Das Haus der Büßerinnen
Es war ein heller, heitrer Wintertag, ein Tag voll Sonnenschein, blauen Himmels und milder Luft, wie ihn der Januar Norddeutschland selten zum Geschenk macht. Ich fuhr, wie ich es häufig thue, mit einem mir befreundeten Arzte in den Straßen Berlins umher, und ließ mir von ihm Freude und Weh in der praktischen Ausübung seiner Wissenschaft erzählen.
„Haben Sie denn schon einmal,“ fragte er mich, indem eine Krankheitsgeschichte voll Jammer und Elend ihn unwillkürlich auf den Gegenstand führte, „von dem Magdalenenstift gehört?“
„Gehört wohl,“ erwiderte ich, „aber wenn ich nicht irre, ist auch dieser neue Versuch der Humanitätsprincipien unseres Jahrhunderts eingegangen, er hat keine Erfolge gehabt. In Deutschland gibt es, außer dem hiesigen, nur noch ein solches Asyl, es heißt Bethesda und liegt bei Boppard am Rhein.“
„Nein, eingegangen ist es nicht, doch weiß ich auch nichts Näheres darüber. Johann, nach Magdalenenstift!“
Der Kutscher trieb die starken, braunen Mecklenburger an, der Wagen rollte im starken Tempo durch die Straßen und bald befanden wir uns am Unterbaum, passirten dort zu Fuß die starke Eisdecke der Spree und standen am andern Ufer. Vor uns dehnte sich das freie Feld aus, rechts erhoben sich in der Ferne die Zinnen und Thürme des pennsylvanischen Gefängnisses, links, mitten auf dem Felde, sahen wir einen von Bretern und Pfählen gebildeten Zaun, der, hier und da von Buschwerk umgeben und verborgen, einen ziemlich großen Raum in Quadratform umschloß. Es blieb uns nichts anderes übrig, als unseren Weg nach dem Zaun zu nehmen, um uns dann weiter zu orientiren. Wir waren richtig am Ziel unserer Wanderung angekommen. Eine kleine Melallplatte, im Sommer ganz im Gebüsch verborgen, trug die Aufschrift: „Eingang zum Magdalenenstift“, eine Klingelschnur hing daneben. Wir standen vor dem Hause der Büßerinnen.
Ich zog die Klingel. Ein lang verhallender Ton antwortete, und bald öffnete sich die schmale, unscheinbare Holzthüre, und in derselben erschien ein junges Mädchen mit blühendem, hübschem Gesicht, in einem einfachen Kattunkleide und weißem Brusttuche, und fragte, was wir wünschten.
„Wir wünschen die Frau Oberin zu sprechen, melden Sie uns an, mein Kind,“ erwiderte der Geheimerath und nannte seinen Namen. „Ist die Frau Oberin zu Hause?“
„Die Frau Oberin geht niemals aus,“ sagte das Mädchen und ging voraus. Wir standen im Innern der Umzäunung und hatten, bis sie zurückkam, Zeit genug, uns umzusehen. Vor uns [88] lag ein, wie es schien, wohlgepflegter Küchengarten, der sich nach allen Seiten hin bis an die Grenzen des etwa acht Fuß hohen Zaunes ausdehnte und eine Reihe theils einstöckiger, theils zweistöckiger Gebäude umgab. Das Ganze machte den Eindruck eines einfachen Landhauses mit einigen Wirthschaftsgebäuden. Eine friedliche Stille lag über dem ganzen Raume ausgebreitet, durch nichts als durch das Brüllen einer Kuh unterbrochen; Alles machte den Eindruck von großer Ordnung, Wirthschaftlichkeit und Sauberkeit. „Wenn der hohe Zaun nicht wäre,“ sagte ich zu meinem Begleiter, „glaubte ich mich in das Landhaus eines meiner Freunde versetzt, den ich einmal in der Nähe von London besuchte. Ich lernte ihn auf einer meiner italienischen Reisen in Venedig kennen.“
Ich hatte kaum ausgesprochen, so trat eine große Frauengestalt aus dem Hause. Sie war noch jung, noch nicht über die Mitte der Dreißig hinaus, ihre Gesichtszüge verriethen viel Intelligenz und Gutmüthigkeit, ihre schönen braunen Augen hatten einen seelischen Ausdruck. Ich mußte sie schon einmal irgendwo gesehen haben, in anderen Verhältnissen, in anderer Umgebung, vor zehn, fünfzehn Jahren, vergebens rieth ich hin und her, ich konnte den Platz für diese Gestalt in meinen Erinnerungen nicht wieder finden. Meine Gedanken irrten hin und her, immer blieben sie an der Schwelle eines glänzend erleuchteten Ballsaales stehen. Aber es war nicht möglich! Die Frau war ganz in Schwarz gekleidet, ein schmaler, weißer Streif umschloß ihren Hals, ihr Kopf war mit einer weißen, kleinen, enganliegenden Haube bedeckt. „Ich bin die Oberin dieses Hauses,“ redete sie uns an, „die Herren wünschten mich zu sprechen?“
Der Geheimerath stellte sich und mich der Dame vor, und sprach ihr unsern Wunsch aus, das Stift und seine Bewohnerinnen zu sehen.
