sie will. Aber den Hochmuthsblick, das höhnische Lächeln, mit welchem sie mir ‚für gütige Protection‘ dankte, werde ich nie vergessen. Seitdem hat sie sich hier oben nicht wieder blicken lassen.“

„Blanche bellt – es kömmt Jemand, Mama,“ sagte Gretchen.

„Ja, Blanche – das ist auch ein neuer Bewohner im Schweizerhäuschen, der Ihnen vorgestellt werden wird, Lenore,“ meinte lächelnd Frau Helldorf. „Die Tante hat sich vorgestern einen reizenden, kleinen Seidenpinscher gekauft – Schäfer ist außer sich, er will das boshafte Thier nicht dulden.“ –

Sie schwieg plötzlich und horchte – starke Männerschritte kamen die Treppe herauf, schritten über den Vorsaal und verharrten da einen Augenblick. Frau Helldorf’s Gesicht war schneebleich geworden; sie stand da mit zurückgehaltenem Athem, starr wie eine Statue, und als sei es ihr unmöglich, auch nur einen Fuß nach der Thür zu bewegen, um sie zu öffnen. Da legte sich draußen eine Hand auf den Drücker, die Thür that sich auf, und ein hoher, stattlicher Mann trat zögernd auf die Schwelle.

„Vater!“ schrie die junge Frau – es war ein Schrei, schwankend zwischen herzzerreißendem Schluchzen und wonnevollem Jauchzen. Eckhof fing die Taumelnde in seinen Armen auf und drückte sie an seine Brust.

„Ich bin hart gewesen, Anna – vergiß es,“ sagte er mit schwankender Stimme.

„Sie hatte keine Antwort – sie vergrub nur immer tiefer [849] das Gesicht an der Brust, von der sie so lange verstoßen gewesen. … Seinem Schwiegersohn reichte der alte Mann wortlos die Rechte hin; Helldorf schlug feuchten Auges kräftig ein und hielt sie einen Augenblick fest.

„Ich will Dir auch ein Händchen geben, Großpapa,“ sagte Gretchen und reckte sich auf den Zehen an der hohen Gestalt des Großvaters empor.

Die süße Kinderstimme machte die junge Frau endlich aufsehen. Sie sprang zu ihrem Knaben, nahm ihn vom Boden auf und hielt ihn dem Großpapa hin. „Küsse ihn, Vater!“ sagte sie immer noch zwischen Lachen und Weinen schwankend. „Gretchen kennst Du, den Jungen aber noch nicht. … Denke nur, er hat die großen, blauen Augen der seligen Mutter – o Vater!“ Sie schlang auf’s Neue den linken Arm um seinen Hals.

Hier hatte ich die Thür erreicht und schlüpfte geräuschlos hinaus. So heimisch ich auch in der Familie Helldorf war, jetzt, wo sich die tiefe Kluft schloß, die zwischen Vater und Tochter gelegen, jetzt gehörte ich nicht in den kleinen Kreis – den Reuigen durfte in dieser Weihestunde kein fremder Blick treffen. Aber in meiner Seele war es sonnig hell geworden – so hell, wie droben im Stübchen der glücklichen Menschen, wo wunderbarer Weise in dem Augenblick, als ich hinausschlüpfen wollte, ein einzelner blasser Abendsonnenstrahl vom trüben Märzhimmel niedersank und über die stumm dreinschauenden Familienbilder an der Wand hinglitt, als sollten auch sie aufleben und mitfühlen die Wonne der Versöhnung. …

Meine Tante lag auf dem Sopha, als ich in ihr Zimmer trat. Mit wüthendem Gekläff fiel mich die kleine Furie Blanche an und grub ihre Zähne in meine Kleider – ich gab ihr einen leichten Schlag auf den Kopf, worauf sie knurrend auf den Schooß ihrer Herrin flüchtete.

„Ach nein, Lenore, schlagen darfst Du meinen kleinen Liebling nicht!“ rief mir Tante Christine halb bittend, halb schmollend zu. „Siehst Du, nun ist Dir Blanche gram, und Du wirst Noth und Mühe haben, ihr Herzchen wieder zu gewinnen.“

Ich meinte innerlich, daß ich mir diese Noth und Mühe sicher nie machen würde.

„Schau, ist’s nicht ein reizendes Geschöpf?“ – Sie strich mit zärtlicher Hand dem in der That wunderhübschen Thierchen die langen seidenen Haarsträhne aus den klugen Augen. „Und denke Dir, um einen Spottpreis bin ich dazu gekommen. Der Mann, der es verkaufte, war in Noth – vier Thaler habe ich dafür gegeben, ist das nicht geradezu geschenkt?“

In meiner tiefen Betroffenheit brachte ich kein Wort über die Lippen – neulich hatte ich meine Casse redlich mit Tante Christine getheilt – sie hatte acht Thaler bekommen.

„Ich besaß früher auch schon einmal solch einen Seidenpinscher – ein wahres Prachtexemplar – er war ein Geschenk des Grafen Stettenheim und kostete mehr Louisd’or, als der Kleine hier Thaler. … Es ließ sich kein schönerer Anblick denken, als dieses blaßgelb glänzende Geschöpfchen auf seinem blauseidenen Kissen. … Das arme Ding ist schließlich an einem Rebhuhnflügel erstickt.“

Das Alles plauderte sie mit lächelndem Munde. Noch vertieften sich die schönsten Grübchen in ihren Wangen bei diesem Lächeln, und ich mußte immer und immer wieder auf die feinen, gleichmäßig geformten Zähnchen sehen, die perlmutterweiß zwischen den rothen Lippen blinkten. Der Kopf der schönen Frau war tadellos frisirt – ihr Anzug dagegen erschreckte mich förmlich. Ein abgenutzter, violetter Schlafrock voller Flecken hing lose um die geschmeidigen Glieder, und aus der Oeffnung über der Brust und den Löchern am Ellenbogen kam ungenirt ein Nachthemd von sehr zweifelhafter Weiße. Mit dieser Toilette harmonirte die ganze Umgebung. Mitten im Zimmer, auf den Dielen lag ein Paar niedergetretener, unsauberer, weißer Atlasschuhe, die jedenfalls zu Schlafschuhen und zeitweise zu Blanche’s Spielzeug degradirt waren. Die ehemals so glänzenden Platten der Tische und Commoden deckte eine undurchdringliche Staublage, und hinter dem Bettvorhang lagen Kisten und Kleidungsstücke unordentlich durcheinander – dagegen war die Luft mit dem feinsten, lieblichsten Veilchenparfüm erfüllt.

„Gelt, Du findest meine Umgebung auch grenzenlos vernachlässigt?“ fragte sie, meinen Blick auffangend. „Ich habe Dir drüben bei meinen Besuchen nicht auch noch vorklagen und das Herz schwer machen wollen – Du trägst ohnehin Last genug auf Deinen kleinen Schultern. Aber nun darf ich Dir’s ja sagen, daß ich mich hier, zwischen diesen vier Pfählen, namenlos unglücklich fühle. … Schäfer ist ein Erznarr – solch ein Mensch hat nicht die blasse Ahnung, was eine Frau wie ich, so von Gott und aller Welt auf den Händen getragen, verzogen und verhätschelt, zu beanspruchen gewohnt ist. Statt mir, wie es sich bei jeder Miethwohnung von selbst versteht, jeden Tag für ein gereinigtes Zimmer zu sorgen, verlangt er lächerlicherweise von mir, daß ich seine Möbel abstaube und den Besen in die Hand nehme – da kann er warten!“

Sie griff in ein Porcellankörbchen voll Krachmandeln und Messinatrauben und fing an, Mandeln aufzuknacken.

„Nimm Dir doch auch,“ sagte sie zu mir, indem sie Blanche eine der süßen Beeren hinreichte. „Es ist freilich wenig, womit ich Dir aufwarten kann; allein ein Schelm giebt mehr, als er hat. … Es wird auch einmal wieder besser, und dann sollst Du sehen, was für reizende Diners ich arrangiren kann. … Apropos, um wieder auf Schäfer zu kommen! … Der alte sanfte Scheinheilige kann auch recht flegelhaft werden. Denke Dir nur, als ich vorgestern Blanche kaufe und dem Mann das Geld hinzähle, mahnt er mich doch unverschämter Weise und verlangt, ich solle ihm erst die rückständige Monatsmiethe und seine Auslagen für Feuerung und Licht während meines Hierseins zahlen. … Gelt, das geht mich doch nichts an, Herzchen? … Du hast mich doch eingemiethet.“

Mich überlief es siedendheiß vor Angst – wo sollte das hinaus? Und wenn ich von früh bis spät für Herrn Claudius schrieb, den Unterhalt für die Tante konnte ich unmöglich bestreiten. … Ilse’s Gesicht tauchte vor mir auf – wie oft hatte ich die alte, treue Seele in meinem Inneren hart und unerbittlich gescholten, weil sie aus allen Kräften eine Annäherung zwischen Tante Christine und mir zu verhindern suchte – jetzt steckte ich in der Klemme und büßte.

