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Das Kind versteht es noch nicht

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
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Autor: F. S.
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Titel: Das Kind versteht es noch nicht
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 35, S. 560
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1860
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[560] Das Kind versteht es noch nicht. Das ist eine gewöhnliche Entschuldigung der Mütter, wenn man ihnen den Vorwurf macht, daß sie ihren Kindern allen Willen lassen und ihren Launen niemals eine Schranke setzen. Es ist eine unbestrittene Thatsache, daß gewöhnlich das erstgeborene oder das letzte Kind einer Familie, das sogenannte Nesthäkchen, verzogen werden. Man gibt dem Kinde jeden Gegenstand, auf den es mit den Fingerchen deutet und nach dem es Verlangen trägt, weil die Mutter sieht, daß ihr Kind dadurch ruhig und freundlich bleibt; ja es gibt Mütter, welche es als Sünde betrachten würden, wenn sie ihrem Sprößlinge nur das Geringste verweigern würden. Dadurch wird das Kind gewöhnt, jeden Wunsch erfüllt zu sehen, und geschieht dies nicht, so fängt es an zu weinen. Da nun viele Mütter ihre Kinder nicht weinen sehen können, bringen sie den verlangten Gegenstand, und das Kind beruhigt sich. Derlei Manöver wiederholen sich öfters, da sich das Kind nur zu gut gemerkt hat, daß es durch Schreien, Weinen oder durch Trotz alles erzwingen kann.

„Es darf der Laune des Kindes nach ungebundener Willkür niemals freier Lauf gelassen werden,“ sagt Professor Bock in seinem trefflichen Buche vom gesunden und kranken Menschen, „sondern es muß ein Gesetz beobachtet werden, nach welchem sich die vernünftige Gewährung des Einen und das Versagen des Andern richtet; dann wird das Kind nach und nach ein Gefühl vom Gesetz gewinnen, dem sich unterzuordnen Nothwendigkeit ist.“

Dieser wichtige Grundsatz jeder vernünftigen Kindererziehung wird nur selten beobachtet. Merken endlich die Mütter, daß das Kind boshaft und eigensinnig wird, so glauben sie durch harte Strafen und durch Schläge den bösen Samen ausrotten zu können, den sie selbst so fleißig gesäet; aber nun ist es freilich zu spät, und die Erfahrung beweist es, welchen Irrweg man gegangen und daß eine Einwirkung auf die Entwicklung des Kindes bereits stattfinde, ehe noch das Kind ein Bewußtsein vom sittlichen Werthe oder Unwerthe seiner Handlungen habe.

Wie oft hörte ich nicht von Müttern, denen ich ihr verfehltes Erziehungssystem vorstellte, folgende Worte: „Das Kind versteht es ja noch nicht. Wie soll denn das Kind schon so viel Verstand haben, als ein erwachsener Mensch? Das verliert sich alles mit den Jahren,“ und dergleichen Floskeln mehr. Mütter, welche so reden, bedenken nicht, daß die ersten Jahre des Kindes die entscheidendsten und wichtigsten für das ganze übrige Leben sind, und zeigen auf das Deutlichste, daß ihnen der wichtigste Factor eines Erziehers, zu welchem sie von der Natur aus für dieses Lebensalter des Kindes bestimmt sind, nämlich die genügende Bildung, mangle und daher die Erziehung der Kinder unter ihren Händen eine gänzlich verfehlte sein müsse.

Ein Kind, welches eine verfehlte Erziehung genossen und das nun die Eltern durch körperliche Züchtigungen bessern und, gut deutsch gesagt, ihr eigenes schlechtes Erziehungssystem aus dem Kinde herausprügeln wollen, ein solches Kind wird nur in den seltensten Fällen jene eingeimpften Fehler ablegen, meistens aber wird durch Schläge nichts erreicht, vielmehr die Bosheit, Heimtücke und Halsstarrigkeit des Kindes befördert, da ein Kind, das im vierten Jahre nicht auf die Worte der Eltern horcht und ihnen Gehorsam leistet, gewiß als verfehlt erzogen betrachtet werden kann. Mögen die deutschen Mütter durch diese wenigen Worte auf ein Erziehungsmaxim aufmerksam gemacht werden, das, so unbedeutend es ihnen auch erscheinen mag, doch so gewichtige und unheilvolle Folgen nicht nur für das Kind selbst, sondern auch für die menschliche Gesellschaft mit sich bringt, welche berechtigt ist, von den Eltern eine derartige Kindererziehung zu fordern, welche die nöthige Bürgschaft gibt, daß der Nachwuchs auf geeignetste Weise herangezogen werde, um als kräftige Stütze des Staatslebens dazustehen. Letzteres aber wird geschehen, wenn die Bildung überhaupt nicht blos Einzelngut der Gelehrten, sondern Gemeingut sein wird des gesammten deutschen Volkes!
F. S.