„Ich werde mir ein Vergnügen daraus machen, den Wunsch der Herren zu erfüllen,“ erwiderte die Frau, „wollen Sie erst in meine Wohnung kommen, damit ich Ihnen einige nähere Aufschlüsse gebe!“
Wir stiegen eine Treppe hinauf. Die eine Thür des Treppenflurs führte in die Wohnung der Oberin. Es waren zwei einfache Zimmer, ein Wohnzimmer und ein Schlafzimmer. An das Schlafzimmer stieß ein zweites Schlafzimmer. Es standen drei einfach, aber sehr reinlich bezogene Betten darin. „Hier schlafen drei junge Mädchen aus diesem Hause,“ sagte die Oberin, „die ich ganz in meiner Nähe habe, da sie erst seit Kurzem hier verweilen und den Weg zur Besserung erst kürzlich betreten haben.“ Das Wohnzimmer war sehr einfach eingerichtet, ohne jeden Luxus; aber doch sah man an der Ordnung, Zierlichkeit und an einem gewissen Comfort, der sogar in dieser Einfachheit wieder zu erkennen war, daß hier eine Dame von Stande wohnte, welche ehemals in der Welt in ganz anderen Verhältnissen gelebt hatte. Ich dachte wiederholentlich an den Ballsaal, ohne sie doch darin in einer bestimmten Gestalt wieder erkennen zu können. An der Wand hing ein gekreuzigter Christus, gegenüber über dem Sopha ein Kupferstich, ein Bild der Magdalena als Büßerin, nach der das Haus seinen Namen führte. „Wollen die Herren nicht Platz nehmen?“ sagte die Oberin und setzte sich mit dem Anstande einer Dame von Welt auf das Sopha. Der Geheimerath und ich ließen uns auf zwei am Tische stehende Rohrsessel nieder. „Ich werde Ihnen nun Einiges von diesem Hause und den hier befindlichen Mädchen erzählen,“ fuhr die Oberin fort.
„Das Haus ist von Ihrer Majestät der Königin gegründet worden, und steht auch noch heute unter ihrer besonderen Protection, sowie unter Protection der Frau Prinzessin von Preußen. Die meisten Mittel erhält die Anstalt aus Staatsfonds, welche der König dazu anweist. Die Beiträge, welche uns aus der Stadt zufließen, sind leider nicht von Bedeutung. Der Erwerb des Hauses für Wäsche und Handarbeiten, welche uns aus der Stadt zugeschickt und hier besorgt werden, beträgt durchschnittlich jährlich wenig über dreihundert Thaler. Für einige von den Mädchen, welche im Hause sind, werden von Freunden, Verwandten oder wohlthätigen Herzen Kostgelder bezahlt. Das Kostgeld beträgt sechzig Thaler jährlich. Jedoch übersteigt die Summe der Kostgelder auch kaum dreihundert Thaler alle Jahre. Der Ertrag der mit dem Hause verbundenen Feld- und Viehwirthschaft wird zur Ernährung der Mädchen verwandt und liefert zur Unterhaltung des Hauses bedeutende Beiträge. Unsere Einnahmen betragen an 4000 Thaler, unsere Ausgaben einige hundert Thaler weniger. Die Zahl der hier befindlichen Mädchen beträgt durchschnittlich 33–36, und die Unterhaltungskosten für jedes Mädchen schlagen wir jährlich zu 83 Thaler an. Sie sehen, meine Herren,“ schloß die Oberin lächelnd ihren kurzen Finanzbericht, „unsere Einnahmen übersteigen immer noch unsere Ausgaben, und der Fond, den wir haben, hat sich von fünfhundert schon auf anderthalbtausend Thaler erhöht. Leider erlauben uns unsere nicht bedeutenden Mittel nicht, soviel Plätze einzurichten, wie wir wohl einrichten möchten. Die Zahl der unglücklichen Mädchen, welche hier Aufnahme erbitten, oder für welche Andere dieselbe suchen, ist so groß, daß mindestens drei bis vier neue Asyle eingerichtet werden müßten.“
„Wie ist denn nun die Einrichtung dieses Hauses, Frau Oberin?“ fragte der Geheimerath. „Sie können doch unmöglich dieser großen Einrichtung allein vorstehen?“