„Tante, ich muß Dir offen sagen, daß meine Geldmittel sehr gering sind,“ versetzte ich in großer Verlegenheit, aber dennoch unumwunden. „Ich will ganz aufrichtig gegen Dich sein, und Dir Etwas mittheilen, das mein Vater nicht einmal weiß – das Wirthschaftsgeld verdiene ich fast allein durch Beschreiben der Samendüten für Herrn Claudius.“

Zuerst sah sie mich starr und zweifelhaft an, dann brach sie in ein unauslöschliches Gelächter aus. „Also so poetischer Art sind Eure Beziehungen zu einander? … Das ist gottvoll! Und ich bin so kindisch gewesen, einen Augenblick zu fürchten – Na, Kleine,“ unterbrach sie sich selbst fröhlich, „das hört auf, wenn sich meine Lage eines Tages ändern wird, darauf kannst Du Dich verlassen! Dann leide ich’s nicht! … Fi donc, wie hausbacken! … Da solltest Du ’mal sehen, wie ich mich zu dem Manne stellen würde! … Abschreiben, das ist ja freilich ein saurer Erwerb, und ich kann unmöglich länger aus Deiner Börse leben! … Aber was anfangen? … Kind, ich zähle die Stunden bis zu dem Moment, wo es heißen wird, dieser Herr Claudius sei genesen und endlich einmal zu sprechen!“

„Er hat heute zum ersten Male das Krankenzimmer verlassen.“

„Himmel! Und das sagst Du mir jetzt erst?“ Sie fuhr aus ihrer halb liegenden Stellung empor. „Weißt Du nicht, daß Du mit jedem verlorenen Augenblicke mein Lebensglück verzögerst? Habe ich Dir nicht oft genug gesagt, wie ich diesem Ehrenmanne meine Zukunft in die Hände legen und von seinem Rath und Urtheil mein Wohl und Wehe abhängig machen will?“

„Ich glaube, er wird Dir auch nicht anders und nicht besser rathen können als Herr Helldorf, liebe Tante,“ sagte ich. „Herr Claudius hält sich sehr fern von der Gesellschaft, während Helldorf als Lehrer in den ersten Familien Zutritt hat. Er sagte mir vorhin selbst, Du würdest sehr viel Geld verdienen können, wenn –“

„Ich bitte,“ unterbrach sie mich eisigkalt, „behalte Deine Weisheit für Dich! … Es ist meine Sache, in welcher Art und Weise ich mir Bahn brechen will, und ich muß Dir offen gestehen, daß mir durchaus nichts daran liegt, mit den Leuten da oben in irgend eine Beziehung zu treten, geschweige denn, mir auch nur die allergeringste Verbindlichkeit ihnen gegenüber aufzuladen. … Das sind solche spießbürgerliche Bekanntschaften, die [850] Einem später wie Blei anhängen, und – enfin, Kind, sie stehen der Sphäre ewig fern, in der ich zu leben gewohnt bin! … Und nun bitte ich Dich wiederholt dringend, Alles aufzubieten, um mir eine Besprechung mit Herrn Claudius zu verschaffen.“

Ich stand auf, und sie glitt vom Sopha nieder und huschte in die Atlasschuhe, bei welcher Gelegenheit ich sah, daß ihre schlank gebauten Füße in fleischfarbenen seidenen Strümpfen steckten.

„Ach, Du kleine Maus da unten!“ lachte sie fröhlich auf und strich, ihre schlanke Gestalt hoch aufreckend, mit dem ausgestreckten Arme über meinen Scheitel hin. Wir standen gerade vor dem Spiegel, unwillkürlich sah ich in das Glas – mein bronzefarbener Creolenteint, wenn auch vollkommen fleckenlos und jugendfrisch, stach dennoch unvortheilhaft ab von den Pfirsichwangen und der glänzend weißen Stirn meiner Tante; aber ich sah auch heute zum ersten Male den widrigen Lack deutlich, der in einer dicken Lage das vierzigjährige Gesicht dort deckte. Ich schämte mich in ihre Seele hinein, wenn ich dachte, daß Herrn Claudius’ scharfer, strenger Blick dieselbe Bemerkung machen könne; aber so oft ich auch die Lippen öffnete, sie zu bitten, mit dem Taschentuch ein wenig mildernd über das Gesicht zu wischen, ich brachte dennoch kein Wort heraus, um so weniger, als sie mich eben eine kleine bräunliche Haselnuß nannte und sich über „diese sammtene Zigeunerhaut“ höchlich verwunderte, da doch die Jakobsohns, wie sie in Figura noch zeige, stets mit einem lilienweißen Teint begnadet gewesen seien.

Ich entzog mich ihren streichelnden Händen und verließ das Zimmer mit der Versicherung, daß ich direct zu Fräulein Fliedner gehen und mit ihr über die zu ermöglichende Besprechung berathen wolle.

Mit einem inbrünstigen Kuß wurde ich entlassen.

[861]
32.

„Meine liebe, kleine Lenore, das Allergescheidteste wäre, mit Herrn Claudius selbst zu verhandeln,“ unterbrach mich die alte Dame lächelnd, als ich mit meiner Mission kaum zur Hälfte herausgerückt war.

„Ist er denn zu sprechen?“ fragte ich beklommen.

„Ei freilich, für Alle. … Gehen Sie nur hinauf in den ersten Salon, wo Lothar’s Bild hängt – es sind heute schon Viele droben gewesen – der Salon ist vorläufig Geschäftszimmer.“

Ich stieg hinauf. Vor der Thür aber verharrte ich einen Augenblick und preßte die Hände auf das Herz – ich meinte, ich müsse an dem stürmischen Klopfen ersticken. Dann trat ich leisen Schrittes ein. Das Zimmer war nicht so dunkel verhangen, als ich geglaubt hatte. Die Fenster waren mit grünen Stoffen umhüllt, die einen sanften wohlthuenden Schein verbreiteten. Herr Claudius saß mit dem Rücken nach mir zu in einem Fauteuil und hatte den Kopf an die Lehne zurückgelegt – ein grüner Schirm bedeckte seine Augen. … Er schien nicht zu bemerken, daß Jemand eingetreten war, oder meinte vielleicht, es sei Fräulein Fliedner, denn er veränderte seine Stellung nicht im Geringsten.

Ach, nun war ja mein tiefster, heißester Wunsch erfüllt – ich sah ihn wieder!

Sprechen konnte ich nicht – ich fürchtete mich unsäglich vor dem ersten Laut meiner Stimme in dem stillen Zimmer. Fast unhörhar trat ich näher und ergriff zaghaft seine linke Hand, die über die Armlehne des Stuhles herabhing. … Noch verharrte der blonde Kopf in seiner vollkommen ruhigen Lage, aber blitzschnell kam auch die Rechte herüber, und ich fühlte mich plötzlich gefangen.

„Ach, ich weiß, wem die kleine, braune Hand gehört, die da so furchtsam zwischen meinen Fingern aufzuckt, wie ein ängstlich schlagendes Vogelherz,“ rief er, ohne sich zu bewegen. „Habe ich doch gehört, wie es die Treppe heraufgehüpft kam, und aus den verschiedenen Tempi der Schritte klang es deutlich: ‚Gehst Du hinein, oder nicht? Soll das Mitleid mit dem armen Gefangenen siegen, oder der alte Trotz, der wartet, bis er seinen Kerker verläßt und zu mir kömmt?‘ –“

„O Herr Claudius,“ unterbrach ich ihn, „trotzig bin ich nicht gewesen!“

Jetzt wandte er mir rasch das Gesicht zu, ohne meine Hand loszulassen.

„Nein, nein, Sie waren es auch nicht, Lenore,“ sagte er in verschleierten Tönen, „ich weiß es. … Meine Umgebung ahnt nicht, weshalb ich gerade in der Dämmerstunde stets so unduldsam gegen jegliches Geräusch war und die allertiefste Stille gebieterisch forderte. Um diese Stunde hörte ich mit Geisterohren, oder auch nur mit dem sehnsüchtigen Herzen – denn ich wußte genau, wann die leichten Mädchenfüße die Karolinenlust verließen, ich verfolgte jeden Schritt durch die Gärten und die Treppe herauf und wartete mit Inbrunst auf das halbgeflüsterte: ‚Wie geht es ihm? Hat er viele Schmerzen?‘ – Das klang nichts weniger als trotzig. … Und dann sah ich, wie die wilden Locken mit der wohlbekannten Bewegung von der Stirn zurückgeschüttelt wurden, und die großen, lieben, bösen Augen weit aufgeschlagen an Fräulein Fliedner’s berichtenden Lippen hingen.“ …

Ich vergaß Alles, was zwischen uns lag, und gab mich der Macht des Augenblickes widerstandlos hin.

„Ach, sie verstand mich nicht so gut,“ sagte ich rasch und unbedenklich. „Ich habe sehnlich gewünscht, sie möchte mich einmal, nur ein einziges Mal zu Ihnen führen. Ich wäre ruhiger geworden, hätte ich in Ihre armen Augen sehen dürfen, und Sie hätten mir gesagt: ‚Ich sehe Sie!‘ … Bitte, nur einmal heben Sie den Schirm!“

Er sprang auf, nahm den Schirm ab und warf ihn auf den Tisch. Seine schlanke Figur stand so hoch, elastisch und ungebeugt vor mir, wie immer.