„Nein, das wäre nicht möglich,“ erwiderte die Oberin des Magdalenenstiftes. „Ich werde in meinem Wirken von einem hier angestellten Prediger und vier Mithelferinnen unterstützt. Das Erbarmen mit einzelnen Unglücklichen, die uns nahe traten, und das Verlangen, dieselben zu retten, hat unser Magdalenenstift hervorgerufen, und auf dem Grunde dieses Erbarmens hat es sich weiter ausgebreitet. Es bietet gefallenen und sittlich verderbten Mädchen, die den Weg des Lasters verlassen wollen, eine Zuflucht. Die Mädchen werden hier fleißig zur Religion, zur Arbeit und Ordnung angehalten, so daß sie nach etwa ein bis zwei Jahren als brauchbare Dienstboten entlassen werden können. Wie ich Ihnen schon mittheilte, ist ein Prediger an der Stiftung angestellt, der außer dem sonntäglichen Gottesdienste im Betsaal des Hauses alle Tage Morgen- und Abendandacht hält. Ich selbst leite die ganze Oekonomie, die Beschäftigung und Erziehung der Mädchen und die Krankenpflege. Die Fürsorge für die Gesundheit hat ein hiesiger Arzt freiwillig übernommen. Die Mädchen werden durch die sechs Mithelferinnen, von denen Eine die Wirthschaft und eine Andere die Küche besorgt, fortwährend beaufsichtigt und zur Arbeit angewiesen. Die Arbeiten bestehen in Nähen, Waschen, Stricken, in Haus-, Garten- und Feldarbeiten. Um die Mädchen auch durch schwerere Arbeiten zu kräftigen, ist nämlich außer dem geräumigen Garten noch ein Stück Landes in der Nähe des Hauses gemiethet, welches unter Anleitung des Gärtners der Anstalt von ihnen bearbeitet wird. Dadurch wird zugleich der Bedarf an Gemüse und Kartoffeln, sowie die Erhaltung des kleinen Viehstandes der Anstalt bedeutend billiger erlangt. Da die meisten Mädchen bei ihrem Eintritt körperlich, wie geistig verkommen sind und nichts ordentlich verstehen, ist der baare Ertrag der Arbeiten verhaltnißmäßig ziemlich unbedeutend. Das Meiste wird noch durch Nähen erworben, worin Manche eine ziemliche Geschicklichkeit erlangen. Für geistige Förderung und Unterhaltung ist eine kleine Bibliothek guter christlicher Volksschriften vorhanden, woraus die Aufseherinnen bisweilen bei der Arbeit vorlesen und womit sich die Mädchen an Sonntagen und Festtagen, an welchen sie sich auch im Schreiben üben, beschäftigen. Auch wird der Gesang fleißig getrieben und in zwei Stunden wöchentlich darin besonderer Unterricht ertheilt. Im Sommer wird um fünf Uhr, im Winter um sechs Uhr aufgestanden, alsdann wird ein Spruch aus der heiligen Schrift vorgelesen und die aufgegebenen Schriftstellen oder Liederverse gelernt; darnach werden häusliche Arbeiten besorgt, und im Sommer um sechs, im Winter um sieben Uhr gefrühstückt; eine Viertelstunde nachher versammeln sich Alle zur gemeinsamen Morgenandacht. Nach der Andacht beginnt der Unterricht, und nach diesem die Arbeit, die bis zwölf Uhr dauert. Alsdann findet das Mittagessen statt, worauf um ein Uhr wiederum die Arbeit beginnt, die um vier Uhr durch den Kaffee eine Viertelstunde unterbrochen wird, dann bis zum Abendessen um acht Uhr fortdauert und nach diesem noch bis neun Uhr fortgesetzt wird, worauf um halb zehn Uhr mit einer Abendandacht geschlossen wird. Nicht wahr, Herr Geheimerath, nun haben Sie auch ein Bild von unserer Hausordnung?“
„Ich habe neulich von einer anderen Hausordnung gelesen, Frau Oberin, auch in einem Zufluchts- und Besserungshause – es ist in Berlin am Alexanderplatz; aller Schmutz der Menschenseelen und der Armuth wird dort aufeinander geworfen, wie ein großer Kehrichthaufen, um für einige Zeit von der Straße zu verschwinden und dann in anderer Weise wieder zu erscheinen. Diese Anstalt könnte sich Ihre Hausordnung als Muster nehmen.“