„Nun denn, ich sehe Sie!“ versetzte er lächelnd. „Ich sehe, wie die kleine Lenore in den fünf langen Wochen nicht um eine Linie gewachsen ist und mir noch immer mit dem lockigen Scheitel genau bis an das Herz reicht. Ich sehe eben, daß der Kopf noch immer so trotzig und empört zurückgeworfen wird, wie ehedem – freilich, was können Sie dazu, daß die Natur auch einmal ein wunderkleines Feenkind unter ihren Erschaffenen sehen wollte! Ich sehe ferner, daß das braune Gesichtchen blaß geworden ist, blaß von Schrecken, Kummer und Nachtwachen. … Arme Lenore, wir haben viel gut zu machen – Ihr Vater und ich!“

Er ergriff meine Hand und wollte mich sanft an sich ziehen; das brachte mich plötzlich zur Besinnung und überfluthete mein Herz mit der ganzen Qual des bösen Bewußtseins.

[862] Ich riß mich los. „Nein,“ rief ich, „seien Sie nicht gut gegen mich – ich habe es nicht um Sie verdient! … Wenn Sie wüßten, was für ein abscheuliches Geschöpf ich bin, wie hinterlistig, falsch und grausam ich sein kann, Sie stießen mich aus Ihrem Hause –“

„Lenore –“

Ich floh vor ihm nach der Thür. „Nennen Sie mich nicht Lenore. … Ich will tausendmal lieber hören, daß Sie mich wild, trotzig und ungeberdig schelten, daß Sie mich als unweiblich streng verurteilen – nur sagen Sie nicht so weich und gut meinen Namen! Ich habe Ihnen unsäglich wehe gethan, Ihnen Böses zugefügt, wo ich immer konnte. Ich habe Ihre Ehre angegriffen und mit Ihren Gegnern Gemeinschaft gemacht – Sie werden mir nie verzeihen, nie! Ich weiß das so genau, daß ich nicht einmal zu bitten wage!“ –

Tastend erfaßte ich das Thürschloß. Er stand sofort neben mir.

„Meinen Sie wirklich, ich ließe Sie in diesem Zustand der heftigsten Aufregung von mir gehen? Mit diesen bleichen, bebenden Lippen, die mir Angst machen?“ sagte er und schob sanft meine Hand vom Schloß nieder. „Bemühen Sie sich, ruhiger zu werden, und hören Sie mich an. … Sie kamen als völlig unberührte und ungeschulte Natur hierher und sahen mit den unschuldigsten Kinderaugen in die Welt. Ich klage mich schwer an, daß ich damals nicht sofort mein Haus von den bösen Elementen säuberte, obwohl ich in der ersten Stunde wußte, daß ein Wendepunkt in meinem Leben eintrete und Alles anders werden müsse. … Es ist wahr, Ihr so deutlich ausgesprochener Widerwille gegen mich ließ mich resigniren; ich war zu stolz, um immer wieder zu vergessen, und beschränkte mich auf die warnende Stimme – ich zögerte zu lange, das zu thun, was unbarmherzig aussah und doch das Richtige war – für Sie und Charlotte zusammen war kein Raum in meinem Hause – sie mußte weichen! … Was nun auch geschehen sein mag, was Sie mir auch angethan haben mögen in blöder Verkennung der Verhältnisse, es bedarf nicht einmal des verzeihenden Wortes – ich trage so viel Schuld wie Sie. … Sie können mir überhaupt nur in einem Sinn wirklichen Schmerz zufügen, das ist, wenn Sie sich – wie schon so oft geschehen – kalt und abweisend von mir wenden – nein, nein, das kann ich nicht sehen!“ unterbrach er sich selbst tief erregt, als ich in ein heftiges Weinen ausbrach. – „Wenn Sie denn durchaus weinen müssen, dann darf es fortan nur hier geschehen.“ Er zog mich an sich heran und legte meinen Kopf an seine Brust. „So – und nun beichten Sie getrost – ich hefte meine Augen dort auf den Vorhang und höre mit halbabgewendetem Ohr.“

„Ich darf ja nicht sprechen,“ sagte ich leise. „Wie froh wäre ich, wenn ich Ihnen Alles sagen dürfte! Aber die Zeit muß ja einmal kommen, und dann … Eines aber sollen Sie jetzt schon wissen, denn das habe ich ganz allein verübt – ich habe Sie bei Hofe verlästert, ich habe gesagt, Sie seien ein eiskalter Zahlenmensch, ein Besserwisser –“

Ich bemerkte, wie er in sich hineinlachte. „Ach, solch eine bitterböse Zunge ist die kleine Lenore?“ sagte er.

Aengstlich hob ich den Kopf und schob den Arm zurück, der mich umfaßt hielt. „Denken Sie ja nicht, daß Alles, was ich Ihnen angethan auf kindisches Geschwätz hinausläuft!“ rief ich.

„Das denke ich ja auch gar nicht,“ beschwichtigte er, während noch immer ein köstliches Lächeln um seine Lippen huschte. „Ich will alle die schlimmen Entdeckungen an mich herankommen lassen und geduldig abwarten – dann werde ich Ihr Richter sein; beruhigt Sie das?“

Ich bejahte.

„Dann aber müssen Sie sich auch bedingungslos dem Spruch unterwerfen, den ich fälle.“

Tief aufathmend sagte ich: „Das will ich gern.“

Und nun trocknete ich meine Thränen und begann von meiner Tante zu sprechen.

„Ich habe schon durch Fräulein Fliedner von dem seltsamen Gast gehört, der sich unter die Flügel der unbesonnenen kleinen Haidelerche geflüchtet hat,“ fiel er mir nach einer Weile in das Wort. „Ist sie die Frau, der Sie das Geld geschickt haben?“

„Ja.“

„Hm – das ist mir nicht lieb. Ich vertraue Frau Ilse unbedingt, und sie war sehr schlimm auf diese Tante zu sprechen. Wie kömmt die Dame auf die seltsame Idee, gerade mich sehen zu wollen – was will sie von mir?“

„Ihren Rath. O bitte, Herr Claudius, seien Sie gütig! Mein Vater hat sie verstoßen –“

„Und trotzdem will sie mit ihm an einem und demselben Orte leben und sich der steten Gefahr aussetzen, ihm zu begegnen, der sie verleugnet? – Das gefällt mir nicht! … Aber ich muß sie wohl oder übel empfangen, da ich durchaus nicht mehr gestatte, daß Haideprinzeßchen Beziehungen hat, um die ich nicht genau weiß, und welche nicht vor meinem prüfenden Auge bestehen können. … Frau – wie heißt sie?“

„Christine Paccini.“

„Also Frau Christine Paccini mag heute Abend den Thee im Vorderhause trinken. … Gehen Sie jetzt, sie holen! … Nun, verdient meine Bereitwilligkeit nicht einmal einen Händedruck?“

Ich kehrte zu ihm zurück und legte meine Hand willig in die seine. Dann flog ich zur Thür hinaus.

Ich glaube, selbst über die Haide, wo ich doch noch so unbeschwert von Leid und Kummer war, wie die Vogelseele in der Luft, bin ich nie so beschwingt dahin geflogen, wie in diesem Moment über die Kieswege der Gärten. … Ich wußte ja nun, daß ich mich nicht mehr verirren konnte in der weiten Welt, weil er seine Hand über mich hielt, wohin ich auch gehen wollte. Kein Schreckniß durfte mir mehr nahe kommen, denn ich flüchtete an seine Brust und war geborgen. Wie war ich scheu zurückgebebt, als er mich umfing, und welche selige Ruhe war dann über mich gekommen – so war es gewesen, wenn ich mich als Kind bis zum entsetzten Aufschreien gefürchtet, und Ilse’s Arme sich geöffnet hatten, um mich beschwichtigend an das Herz zu nehmen.

Als ich wieder bei Tante Christine eintrat, war sie gerade beschäftigt, auf einer kleinen Maschine Chocolade zu kochen. Blanche lief auf dem großen runden Tisch herum, beleckte die geriebene Chocolade und fraß vom Kuchenteller. … Himmel, wie flogen Blanche, Chocolade und Kuchen unter den schönen Händen meiner Tante durcheinander, als ich ihr sagte, daß Herr Claudius sie bitten ließe, den Thee im Vorderhause zu trinken! Jetzt sah ich erst, wie sie auf diesen Moment gehofft und geharrt haben mußte. Mit einem halb triumphirenden, halb zerstreuten Lächeln zog sie unschlüssig Kasten und Fächer der Möbel nach einander auf – ich erhielt einen Einblick in das entsetzliche Chaos von verblichenen Blumen, Bändern und Flitterstickereien.

„Herzchen, ich muß selbstverständlich erst Toilette machen, und da kann ich Dich nicht brauchen – das Zimmer ist so eng – kannst ja einstweilen droben bei Helldorf’s bleiben,“ sagte sie hastig. „Aber einen Gefallen mußt Du mir thun, gehe zu Schäfer – ich mag mit dem ungeschliffenen Menschen nicht mehr reden – er hat prachtvolle gelbe Rosen am Stocke – lasse sie abschneiden und gieb ihm dafür, soviel er verlangt, und wenn es zwei Thaler wären – Du bekömmst das wieder, vielleicht morgen schon. … So gehe doch!“ rief sie heftig und schob mich nach der Thür, als ich sie erstaunt fragend ansah. „Ich bin nun einmal gewohnt, Blumen in der Hand zu haben, wenn ich als Gast eintrete.“

Schäfer schenkte mir die Rosen, und ich trug sie ihr hinüber. Dann ging ich zu meinem Vater und holte mir die Erlaubniß, den Thee im Vorderhause trinken zu dürfen.

Eine Stunde später schritt ich mit Tante Christine durch die Gärten. Bei meiner Zurückkunft hatte ich sie bereits in Mantel und Kapuze, mit dem Schleier vor dem Gesicht, gefunden. Es dämmerte schon stark, und ein feiner Regen begann niederzustäuben, als wir den Weg nach der Brücke einschlugen.

„Wohin gehen denn die Damen?“ fragte eine Stimme hinter uns. Es war Charlotte, die jetzt erst vom Berge zurückkehrte.

„Ich will meine Tante im Vorderhause vorstellen,“ versetzte ich.

Die junge Dame sagte kein Wort, und Tante Christine schwieg auch, und so gingen wir still nebeneinander her – mir war auf einmal entsetzlich beklommen zu Muthe. … Da schritten sie vor mir über die Brücke hin, die beiden Frauen – seltsam, es sah fast gespenstig aus, so groß war die Aehnlichkeit zwischen den beiden Gestalten – beide hatten die gleiche stolze, weltverachtende [863] Wendung des Kopfes, dieselbe breite Wölbung der Schultern, denselben Gang, und ich glaube, in der Größe wich Keine der Anderen auch nur um eine Linie – sie waren zum Verwechseln ähnlich, und doch stießen sie sich innerlich ab, Charlotte wenigstens verhielt sich unnahbar.

„Bitte, legen Sie droben in meinem Zimmer ab,“ sagte sie droben im Corridor kalt zu mir.

Wir traten in das Zimmer, das bereits behaglich erwärmt und beleuchtet war. Fräulein Fliedner arrangirte den Theetisch und begrüßte uns sehr zurückhaltend.

„Wo ist Herr Claudius?“ fragte mich meine Tante leise – das erste Wort, das von ihren Lippen fiel, seit wir das Schweizerhäuschen verlassen.

Ich zeigte schweigend nach der Salonthür.

„Ach Gott, ein Flügel!“ rief sie glückselig und stürzte auf das Instrument zu, dessen Deckel aufgeschlagen war. „Wie schmerzlich lange habe ich diesen Anblick entbehren müssen! O, erlauben Sie mir nur für einen Augenblick, daß ich meine Hände auf die Tasten lege! Bitte, bitte – ich werde glücklich sein wie ein Kind, wenn ich, und seien es auch nur zwei Accorde, greifen darf!“

Im Nu flogen Mantel und Kapuze auf den nächsten Stuhl, und zu meinem unsäglichen Erstaunen stand Tante Christine in vollständiger Concerttoilette da. Ein schwerer milchweißer Atlas fiel in langer Schleppe auf den Teppich, und aus dem Spitzengekräusel des tiefausgeschnittenen Kleides hob sich eine Büste, so blendend, so marmorartig in Fleisch und Linien, wie das Antikencabinet mit seinen griechischen Göttergestalten kaum aufzuweisen hatte. Wie wogten die langen Locken über Busen und Nacken herab, und wie träumerisch lagen die hingestreuten, thaufrischen, bleichen Rosen in dem tiefen Blauschwarz der Haarmassen!

„Na, das ist doch stark!“ sagte Charlotte trocken und ungenirt. Meine Tante aber sank auf den Claviersessel, das Instrument erbrauste unter ihren Händen, und gleich darauf schlug es mit nicht klangvoller, aber mächtiger Stimme und dämonischem Ausdruck gegen die Wände: „Gia la luna in mezzo al mare –“

Da wurde die Salonthür aufgestoßen, und Herr Claudius stand bleich wie ein Geist auf der Schwelle – hinter ihm erschien Dagobert’s erstauntes Gesicht.

„Diana!“ rief Herr Claudius im Ton eines unbeschreiblichen Entsetzens.

Tante Christine flog auf ihn zu und sank in die Kniee.

„Verzeihung, Claudius, Verzeihung!“ flehte sie und berührte mit der Stirn fast den Teppich. „Dagobert, Charlotte, ihr, meine so lange und so schmerzlich entbehrten Kinder, helft mir, ihn bitten, daß er mich wieder aufnimmt in alter Liebe!“

Charlotte stieß einen Schrei der Entrüstung aus. „Komödie!“ stammelte sie. „Wer bezahlt Sie für diese köstlich gespielte Rolle, Madame?“ fragte sie schneidend. Dann fuhr sie auf mich hinein und schüttelte mich grimmig am Arme. „Lenore, Sie haben uns verrathen!“ schrie sie gellend auf.

Herr Claudius stand sofort zwischen uns und stieß sie zurück. „Führen Sie Fräulein von Sassen hinaus,“ gebot er Fräulein Fliedner – wie tonlos und bebend klang seine Stimme, wie bemühte er sich, Herr der furchtbarsten inneren Aufregung zu werden!

Fräulein Fliedner legte den Arm um mich und führte mich in den Salon, wo Lothar’s Bild hing – hinter uns wurde die Thür zugeschlagen. … Die alte Dame zitterte wie Espenlaub am ganzen Körper, und eine Art Nervenfrost machte ihr die Zähne zusammenschlagen.

„Sie haben uns da einen schlimmen Gast in’s Haus gebracht, Lenore,“ hauchte sie und horchte angstvoll hinüber, von wo Tante Christinens Stimme in wohllautenden Tönen fast ununterbrochen scholl. „Sie konnten freilich nicht wissen, daß sie es ist, jene Falsche, Treulose, jene Diana, um die er so schwer gelitten hat. … Gott mag verhüten, daß sie wieder Gewalt über ihn gewinnt! Sie ist noch immer von hinreißender Schönheit!“

Ich preßte meinen Kopf zwischen die Hände – mußte nicht die ganze Welt über mir zusammenstürzen? …

„Wie sie das schlau eingefädelt hat!“ fuhr Fräulein Fliedner tief erbittert fort. „Wie sie alle Betheiligten überrumpelt mit der ersten, wie ein Blitz hereinfahrenden Ueberraschung! … Auf einmal erinnert sie sich zärtlich ihrer ‚schmerzlich entbehrten Kinder‘, die sie so schändlich verlassen hat –“

„Ist sie wirklich Dagobert’s und Charlottens Mutter?“ stieß ich heraus.

„Kind, zweifeln Sie noch nach Allem, was Sie gehört und gesehen haben?“

„Ich habe geglaubt, sie seien seine“ – ich deutete nach Lothar’s Bild – „und der Prinzessin Kinder,“ stöhnte ich.

Sie fuhr zurück und starrte mich an. „Ach, jetzt fange ich an, klar zu sehen!“ rief sie. „Das ist der Schlüssel zu Charlottens unbegreiflichem Wesen und Gebahren! Sie denkt ebenso wie Sie? Sie meint, sie sei in der Karolinenlust geboren? Ist’s nicht so? … Nun, ich werde ja erfahren, wer das streng gehütete Geheimniß gelüftet und in so hirnverbrannter Weise ausgelegt hat. Einstweilen sage ich Ihnen, daß allerdings zwei Kinder in der Karolinenlust das Licht der Welt erblickt haben – das eine starb nach wenigen Stunden, und das andere halbjährig an Zahnkrämpfen – zudem waren es zwei Knaben. Dagobert und Charlotte aber sind die Kinder des Capitain Mericourt, mit welchem Ihre Tante in Paris verheirathet war, und der in Marocco gefallen ist. … Armes Kind, Ihr guter Engel hatte Sie verlassen, als Sie dieses Weib unter Ihren Schutz nahmen – sie bringt Unglück über uns, über uns Alle!“

Ich vergrub mein Gesicht in den Händen.

„Als Erich Zutritt in ihrem Hause fand, war sie bereits Wittwe und Primadonna an der Pariser großen Oper,“ fuhr die alte Dame fort. „Ihre Kinder sind bei einer Madame Godin erzogen worden – Erich hat sie lieb gehabt, als seien sie die seinen, und obgleich durch die Mutter tödtlich beleidigt und verwundet, ist er doch so großmüthig gewesen, sich der Kleinen anzunehmen, als die ehr- und pflichtvergessene Frau sie ohne alle Subsistenzmittel in der Pension zurückgelassen hat. … Madame Godin ist bald darauf gestorben, und mir, der er allein die Herkunft der Kinder anvertraut, hat er das strengste Stillschweigen auferlegt – er wollte den Geschwistern den demüthigenden Schmerz, eine entartete Mutter zu haben, zeitlebens ersparen – sie danken ihm schlecht genug dafür!“

Sie rang leise die Hände ineinander und ging auf und ab. „Nur das nicht!“ murmelte sie. „Die Stimme da drüben bestrickt mit einer wahrhaft dämonischen Gewalt – ich höre es! Wie das schmeichelt und klagt und weich fleht – sie wirft ihm neue Schlingen über –“

„Onkel, Onkel – ich leide furchtbar! … O, ich elendes, ich undankbares Geschöpf!“ schrie Charlotte drüben markerschütternd auf.