„Alle, die in der Anstalt aufgenommen werden,“ fuhr die Oberin fort, „müssen sich derselben Ordnung unterwerfen und die [89] vorgeschriebene einfache Kleidung tragen. Auf Reinlichkeit, Ordnung und Pünktlichkeit wird sorgfältig gehalten, und jeder Ungehorsam, sowie jede Lüge ernstlich gerügt und unter Umständen angemessen bestraft. Als das einzige rechte Mittel, von Sünden frei zu werden, sehen wir aber immer die wahre Herzensbekehrung an, und obwohl eine strenge Zucht für solche Personen, die nie an Zucht und Ordnung gewöhnt wurden, durchaus nothwendig ist, suchen wir doch bei aller Strenge überall die Liebe hervortreten zu lassen und uns vor gesetzlichem Methodismus zu hüten.“
„Sie haben von strengen Strafen gesprochen, Frau Oberin,“ unterbrach ich ihre Rede, „worin bestehen denn diese? Wenden Sie hier auch Schläge an, wie in allen Zuchthäusern und Besserungsanstalten? Gehen Sie auch von der Idee aus, daß das Menschenherz ohne Stockschläge keiner Besserung fähig ist?“
„O nein,“ gab die Frau mit lächelnder Miene zur Antwcrt; „hier waltet die Liebe in ihrer Barmherzigkeit, und nicht der Stock. Geschlagen wird hier nie. Wir haben oben im Hause eine Bodenstube – Sie sollen sie sehen, mancher Proletarier wohnt mit Frau und Kindern sein Lebelang in einer solchen Stube, – das ist unser Gefängniß, und die Gefängnißstrafe besteht darin, daß ein Mädchen, bei der alle Ermahnung und alle Liebe nichts hilft, dort oben einige Tage allein wohnt und allein schläft. Ich selbst bringe ihr dann Morgens, Mittags und Abends das Essen und nehme sie dann zu mir in das kleine Zimmer neben meinem Schlafzimmer, das Sie so eben gesehen haben.“
„Wann werden denn die Mädchen entlassen, und bleiben Sie mit ihnen auch nach ihrer Entlassung in einer Verbindung, um sie weiter zu beaufsichtigen und auf sie zu wirken?“
„Allerdings. Die Mädchen werden gewöhnlich nach zwei Jahren entlassen. Sie müssen sich aber nicht denken, daß sie gezwungen sind, zwei Jahre hier zu bleiben. O nein, gehen kann Jede, wenn sie will. Sie kommen freiwillig und gehen freiwillig. Das Haus der Büßerinnen ist keine Gefangenenanstalt. Auch beweisen fast Alle, die als gebessert entlassen sind, noch fortwährend Anhänglichkeit und Liebe zur Anstalt. Wir verschaffen ihnen dann durch unsere Verbindungen einen Dienst, bei Bekannten in der Stadt, aber am liebsten auf dem Lande, bei Predigern und Gutsbesitzern. Sie werden aber nur in solche Häuser gegeben, wo wir sie sorgfältig beobachtet und unter dem Einflüsse einer strengen Moralität wissen. Sie erhalten ihre Kleidung und ihre ganze Ausstattung für den Dienst von der Anstalt, und da ihr Lohn an dieselbe ausgezahlt und ihnen bewahrt wird, verdienen sie auch ihre Ausrüstung bald ab, und haben nach Ablauf der Zeit noch etwas erspart. Wir haben ein Mädchen hier im Stift gehabt, die sich hernach in ihrem Dienst über zweihundert Thaler erspart hat. Jetzt ist sie gut und glücklich verheirathet. Auch sind sie verpflichtet, wenn sie in unserer Nähe bleiben, wenigstens alle vierzehn Tage zum Gottesdienst in die Anstalt zu kommen. Zur Abendmahlsfeier kommen sie aus der Ferne halbjährlich. Wenn sie aber während der ersten Jahre erkranken, oder sich etwas zu Schulden kommen lassen, werden sie vorläufig wieder in die Anstalt zurückgenommen. Hier, lesen Sie die Bedingungen für die Herrschaften, welche Mädchen aus dem Magdalenenstift in Dienst nehmen.“
Mit diesen Worten überreichte die Frau Oberin mir ein gedrucktes Blatt, und ich las:
„Die Herrschaften verpflichten sich, die Mädchen vor sittlichen Gefahren möglichst zu behüten. Zu dem Ende ist den Mädchen alle Theilnahme an öffentlichen Vergnügungen und jeder andere Verkehr, als der mit der Anstalt selbst oder ein von derselben erlaubter, zu untersagen.
„Die Herrschaften zahlen den Lohn und etwaige Geldgeschenke der Mädchen vierteljährlich an die Anstalt. Die Mädchen dürfen durchaus kein Geld in Händen haben, und müssen auch das als Geschenk empfangene der Herrschaft übergeben. Ebensowenig dürfen sie ohne Wissen der Herrschaft Briefe absenden oder annehmen.
„Die in Berlin und der Umgebung wohnenden Herrschaften schicken die Mädchen mindestens alle vierzehn Tage zu dem Vormittagsgottesdienst, und wenigstens zweimal im Jahre zur Beichte und zum heiligen Abendmahl, wenn irgend möglich, für einen ganzen Tag, in die Anstalt; außerdem einmal in jedem Monat Sonntags Nachmittags und Abends und zweimal im Jahre an Festtagen der Anstalt. Die entfernter wohnenden Herrschaften lassen die Mädchen möglichst oft, mindestens jeden zweiten Sonntag, zur Kirche gehen, und geben ihnen zweimal im Jahre, um das heilige Abendmahl in der Anstalt zu feiern, zwei freie Tage.
„Wegen der Kündigung und Entlassung der Mädchen haben die Herrschaften sich nur an die Anstalt zu wenden. Wenn die Entlassung vor Ablauf der Wiederzugsfrist nothwendig ist, müssen die Mädchen der Anstalt überliefert werden. Bei Abwesenheit der Herrschaften oder in Krankheitsfällen können dieselben der Anstalt gegen eine billige Vergütigung übergeben werden.“
„Welche Resultate haben denn Ihre Bemühungen?“ fragte ich und gab der Oberin des Büßerinnenhauses das Blatt zurück. „Sind sie Ihren Wünschen entsprechend?“
„Meinen Wünschen entsprechend? Nein. Aber befriedigt würde ich sein, wenn ich jährlich nur ein einziges dieser elenden und verkommenen Geschöpfe retten könnte. Nach den Erfahrungen, welche ich hier gemacht habe, würden unsere Anstrengungen bei einem Drittel der Mädchen Früchte tragen, wenn Alle zwei Jahre hier blieben. Leider ist dies nicht der Fall, und so kann ich auch als Durchschnittszahl nicht ein Drittel annehmen. Wir erhalten hier die verwahrlostesten und elendesten Geschöpfe von der Welt, körperlich gänzlich ruinirt, moralisch auf’s Tiefste gesunken. In ihrer Seele toben alle schlechten Leidenschaften. Nur eine Eigenschaft haben sie nicht, die Demuth und den Gehorsam. Eitel, neidisch, zänkisch, unbändig, roh bis zum höchsten Grade, sind sie zuerst allen Ermahnungen und Bitten abhold. Ihre Seele muß erst durch die Liebe und durch die Religion gezähmt werden, bis wir bei ihr Eingang finden. Der Standpunkt der geistigen Bildung der Mädchen ist meistens gleich Null. Wir müssen alle Keime erst pflanzen und wecken, um darauf irgend eine Besserung zu gründen. Es werden uns oft Mädchen von dreizehn bis funfzehn Jahren gebracht, die von ihren Eltern und Vormündern schon gänzlich aufgegeben sind. Das Krankenhaus und das Gefängniß schickt uns die verworfenstes Geschöpfe, welche jede Stufe der geistigen und körperlichen Schande hinabgestiegen sind, und doch tragen unsere Bemühungen gerade bei ihnen oft die besten Früchte. In der That hat mancher dieser Unglücklichen niemals Jemand sich in rechter Liebe angenommen. Viele von ihnen sind von rohen und verkommenen Eltern, häufig von Stief- und Pflegeeltern, – manche haben wenigstens einen Vater niemals gekannt – von Kindheit an verdorben und ohne Erziehung, ohne alle Anweisung zur Arbeit und Ordnung im Elende aufgewachsen und schon früh zu der Sünde angeleitet worden. Soll es mir da nicht eine große Freude machen, wenn ich ein solches unseliges Geschöpf einem reinen und sittlichen Leben wieder zuführe, wenn ich ihre tiefgesunkene Seele aus dem