Ich stürzte zur Thür hinaus, die Treppe hinunter, durch die Gärten. … Ich war verstoßen aus dem Paradiese durch eigene Schuld, durch eigene Schuld. … Trotz Ilse’s energischer Abwehr und Warnung, gegen den entschiedenen Willen meines Vaters hatte ich heimlich und versteckt den Verkehr mit dieser verfehmten Tante unterhalten. Ich hatte dem Manne, den ich mit allen Kräften meiner Seele liebte, den bösen Dämon seiner Jugend wieder zugeführt, dem er auf’s Neue verfiel, und der ihm voraussichtlich das Leben vergiftete! …

In der Halle, wo das helle Lampenlicht auf mich fiel, hielt ich in meinem rasenden Laufe inne – nein, in diesem Zustande durfte ich nicht vor meinen Vater treten – Haar und Gesicht und Kleider troffen von Nässe, von dem Märzregen, der draußen warm und lautlos niedersank; jeder Nerv bebte an mir, und die Wangen brannten im Fieber. Ich ging in meine Schlafstube, kleidete mich um und trank ein Glas kaltes Wasser. Ruhig, vollkommen ruhig mußte ich sein, wenn ich erlangen wollte, was ich für meine einzige Rettung hielt.

Mein Vater saß in seiner Stube, im bequemen Lehnstuhl, und las und schrieb abwechselnd, und neben ihm stand die dampfende Theetasse. Er sah so munter und wohlgemuth aus, wie ich ihn selten vor seiner Krankheit gesehen, und das liebe, alte zerstreute Lächeln war auch wieder da. Im Wohnzimmer strich Frau Silber, die Wärterin, Butterbrödchen für ihn, regulirte nach dem Thermometer die Zimmerwärme, und winkte mir freundlich, nicht zu hastig einzutreten – sie war die verkörperte Fürsorge selbst, in besseren Händen konnte ich meinen Vater nicht wissen.

Ich setzte mich neben ihn auf ein Fußbänkchen, doch so, daß [864] mein Gesicht völlig im Dunkeln blieb. Er erzählte mir freudig, der Leibarzt sei bei ihm gewesen und habe ihm die Mittheilung gemacht, daß er morgen zum ersten Mal ausfahren dürfe, der Herzog werde ihn selbst im Wagen abholen – dann strich er mir schmeichelnd über den Scheitel und meinte, er freue sich, daß der Thee im Claudiushause nicht gar so lange gedauert habe und ich wieder bei ihm sei.

„Wie wird das aber werden, Vater, wenn ich auf vier Wochen in die Haide gehe?“ fragte ich und bog mich noch tiefer in den Schatten zurück.

„Ich werde mich hineinfinden müssen, Lorchen,“ sagte er. „Du mußt für eine Zeit in Deine eigentliche Heimathluft zurück, um Dich zu stärken – beide Aerzte haben es mir zur Pflicht gemacht. Sobald es warm wird –“

„Es ist warm draußen, köstlich mild,“ unterbrach ich ihn rasch. „Denke Dir, mich jagt es förmlich in die Haide – mir ist, als würde ich krank und könnte den bösen Feind nur durch den frischen Haidewind abwehren. … Vater, wenn Du mir einmal die Erlaubniß giebst, warum denn nicht heute Abend noch?“

Er sah mich erstaunt an.

„Das kommt Dir tollköpfig vor, nicht wahr?“ sagte ich mit dem schwachen Versuch zu lächeln. „Aber es ist vernünftiger, als Du denkst. Die weichste Luft weht draußen; ich fahre mit dem Nachtzug, bin morgen Abend auf meinem lieben, lieben Dierkhof, trinke vier Wochen lang Milch und athme Haideluft, und bin gesund wieder da, wenn es hier – schön wird, wenn die Bäume blühen, und dann – ist Alles, Alles gut – gelt, Vater? … Ich kann ja auch vollkommen ruhig gehen – Frau Silber bleibt bei Dir, besser könntest Du gar nicht aufgehoben sein – bitte, Vater, gieb mir die Erlaubniß!“

„Was meinen Sie denn dazu, Frau Silber?“ rief er unschlüssig hinüber.

„I lassen Sie Fräulein Lorchen nur gehen, Herr Doctor!“ sagte die gute Alte, breitspurig in die Thür tretend. „Der Mensch soll nicht gegen seine Natur sein, und wenn dem Fräulein zu Muthe ist, als würde sie krank und könnte nur in der Haide gesund werden, da sagen Sie um Gotteswillen nichts dagegen. … In einer Stunde geht der Nachtzug, packen Sie ein, Fräulein, ich helfe Ihnen und bringe Sie auf den Bahnhof.“

Auf flüchtenden Füßen verließ ich die Karolinenlust. Es war stockfinster, und meine Begleiterin konnte nicht sehen, wie mir die Thränen über das Gesicht strömten, wie ich hinüberwinkte nach dem Glashause, in welchem ich einen köstlichen Augenblick voll Glück erlebt hatte. Ich wollte nicht hinaufsehen nach den Fenstern des Vorderhauses, als wir durch den Hof gingen – ach, was vermochte mein Wille gegen den Trennungsschmerz, der in mir tobte? Meine Augen hingen verzehrend an der Lichtfluth in Charlottens Zimmer – man hatte vergessen, die Vorhänge zuzuziehen. Noch waren Alle versammelt, man sah es an den lebhaft über die Zimmerdecke hinlaufenden wechselnden Schatten. Er verzieh ihr, der Treulosen, um deren willen er einst Nachts wie gehetzt die Gärten durchmessen hatte – er versöhnte sich mit ihr – es war ja heute ein Tag der Versöhnung – während „die unbesonnene kleine Haidelerche“, von seinem Herzen weggescheucht, davonflog, hinaus in die lichtlose Nacht.




33.

Das war ein Wiedersehen! … Zu Fuße wanderte ich vom letzten Dorfe nach dem Dierkhofe – durch den todtenstillen, laublosen Wald. Es dunkelte im Dickicht, und rasselnde Blätter hingen sich an meinen Rocksaum – die hatten frisch droben im Morgenwind geplappert, als ich in die Welt hinausgepilgert war, und jetzt begleiteten sie mich als gefallene Gespenster mit eintönigem Flüstern und Rauschen ganze Strecken lang. … Und als ich hinaustrat in die unermeßliche Ebene, als in der Abenddämmerung seitwärts die Hünengräber auftauchten und fern vom Dierkhof her ein Lichtlein brannte und Spitzens wohlbekanntes Gekläff halb verloren herüberscholl, da warf ich mich vor Schmerz aufweinend in das winterdürre Haidegestrüpp – ich kam unglücklich, gebrochen in die Haide zurück.

Und nun wuchsen die vier Eichen immer höher vor mir auf – ich sah deutlich den dunklen Punkt inmitten des einen Wipfels, das alte wohlbekannte Elsternnest – die jungen Vögel, die damals lustig in meinen Abschiedsjammer hineingeschrieen hatten, sie waren längst auf- und davongeflogen, und wohl nur das alte angestammte Paar hockte als Thurmwart des Dierkhofs droben und richtete die scharfen, klugen Augen auf das einsame Menschenkind, das über die Haide dahergewandert kam. Tief in der dunklen Wölbung des Hausthors glühte schwach ein Feuerkern, im Herde brannte der Torf, und das traute Dach, aus welchem der Rauch in kerzengeraden gelblichen Streifen zum Abendhimmel aufstieg, sah aus, als wüchse es direct aus dem Haideboden, so eingesunken, so klein geworden kam mir der Dierkhof vor. Da sah ich Spitz wie toll über den Hof rennen – in der Thür der Umzäunung blieb er wie athemlos, mit steifgespitzten Ohren, einst Augenblick stehen, aber nun raste er auf mich zu – er sprang mir freudewinselnd bis hinauf an das Gesicht, um mir die Wangen zu lecken – ich hatte Mühe, mich auf den Füßen zu halten.

„Was hat denn das Thier? Es ist ja wie närrisch!“ rief Ilse und trat unter das Hausthor. … Ach, diese Stimme! Ich lief über den Hof und warf mich an die Brust der großen Frau – da meinte ich ja endlich den Qualen entronnen zu sein, die mich wie die Furien bis in die stillste, tiefste Haide hinein verfolgten. … Sie schrie nicht aus und sagte auch kein Wort, aber die Arme umschlossen mich fest – ich wurde gehätschelt und geliebkost wie nie in meiner Kindheit und wußte sofort, daß sie sich unbeschreiblich gesehnt haben müsse, und als wir auf den Fleet traten, wo bereits Licht brannte, da sah ich auch, daß sie blässer geworden war.

Aber völlig ließ sich Ilse nie von ihrem Gefühl überrumpeln. Sie schob mich plötzlich mit steif ausgestreckten Armen von sich. „Lenore, Du bist durchgebrannt!“ sagte sie in jenem gefürchteten Tone, mit welchem sie mir einst auch meine Kindersünden auf den Kopf schuld gegeben hatte.

Bei allem innern Weh mußte ich lächelm. Ich setzte mich auf Heinzens Holzstuhl und erzählte ihr von dem Feuerunglück und der Krankheit meines Vaters, wobei sie ein Mal über das andere die Hände über dem Kopfe zusammenschlug. Das hinderte sie jedoch nicht, das Feuer im Herd neu zu schüren, den Wasserkessel aufzusetzen und mich mit einem Butterbrod sehr gegen meinen Willen, Bissen um Bissen zu füttern.

„Ja, ja, das war freilich das Gescheiteste,“ meinte sie, als ich ihr schließlich mittheilte, daß die Aerzte mich auf den Dierkhof geschickt hätten. Dann verschwand sie im Innern des Hauses, um mich bald darauf vor ein himmelhoch aufgethürmtes Bett zu führen.