Sumpf dieses Lebens errette? O, ich erlebe oft große Freude mit diesen Mädchen. Noch gestern erhielt ich einen Brief von Einer, welche jetzt schon mehrere Jahre von hier entlassen und bei einer befreundeten Gutsbesitzerfamilie im Dienst ist. Wie habe ich mich über diesen Brief gefreut! Sie war ein schönes, reizendes Geschöpf, tief gesunken, unbändig, voll schlechter Leidenschaften, und doch ist sie so brav, so vortrefflich geworden. Zu meinem großen Schmerze muß ich Ihnen freilich gestehen, daß oft alle Bitten und Bemühungen vergeblich sind. Niemand ist hier unfreiwillig. Jedes Mädchen kann gehen, sobald sie will. Die Thüre, durch welche Sie in unser stilles Haus getreten sind, steht Jeder offen. Ist sie gegen alle Vorstellungen des Predigers taub, setzt sie allen meinen Ermahnungen und Bitten Widerstand entgegen, so halten wir sie keine Stunde mehr fest. Nur die christliche Liebe soll die Mädchen mit diesem Hause verbinden, niemals der Zwang.“
So sprach die Oberin des Hauses der Büßerinnen und erhob sich. Die innere Erregung, mit der sie von den Freuden und Leiden ihres Hauses sprach, hatte ihr blasses Gesicht leicht geröthet. „Wollen Sie jetzt unser Haus und die Mädchen sehen, meine Herren?“ sagte sie, und bejahend standen wir auf. Von dem Treppenflur führte eine andere Thüre in ein Arbeitszimmer der Mädchen. Es war freundlich, warm und hell. Die Aussicht ging auf den Garten und das Feld. Um einen Tisch saßen sechs junge Mädchen, alle, wie es schien in dem Anfang der zwanziger Jahre, alle gesund, frisch und heiter aussehend, mehrere von sehr hübschen Gesichtszügen. Als wir eintraten, standen sie alle auf. Zerschnittene Kleiderstoffe lagen auf dem Tische, vor dem Tische saß eine junge Dame, in die Tracht der Helferinnen des Hauses gekleidet; sie trug ein schwarzes wollenes Kleid und eine weiße Schürze mit Brustlatz. Sie hatte ein Buch in der Hand, aus dem sie den Mädchen vorgelesen hatte. „Es gehen nächstens zwei von meinen [90] Zöglingen fort,“ sagte die Oberin, „und ziehen in einen Dienst; da besorgen wir nun die Ausstattung und nähen ihnen die Kleider, welche sie mitnehmen, und während der Arbeit liest Fräulein von ** vor.“ Dann sprach mein ärztlicher Freund mit einigen von den Mädchen, sich nach ihrem Gesundheitszustand erkundigend. Ich machte vor kurzem einen Besuch in dem Hause des Elends am Alexanderplatz, welches in der Acten- und Geschäftssprache der preußischen Büreaukratie sehr uneigentlich „das Arbeitshaus“ heißt. Als ich durch die Säle ging, in denen die liederlichen Mädchen detinirt werden, lachten sie mich an, kicherten mit einander und machten sich gegenseitig freche Bemerkungen. Die Mädchen, welche hier im Hause der Büßerinnen die Kleider ihrer scheidenden Genossinnen nähten, standen bei ihrem Eintritt wahrscheinlich auf einer weit tieferen Stufe der Verdorbenheit und Gesunkenheit. Und sie hatten die Schamlosigkeit und Frechheit auf ihren Gesichtern und in ihrem Wesen alle abgelegt. Niemand, der sie nicht kannte, wäre im Stande gewesen, die Geschichte ihrer Vergangenheit in ihren Zügen zu lesen. Es waren die Gesichter der reuigen Magdalena, nach der das Haus seinen Namen führt. Nichts, keine Bemerkung, keine Bewegung, erinnerte an ihre schreckliche Vergangenheit, Alle hatten das Aussehen fleißiger, sittsamer Arbeiterinnen. „Sind Sie zufrieden mit Ihren Zöglingen?“ fragte die Oberin Fräulein von **. „Ich habe nicht Ursache zu irgend einer Klage,“ erwiderte die Vorsteherin.
Dann gingen wir durch die Schlafzimmer, welche an das Arbeitszimmer stießen. Ueberall die größte Einfachheit, Ordnung und Reinlichkeit. Einige Mädchen gingen an uns vorüber, welche mit häuslichen Geschäften beauftragt waren. In ihrem Wesen war derselbe Ausdruck unverkennbar, wie bei den Mädchen in dem Arbeitszimmer, welche wir soeben gesehen hatten. Ueberall hätte man glauben sollen, man befinde sich in einer Pensions- oder Erziehungsanstalt für arme Mädchen. Es wurde dort unter Aufsicht und Mitwirkung einer Helferin die Wäsche gewaschen, welche der Anstalt aus der Stadt zur Besorgung zugeschickt wird. Welch ein Unterschied zwischen diesem Waschhause und dem Waschkeller des Arbeitshauses, dessen ich schon mehrmals erwähnt habe! Dort hatte ich die gemeinsten Schimpfreden und die frechsten Scherze gehört, welche mein Ohr jemals vernommen hat. Hier herrschte ein freundliches, ruhiges Wesen, ein gesittetes Benehmen; jede war mit ihrer Arbeit beschäftigt. Und doch waren es dieselben verwahrlosten Geschöpfe, welche ich in dem schrecklichen Waschkeller gesehen hatte. Die Milde und Erziehung, welche in den Räumen dieses Hauses herrschte, hatte ihre Herzen umgewandelt und veredelt. Eine Uhr schlug halb Eins. „Es wird gleich gegessen,“ sagte die Oberin; „wenn Sie wollen, können Sie bei unserem Mittagsessen gegenwärtig sein. Aber vorher, da Sie darnach gefragt haben, will ich Ihnen doch unser sogenanntes Gefängniß zeigen; Sie könnten sonst von hier scheiden und den Gedanken mitnehmen, daß wir unsere Erziehung mit strengen Strafen machten.“ Wir stiegen dann wieder die Treppe hinauf und kamen auf den Boden des Hauses. An der einen Seite desselben war eine kleine Bodenkammer abgetheilt. Es war ein kleines Stübchen mit der Aussicht in’s Freie. In demselben standen ein Tisch, ein Paar Stühle und ein sehr einfach bezogenes Bett. „Sehen Sie, dies ist unser sogenanntes Gefängniß, wenn Sie es so ansehen wollen,“ sagte die Oberin. Das Gefängniß sah aus wie die Stube eines armen Mannes, aber reinlich und hell.