„So, Kind – nun gehst Du zu Bett, und den Fliederthee bringe ich auch gleich. Auf zwanzig Schritte sieht man Dir’s an, daß Du Dich auf der Reise erkältet hast – das ist ja das reine Fiebergesicht. … Und gesprochen wird nun gar nichts mehr – morgen erzählst Du weiter.“

Auf mein entsetzliches Sträuben hin wurde mir der Fliederthee erlassen – ins Bett aber wurde ich ohne Gnade gesteckt. … Da sah nun wieder das verräucherte Bild Karl des Großen unverwandt auf mich nieder. Ich sprang auf, nahm es vom Nagel und kehrte es gegen die Wand. … Wie haßte ich dieses Gesicht! Wie viel Leichtfertigkeit, Lug und Trug deckte die weiße Stirn, die mich am Hünengrabe förmlich geblendet! … Sie hatte mir wie ein Licht in die dunkle Welt hineingeleuchtet – diesem trügerischen Schein war ich damals halb unbewußt gefolgt, um seinetwillen hatte ich mich von der alten Heimath losgerissen, jetzt sah ich klar in meine damaligen Empfindungen und verabscheute sie – sie hatten mich blind gemacht und einen Weg voll Irrthümer geführt.

Ich setzte mich wieder, wie in der Sterbenacht meiner Großmutter, auf das Fußende des Bettes und sah hinaus in die unermeßliche Weite. Nein – auch auf dem Dierkhof fand ich keine Ruhe, und je tiefer und lautloser die Stille um mich webte, desto furchtbarer schrie mein einsames Herz auf. … Jetzt begriff ich, wie meine Großmutter stundenlang dort in der Baumhofecke hatte stehen und unverwandt in die weite Welt hinausstarren können – die umschleierten Augen hatten ein Wesen in der Nebelferne gesucht, die Verlorene, Entartete, die das schwergekränkte Mutterherz dennoch nicht vergessen konnte. Und für mich breitete sich der weite, von Millionen Goldflittern betupfte Nachthimmel auch nur über einen einzigen Punkt, über das ferne alte Kaufmannshaus.

[866] Draußen fuhr der Wind auf und machte die dürren Zweige des Ebereschenbaumes leise an die Scheiben klopfen; ich wich zurück und legte die Hand über die Augen – unter dem Fenster stand ja die Bank, auf welcher ich Tante Christinens Brief zum ersten Male gelesen. Nun hatte ich sie in der That auf den Knieen liegen sehen, die märchenhafte Gestalt, schöner als die schönsten Blumenleiber, die in meinem schönsten Kinderbuche aus Lilien- und Rosenkelchen emporwuchsen. Und aus den weißen Atlaswogen hatten sich zwei zarte Arme ausgestreckt, um den einst tief beleidigten Mann schmeichelnd wieder an das treulose Herz zu ziehen. … Ich schlug mich unwillkürlich mit den geballten Händen gegen die Brust – ich war schwach und feig gewesen in jenem verhängnißvollen Augenblicke, ich durfte nicht hinausgehen, meinen Kopf mußte ich, wie wenige Stunden zuvor, fest an seine Brust legen – er selbst hatte mir diesen Platz angewiesen, und ich wußte, daß es in Zärtlichkeit geschehen war; ich hatte es an dem Klopfen seines Herzens, an der leise zitternden Hand gefühlt, die, während ich gebeichtet, immer wieder behutsam, aber zartschmeichelnd über meine Locken hingeglitten war. Ich durfte nicht dulden, daß diese rosig weißen Hände ihn berührten, dann wäre vielleicht der böse Zauber nicht über ihn gekommen. …

Jetzt war es wohl hell im Vorderhause, so hell, wie an jenem Theeabend, wo die Prinzessin dagewesen. … Und er saß am Flügel – vergessen war die Zeit, wo er um ihretwillen keine Taste mehr berührt hatte; sie sang ihm ja jetzt die berauschende dämonische Tarantella. … Und binnen wenigen Wochen schritt eine neue Hausfrau durch die hallenden Gänge des Claudiushauses – nicht im klaren Stirnschleier, wohl aber mit langer seidenrauschender Schleppe, Blumen in das Haar gestreut und ein Trällern auf den Lippen – und es wurde lebendig in den stillen Gesellschaftszimmern, Gäste flogen ein und aus, und Champagnerpfropfen knallten, und Niemand verdachte dem Manne seine Wahl, die Frau war ja noch „von hinreißender Schönheit“. … Nun wurde er mein Onkel – ich sprang auf und rannte außer mir auf und ab … nein, ich war kein sanftes Engelsgemüth, ich konnte nicht mit heißen Thränen in den Augen lächeln, ich wehrte mich aufschreiend gegen das Messer, das mir erbarmungslos immer wieder in der Brust umgewendet wurde! … Nach K. kehrte ich nicht wieder zurück; ich wollte meinen Vater beschwören, einen andern Aufenthaltsort zu wählen – wie konnte ich je das Wort „Onkel“ über meine Lippen bringen? Nie, nie!

Das sanfte Klopfen draußen an den Scheiben verwandelte sich in ein heftiges Peitschen und Schlagen – der Frühlingssturm brauste über die Haide hin. … Nun hörte ich’s wieder, das Knistern und Knacken der alten Balken, das Schnauben und Pfauchen um die Ecken, und in den Eschenwipfeln das Gerassel der verdorrten Blätter, die, längst todt und modernd, sich doch noch unter gespensterhaftem Rauschen an die lebendigen Aeste angstvoll anklammerten. Der alte Dierkhof zitterte unter den wuchtigen Stößen, droben in den Dachluken ächzten die morschen Holzläden, und die Fensterscheiben klirrten leise, als ließe der Sturm feine, klingende Silberketten durch seine Finger laufen.

Ilse trat mit dem Hauslämpchen ein, um nach mir zu sehen.

„Hab’ mir’s gedacht, daß Du nicht schlafen kannst,“ sagte sie, als sie mich angekleidet auf dem Bett sitzen sah. „Kind, Du bist das alte Haidelied nicht mehr gewohnt – freilich, dort in den Bergen, da duckt sich der Sturm zahm nieder, er gefällt mir aber auch nicht halb so gut. … Gehe Du nur wieder in Dein warmes Bett – er thut Dir nichts!“

Freilich, der that mir nichts – vor ihm schützte mich der traute Dierkhof mit seinem Mantel! …

Nun war ich seit drei Tagen in der Haide, und die Stürme pfiffen und johlten Tag und Nacht in einem Athem über die weite Fläche hin. Mieke, Spitz und das Federvieh, Alles tummelte sich in der Tenne und sah vom geborgenen Platz aus durch das offene Hausthor den Unhold draußen vorbeijagen. Aber es wehte warm herein, und ich meinte, dann und wann fliege schon ein feiner Blumenathem auf seinen Schwingen mit. Heinz blieb auch auf dem Dierkhof, Ilse litt es nicht, daß er Abends bei „dem Gebrause“ in seine Hütte zurückkehrte. … Ach, wie war Alles anders geworden! Ich las nicht mehr vor, wenn wir auf dem Fleet saßen – die Märchen hatten keinen Reiz mehr für mich – und mit dem Erzählen aus der Stadt wollte es auch nicht gehen. So oft Ilse den Namen Claudius aussprach – und das geschah zu meiner Verzweiflung nur zu oft – da fühlte ich meine Kehle zugeschnürt; ich wußte es, sprach ich nur einmal den Namen selbst aus, da stürzte der mühsam aufrecht erhaltene Damm der Selbstbeherrschung unrettbar zusammen, und ich schrie, zum Entsetzen der beiden treuen Seelen an meiner Seite, meinen Schmerz in alle vier Winde hinaus. Heinz sah mich ohnehin stets scheu von der Seite an, er verstand mich und meine Ausdrucksweise nicht mehr recht, und Ilse erzählte mir lachend, er habe gesagt, ich sei nun ein wirkliches Prinzeßchen geworden, so ganz absonderlich, und er begriffe nicht, daß Ilse nicht auch die Vorhänge an die Fenster hänge und das vornehme Sopha in die Stube schöbe, wie es doch bei Fräulein Streit gewesen sei.

Am dritten Tag gegen Abend ließ der Sturm nach, er blies zwar noch immer gewaltig über die Ebene hin; aber länger litt es mich nicht mehr im Hause – ich sprang hinaus in das Wogen und Tönen und ließ mich hinüber nach dem Hügel tragen. … Ach ja, da stand sie noch mit festem Fuß, die liebe, alte Föhre, und als ich sie mit beiden Armen umschlang, da streute sie rieselnd einen Nadelregen über mich her. Und die Ginsterbüsche hakten sich an meine Kleider; aber die Stelle, wo man im vorigen Jahr das Hünengrab aufgebrochen, lag kahl zu meinen Füßen, und kleine Sandbäche rieselten von Zeit zu Zeit da hinab, wo auch die Menschenasche verschüttet worden war. … Ueber den Waldstreifen zuckten die flammenden Spieße der Abendröthe empor – morgen gab es abermals Sturm; war es doch, als wolle selbst das Toben in den Lüften eine Schranke zwischen mich und die Welt draußen ziehen. … Und dort wand sich der Fluß hin, neben welchem die drei Herren damals eilig gestrebt hatten, die öde Haide zu verlassen – da war die hohe, schlankmächtige Gestalt des „alten Herrn“ fest durch das Gestrüpp geschritten, während die verwöhnten Füße des schönen Tancred fast ängstlich den sammetweichen Rasenweg innegehalten hatten.