Unten im Hause hatte das Mittagsessen bereits begonnen. Als wir den großen und freundlichen Saal betraten, fanden wir alle Mädchen an zwei weiß gedeckten, langen Tischen sitzend. Oben an dem Tische saßen die Vorsteherinnen des Hauses. Die Speisen bestanden aus Brühkartoffeln und Rindfleisch. Jedes Mädchen hatte einige Schnitte gutgebackenes Brod neben ihrem Teller liegen. Es schien Allen vortrefflich zu schmecken. Jede war nur mit ihrem Mittagessen und im leisen Gespräch mit ihrer Nachbarin beschäftigt. Keine Einzige richtete ihre Aufmerksamkeit auf uns, als wir in den Saal traten und mit der Oberin langsam zwischen den Tiscken durchgingen. Wenn ein Blick uns traf, so dauerte er nur eine Secunde. Wer in diesen Eßsaal trat, hätte, ohne es zu wissen, nie errathen, in welcher Gesellschaft er sich befand. Wir verabschiedeten uns von der Oberin und den Vorsteherinnen, und Erstere begleitete uns durch den Garten bis zu der kleinen Thüre, an der wir vor kurzem mit so großer Neugierde die Klingel gezogen hatten. Ich konnte nicht umhin, bevor wir den Garten verließen, der Oberin des Hauses meine Bewunderung auszudrücken über das, was ich gesehen und gehört hatte, und insbesondere meine Bewunderung über ihre eigene Aufopferung und Seelengröße, ihr Leben mit der Erfüllung einer so schwierigen Aufgabe hinzubringen, wie die war, welche sie hier übernommen hatte. „Darf ich wohl fragen,“ sagte ich, „wen ich die Ehre gehabt habe, heute kennen zu lernen, und jetzt meine ganze Bewunderung auszusprechen?“
Sie lächelte und sagte: „Ach, Sie wollen meinen Namen wissen, den ich einst in der Welt, jenseits der Mauern dieses stillen Hauses führte? Ich heiße von **.“
Verwundert sah ich sie an. Ich erkannte sie sofort wieder. „War Ihr Herr Vater nicht der Präsident von **, gnädige Frau?“ sagte ich.
„Ja wohl, mein seliger Vater war der Präsident von **. Kannten Sie ihn?“
„Ich hatte die Ehre, Ihren Herrn Vater zu kennen,“ erwiderte ich, nahm den Hut ab und verbeugte mich tief zum Abschiede. Fräulein von ** erkannte mich nicht mehr. Ich hatte sie oft früher in den glänzenden Gesellschaften der Residenz gesehen.
Die Thüre schloß sich hinter uns, und hinter uns lag das Haus der Büßerinnen, der stille Zufluchtsort für die elendesten und beklagenswerthesten Geschöpfe, welche auf Gottes schöner Erde leben. Wir gingen wieder zu dem Ufer des Flusses, und überschritten vorsichtig zum zweiten Male die ächzende Eisdecke. Drüben hielt unser Wagen. Dem Kutscher und den Pferden mochte die Zeit lang genug geworden sein. – – „Wissen Sie, Doctor,“ sagte ich zu meinem ärztlichen Freunde, als wir im gestreckten Trabe nach der Stadt zurückfuhren, „ich habe heute wieoer einen großen Menschen gesehen. Wie Sie wissen, durchstreifte ich im vorigen Jahre die östlichen Alpen und Ober- und Mittelitalien. Ich hörte in den Alpen von Geistlichen sprechen, welche an den Grenzen der Welt des Erstarrtseins wohnen, welche mitten in Eis und Schnee ein ganzes langes Leben der Seelsorge armer Bauern widmen. Ich dachte an die Säulenheiligen des Mittelalters, an jene unsterblichen Mönche und Einsiedler, welche in den ersten Zeiten des Christenthums ihr Leben für jene großen culturhistorischen Zwecke opferten. Ich stieg die Querthäler der Alpen hinauf bis zu den äußersten Grenzen der Vegetation, wo der erstarrende Tod nach den letzten Gräsern seine kalten Arme ausstreckt. Und was fand ich? Stupide Priester, welche ohne irgend eine hohe Idee ihrer großen Pflicht ihr Amt verwalteten, weil sie an dieser einsamen Stelle ihr kärgliches Brod aßen. Nur einmal fand ich in Italien einen Geistlichen, welcher, von dem Gedanken seines hohen Berufes begeistert, eine halbe Stunde von einer prächtigen, mit allem Luxus und allem Sinnenreiz geschmückten Stadt entfernt, einen schwierigen und mühevollen Beruf mit der ganzen Aufopferung eines begeisterten Menschen verwaltete. Es war der Pater Arzt in einem Irrenhause auf der kleinen Insel San Servolo in der Nähe von Venedig. Er gehörte zu dem Orden der Barmherzigen Brüder, und er hatte sich den Wahlspruch: „Fate bene fratella“ zu seinem Lebensprincip gewählt. Heute habe ich in der Oberin jenes stillen Hauses, welches wir soeben besucht haben, sein Ebenbild gefunden.“