Jetzt war es todeseinsam da drüben – nein – ich hielt die Hand über die Augen, um das Wunder in der menschenleeren Haide besser anstarren zu können. Dort bewegte sich ein dunkles Etwas auf dem schmalen Sandweg, den Heinz mit dem Namen „Fahrstraße“ beehrte. Himmel, Ilse hatte ihre Drohung wahr gemacht und den Doctor kommen lassen! Mein bleiches Gesicht, mein niedergeschlagenes Wesen ängstigten sie ja unbeschreiblich. Der dunkle Punkt schwankte näher und näher; das rothe Abendlicht überfloß ihn grell – es war richtig die alte Kutsche, in welcher man den Arzt an das Sterbebett meiner Großmutter geholt hatte. Sie machte eine Schwenkung – wie eine Silhouette hoben sich das kräftig anziehende Pferd und die Kalesche vom Himmel ab; ich sah die Wagenfenster aufblinken, und den stämmigen Bauernkutscher auf dem Bock sitzen. … Plötzlich hielt der Wagen still, und ein Herr sprang heraus – und wenn die Gestalt dort vom blonden Scheitel bis zur Zehe herab streng verhüllt gewesen wäre, an dieser einen Bewegung hätte ich sie unter Tausenden heraus erkannt! … Meine Pulse stockten, ich biß die Zähne zusammen und starrte angstvoll auf die Wagenthür – jetzt mußte auch sie aussteigen, die schöne Frau im schwarzen Sammetmantel, den weißen Hermelin um die Schultern geschlagen – Onkel und Tante kamen, die Entflohene zurückzuholen – allein die Thür fiel zu, und der Wagen schwenkte um, nach dem Walde zurück. Herr Claudius aber schritt über die Haide her, direct auf den Hügel zu; ein weiter Mantel flatterte von seinen Schultern, und die blauen Brillengläser funkelten in der Abendsonne. … Ich ließ die Föhre los, breitete die Arme weit aus und wollte den Hügel hinabstürmen; aber ich ließ sie sofort wieder sinken – einen Onkel begrüßt man nicht leidenschaftlich – taumelnd im Sturme umfing ich die Föhre wieder und drückte meine Stirn an die harte Rinde.

Jetzt kamen die Schritte näher und näher – ich bewegte mich nicht, mir war es, als sei ich an einen Marterpfahl gebunden und müsse ausharren im lautlosen Schmerz.

Am Fuß des Hügels blieb er stehen.

„Auch nicht um einen Schritt kommen Sie mir entgegen, Lenore?“ rief er hinauf.

[867] „Onkel!“ rang es sich von meinen Lippen.

Mit wenigen Schritten stand er droben neben mir – ein Lächeln zuckte um seinen Mund.

„Seltsames Mädchen, in welche ungeheuerliche Vorstellung haben Sie sich verrannt! Glauben Sie wirklich, daß ein gesetzter Onkel so sehnsüchtig und angstvoll einer entflohenen kleinen Nichte nacheilen würde?“

Er ergriff sanft meine beiden Hände und zog mich den Hügel hinab. „So, hier fegt der Sturm über uns weg. … Ich bin Ihr Onkel nicht – aber bei Ihrem Vater bin ich gewesen und habe um andere Rechte gebeten; er hat mir freudig die Erlaubniß gegeben, Sie heimzuholen – aber nicht in die Karolinenlust, Lenore, wenn Sie sich entschließen, mit mir zu gehen, dann giebt es für uns Beide nur einen Weg. … Lenore, zwischen Ihnen und mir steht nur noch Ihr eigener Wille – haben Sie noch keinen andern Namen für mich?“

„Erich!“ jauchzte ich auf und schlang die Arme um seinen Hals.

„Böses Kind,“ sagte er mich fest umschließend. „Was Alles hast Du mir angethan! Nie werde ich die Stunde vergessen, in welcher Fräulein Fliedner erschrocken aus der Karolinenlust zurückkam und mir sagte, Du seiest fort, fort mit dem Nachtzug – mein verscheuchtes Haidevögelchen einsam draußen in Nacht und Fremde. Und wie trauerte ich, daß Du Dir nicht einmal bewußt warst, welchen Schmerz Du mir zufügtest! … Lenore, wie war es Dir möglich, zu denken, ich könne eben mein heilig geliebtes Mädchen an das Herz ziehen, um es gleich darauf um der häßlich geschminkten Sünde willen zu verstoßen?“

Ich wand mich los.

„Sehen Sie mich doch nur an!“ rief ich und unterwarf mich halb lachend, halb weinend einer Musterung seines Blickes. „Neben Tante Christine bin ich doch das armseligste Nichtschen, wie Charlotte mich immer nennt! … Ich habe die Tante zu Ihren Füßen gesehen, sie hat um Verzeihung gebeten – ach, und in welchen Tönen! Und ich wußte, daß Sie diese wunderschöne Frau sehr lieb gehabt haben, so lieb –“

Ein flammendes Roth stieg in sein Gesicht – ich hatte ihn noch nie so tief erröthen sehen.

„Ich weiß, daß Fräulein Fliedner geplaudert hat,“ sagte er. „Sie klagt sich auch an, Deine Flucht veranlaßt zu haben, indem sie, wunderlich genug, der Furcht Ausdruck gegeben hat, ich könne dem Zauber erliegen. … Meine Kleine, ich gestatte Dir absichtlich keinen Blick in jene Zeit, auf die jahrelange Reue gefolgt ist – Du sollst Deine keuschen Kinderaugen behalten, sie sind meine Erquickung, mein Stolz. … Ich habe mich schwer geirrt damals, am meisten in mir selbst, ich habe das Aufflammen häßlicher Leidenschaft für jenes Sternenlicht gehalten, das erst mit Deinem Erscheinen über meinem Leben aufgehen sollte. … Bis zur äußersten Consequenz hat sich die Verirrung meiner Jugend gerächt – bis zu dieser Stunde habe ich leiden müssen, aber nun sei es auch genug der Sühne – ich verlange mein Recht!“

Er küßte mich – dann schlug er schützend seinen Mantel um mich. „Du wirst Manches verändert finden, wenn wir heimkommen, mein Kind,“ sagte er nach einer Pause mit gedämpfter Stimme. „Die Miethwohnung im Erdgeschoß des Schweizerhäuschens ist leer – der Zugvogel ist wieder nach dem Süden geflogen –“

„Aber sie war arm – was wird sie anfangen?“ fiel ich beklommen ein.

„Dafür ist gesorgt – sie ist ja Deine Tante, Lenore.“

„Und Charlotte?“

„Sie hat eine furchtbare Lehre empfangen, aber ich habe mich nicht in ihr geirrt – es ist trotzalledem ein tüchtiger Kern in diesem Mädchen. Anfänglich war sie tief erschüttert an Leib und Seele – sie hat sich jedoch aufgerafft, und jetzt bricht der wahre Stolz, die wirkliche Seelenwürde durch. Sie schämt sich ihres Thuns und Treibens im Institut; sie hat wenig gelernt, trotz ihrer Begabung und der ihr gebotenen reichen Ausbildungsmittel, weil sie stets vorausgesetzt hat, sie sei zu Höherem geboren und brauche nicht zu arbeiten. Nun geht sie abermals in ein Institut, um sich zur Gouvernante heranzubilden. Ich bin diesem Entschluß durchaus nicht entgegen – durch geistige Thätigkeit wird sie vollends genesen – übrigens bleibt das Claudiushaus ihre Heimath … Dagobert aber will den Dienst quittiren und als Farmer nach Amerika gehen. … Die Verblendung der Geschwister bezüglich ihrer Abkunft und die schließliche Enthüllung sind in der Stadt ruchbar geworden – wer geplaudert haben mag, man weiß es nicht – Dagobert’s Stellung wird voraussichtlich eine unerquickliche werden, deshalb geht er freiwillig. … Wenige Stunden vor meiner Abreise hierher war ich bei der Prinzessin –“

Ich verbarg mein Gesicht an seiner Brust. „Nun kommt das Strafgericht auch über mich!“ flüsterte ich.

„Ja, ja, nun weiß ich Alles!“ bestätigte er mit scheinbarer Strenge. „Das Haideprinzeßchen hat seine kleine, vorwitzige Nase schon am ersten Tag in das Geheimniß der Karolinenlust gesteckt und dann wacker mitgeholfen bei der Intrigue gegen den unglücklichen Mann im Vorderhause –“

„Und er verzeiht mir nicht –“

Er lächelte auf mich nieder. „Hätte er dann wohl den kleinen, rothen Mund geküßt, der so heroisch schweigen kann?“

Wir traten hinter dem schützenden Hügel hervor – der Sturm fiel uns an. „O säh’ ich auf der Haide dort im Sturme Dich!“ sang ich jauchzend aus voller Brust in das Klingen und Sausen hinein. Es war ja wahr geworden, ich schritt, von starkem Arm gehalten, an seiner Seite dahin, und seine Linke hielt sorgsam den Mantel zusammen, den er mir um Haupt und Schultern geschlagen. … Und der Sturm schoß mit seinem Frühlingsathem an mir vorüber und höhnte. „Gefangen, gefangen!“ Und ich lachte auf und schmiegte mich glückselig an den Mann, der mich führte – mochten Sturm und Bienen und Schmetterlinge frei über die Haide hinfliegen – ich flog nicht mehr mit! …

Ilse saß auf dem Fleet und schälte Kartoffeln, und Heinz kam eben mit der qualmenden Pfeife aus dem Baumhof, als wir in die Tenne traten. … Nie hatte ich meine treue Pflegerin so consternirt gesehen, als in dem Augenblick, wo Herr Claudius mir den Mantelzipfel vom Haupt schob, und ich sie anlachte. Das Messer und die halbgeschälte Kartoffel fielen ihr aus den Händen auf den Schooß. „Herr Claudius!“ rief sie erstarrt. Bei dem Namen riß Heinz erschrocken die Pfeife aus dem Mund und hielt sie auf den Rücken.

„Grüß Gott, Frau Ilse!“ sagte Herr Claudius. „Sie haben einen kleinen Deserteur beherbergt; ich bin gekommen, ihn heimzuholen – mein ist er!“

Jetzt ging der ‚Frau Ilse‘ ein Licht auf. Sie sprang empor, Messer, Schalen und Kartoffeln, Alles rollte von der Schürze auf die Steinplatten. „O herrje, das war also die Krankheit?“ – Sie schlug die Hände zusammen. – „Da war freilich Fliederthee das conträre Mittel! … Schön angeführt hast Du mich, Lenore, o herrje! … Und heirathen wollen Sie das Kind da, Herr Claudius?“ schalt sie förmlich, während ihr die Thränen der Rührung über die Wangen liefen. „Sehen Sie sich doch nur die kleinwinzigen Hände an und das Gesichtchen, und die jungen, jungen Augen –“

Herr Claudius erröthete fein wie ein Mädchengesicht. „Ich bin ihr recht, meiner jungen Lenore,“ sagte er leise und ein wenig zögernd. „Sie behauptet, den alten, uralten Mann lieb zu haben.“

Ich schmiegte mich fester an ihn.

„I bewahre, Herr Claudius, so ist ja das gar nicht gemeint,“ protestirte Ilse eifrig. „Die möchte ich sehen, die da nicht auf der Stelle, mit Freuden, Ja und Amen sagte! Aber, aber – die vielen Leute, die Sie commandiren, wie sollen denn die Respect kriegen vor solch einem Weibchen, das Sie wie ein Kind auf dem Arm im Hause herumtragen können!“

Er lachte leise auf. „Respect werden sie schon bekommen, wenn sie sehen, wie ‚das Weibchen‘ den Chef des Hauses commandirt. … Und nun, Frau Ilse, rüsten Sie sich – morgen reisen wir heim – die Braut darf nur in Ihrer Begleitung zurückkehren.“

Ilse fuhr sich mit dem Schürzenzipfel über die Augen. „Aber der Dierkhof unterdessen, Herr Claudius? Wenn Sie nur wüßten, wie ich den dazumal wiedergefunden habe!“ sagte sie ein wenig scharf und anzüglich.

Heinz kratzte sich verlegen hinter dem Ohr und sah scheu nach der gestrengen Schwester. Aber ich sprang auf ihn zu und schlang meinen Arm in den seinen. „Heinz, böser Heinz, gratulirst Du mir nicht?“

„Ach ja, Prinzeßchen – aber es dauert mich auch; da draußen ist’s doch lange – keine Haide!“ …



[868] Diese Niederschrift habe ich zwei Jahre nach meinem Hochzeitstage begonnen. Die Korbwanne stand neben meinem Schreibtisch, und zwischen den Kissen athmete ein junges Wesen – mein schöner, blonder Erstgeborener. Für dieses kleine Wunder, das ich immer wieder anstaunen mußte, wollte ich meine Erlebnisse niederschreiben. … Seitdem hat auch ein prächtiger, braungelockter Bursche mit der kräftigsten Jungenstimme in dem grünumschleierten Korb gelegen, und jetzt schläft Lenore, das einzige Töchterchen des Claudiushauses, auf derselben Stelle – seit sieben Jahren bin ich verheirathet. Ich sitze in Charlottens ehemaligem Zimmer. Die dunklen Vorhänge sind verschwunden – es ist sonnig um mich her, Rosenbouquets, gestickt und gemalt, liegen hingestreut auf Teppich, Möbeln und Wänden, und in den Fensternischen duften förmliche Blumenhecken. Lenore schlummert, die Fäustchen an die Wangen gedrückt – es ist so still, daß ich die Fliegen summen höre – nun endlich zum Schluß!

Da wird die Thür aufgestoßen, und sie kommen hereingestürmt, die zwei Stammhalter des Claudiushauses.

„Aber Mama, Du schreibst auch zu lange!“ ruft der Blonde vorwurfsvoll. „Wir wollen doch Sauermilch im Garten essen – Tante Fliedner ist schon in der Laube, und den Großpapa haben wir auch geholt.“

Ich sehe ihm mit zitternder Lust in das Gesicht – er schießt piniengleich in die Höhe; aber, o weh – wie wird es um die Autorität stehen, wenn er der kleinen Mutter über den Kopf gewachsen ist? … Der kleine Braune aber hebt sich auf die Zehen, legt mir einen fingerdicken Strick und ein schwankes Weidengertchen quer über das Manuscript und bittet mit seiner tiefen, treuherzigen Stimme: „Mama, eine Peitsche machen!“

„Geht nur einstweilen in den Garten,“ sage ich, während meine Finger sich abmühen, die fast unmögliche Peitsche herzustellen. „Ich muß erst noch Etwas von Tante Charlotte schreiben.“

„Von Paulchen auch?“ – Auf meine Bejahung laufen sie wieder hinaus, die Treppe hinab. –

Am Tag nach meiner Rückkehr aus der Haide verließ Charlotte das Claudiushaus, um in ein Institut einzutreten, und kurze Zeit darauf ging der junge Helldorf nach England – er hatte um Charlottens Hand gebeten und war zurückgewiesen worden. Mir gestand sie schriftlich ein, sie habe ihn in ihrem Hochmuth zu schlecht behandelt, und nun sie von ihrer vermeintlichen Höhe herabgestürzt sei, werde sie ihrer Neigung noch weniger Raum geben. Wir litten nicht, daß sie nach vollendeten Studien in fremde Abhängigkeit trat – sie kehrte auf unsere Bitten in das Claudiushaus zurück – eine leidenschaftlich liebende Tante für unsere Kinder. Helldorf’s Name kam nie über ihre Lippen, obgleich sie, wie wir auch, viel im Hause des Oberlehrers verkehrte. Da kam der Krieg im Jahre 66. Max Helldorf wurde einberufen und bei Königgrätz schwer verwundet. … Eine Stunde nachher, als der Oberlehrer schreckensbleich die Nachricht in unser Haus gebracht hatte, trat Charlotte im Reiseanzug in mein Zimmer. „Ich gehe als Diaconissin, Lenore,“ sagte sie fest. „Vertritt meine Handlungsweise beim Onkel – ich kann nicht anders.“

Claudius war verreist – ich ließ sie mit tausend Freuden gehen. Nach vier Wochen unterschrieb sie einen langen, glückathmenden Bericht als „Charlotte Helldorf“. Der Feldgeistliche hatte den Genesenden und seine treue Pflegerin eingesegnet. … Jetzt wohnt das junge Paar in Dorotheenthal – Helldorf ist Procurist der Firma Claudius geworden – und seit „Paulchen“ seine großen Augen aufgeschlagen hat, begreift Charlotte nicht mehr, wie sich die Menschen, die alle mit gleichem Recht in die Welt treten, in Hochmüthige und Mißachtete zerspalten können. …

Ach, jetzt höre ich feste Schritte die Treppe heraufkommen – die Schreibstube ist geschlossen. … Ich schreibe weiter und thue, als hörte ich ihn nicht kommen, den Mann, der mich mehr verzieht, als er verantworten kann. Ich lache ihn stets aus, wenn er mich dann in seine Arme nimmt und über meinen Kopf hinweg wie entschuldigend zu meinem Vater sagt: „Sie ist ja das älteste und unbesonnenste von meinen Kindern.“ Und mein Vater nickt mit seinem zerstreuten Lächeln dazu – er ist noch immer sehr zerstreut, mein guter Papa, aber er wird von uns auf den Händen getragen, und sein neuestes Werk macht Furore in der Gelehrtenwelt. Vielleicht sind seine Enkel daran schuld – sie dürfen in der restaurirten Bibliothek rumoren, so viel sie Lust haben, und klettern auf seinen Schooß, während er schreibt. Seine Stellung bei Hofe ist angenehmer denn je, und die Prinzessin kommt oft in das Claudiushaus; aber über dem Lotharbild hängt ein dunkler Vorhang, und die Tapetenthür in der Karolinenlust ist zugemauert worden. …

Jetzt ist der hohe, noch immer schlanke Mann leise eingetreten, er biegt sich über die Korbwanne und betrachtet sein schlafendes Töchterchen. …

„Es ist erstaunlich, wie das Kind Dir ähnlich sieht, Lenore.“

Ich springe stolz auf, denn er sagt das mit einem entzückten Blick. … Fort mit der Feder und dem Manuscript! Sie haben keine Farben für den Sonnenglanz des Glückes über der Stirn des „Haideprinzeßchens“!