Das Matterhorn

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: J. C. Heer
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Das Matterhorn
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 18, S. 580
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1899
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger G. m. b. H. in Leipzig
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
korrigiert
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal Korrektur gelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite


[580] Das Matterhorn. (Zu unserer Kunstbeilage.) Das Matterhorn im Hintergrund des Thales von Zermatt, von welchem wir in unserer Kunstbeilage eine Abbildung nach dem Gemälde des vor kurzem verstorbenen ausgezeichneten Landschaftsmalers Otto v. Kameke bringen, ist der merkwürdigste und am kühnsten geformte Gipfel der schweizerischen Alpenwelt, ein schlank zulaufender Felsenobelisk mit scharf ausgeprägten Kanten und etwas gebogener Spitze, die sich zu 4482 m Höbe erhebt. Den Fuß von Gletschern umlagert, schaut es trotzig in das freundliche grüne Thal von Zermatt und ist so steil, daß der Schnee kaum an ihm haften bleibt.

Der von allen übrigen Bergen durch breite Gebirgssenken abgetrennte Gipfel erweckt Gefühle der Beklemmung und der Furcht, aber auch der Bewunderung, und immer muß das Auge sie wieder suchen, die einsame Spitze in ihrer Größe und Erhabenheit. Indem der Blick auf ihr ruht, kann man sich der Täuschung nicht erwehren, daß der strahlende Gipfel mit seinem Krönchen von Eis in langsamem, majestätischem Flug ins tiefe Blau des Sommerhimmels begriffen sei; er erscheint immer als der höchste im Kreis der vielen Berge von Zermatt, obgleich ihn die nahe gewaltige Gruppe des breit aufgebauten Monte Rosa an senkrechter Erhebung übertrifft.

Lange galt das Matterhorn als vollkommen unersteiglich; am 12. Juli 1865 aber gelang es dem berühmten englischen Bergsteiger Edward Whymper und seinen Freunden Lord Francis Douglas, Reverend Ch. Hudson und Mr. Hadow, die sich Peter Taugwalder, einen der tüchtigsten Männer Zermatts, und Michel Croz von Chamonix als Führer und einen Sohn Taugwalders als Träger genommen hatten, den Fuß auf die nie betretene Spitze zu setzen. Allein mit dieser ersten Besteigung des Matterhorns ist eine der furchtbarsten Absturzkatastrophen verbunden, die sich je im Hochgebirge ereignet haben. Nachdem die Männer eine Stunde auf dem Gipfel geruht hatten und im Begriffe waren, am Seil über die Felsen abzusteigen, riß dieses und mit einem entsetzlichen Schrei stürzten Croz, Hadow, Hudson und der erst neunzehnjährige Lord Douglas über die Felsen von Wand zu Wand. Ihre zerschmetterten Leichname wurden auf dem Matterhorngletscher gefunden, nur der des jungen Lords nicht. So tragisch die erste Besteigung endete, der Bann, der bisher die Spitze des Matterhorns umgeben hatte, war gebrochen, es folgten sofort neue Besteigungen, und jetzt wird der Gipfel Sommer um Sommer von kühnen Kletterern erklommen.

Das kleine Zermatt am Fuß des Berges hat sich zu einem Bergsteigerquartier ersten Ranges entwickelt und mächtige Hotels schauen über die alten niedrigen, sonnversengten Holzhäuser des Ortes, der mit dem Hauptthal des Wallis durch eine Zahnradbahn verbunden ist und von dem die höchste Bergbahn Europas bis über die Gletscher zum 3100 m hohen Gornergrat aufsteigt. Zwei grundverschiedene Kulturen begegnen sich zu Zermatt in ergreifendem Gegensatz, das üppige, sorgenlose Leben der großen, ihren Zerstreuungen ergebenen Welt und der Daseinskampf eines in den engsten Anschauungen befangenen Völkchens, das hart am Rande der Gletscher der Erde noch kurze goldene Garben abschmeichelt, im übrigen sein ewig von Lawinen und Steinschlag, von allen Gefahren des Hochgebirges bedrohtes Leben in stummer, jedes laute Lachen scheuender Gottergebenheit trägt und einen Schatz alter schöner Sagen, Sitten und Gebräuche hütet. Man kann sich keinen größeren Gegensatz denken als die lebenslustig, in bunten Gewändern auf dem Maultiere zu Berge reitende Fremde und das mit ihrem Wildheu wie ein Lasttier beladene, dem Dorfe zuschwankende, dunkel gekleidete Weib von Zermatt, dessen Leben in Arbeit und Gebet aufgeht. Allein manchmal verknüpft doch gemeinsame Sorge die beiden so verschiedenen Welten.

Eine Bergsteigergesellschaft, die nach der üblichen Zeitberechnung schon lange hätte ins Dorf zurückgekehrt sein müssen, ist noch nicht da und auch die ausgeschickte Rettungsmannschaft säumt. Aus der schlichten Dorfkirche ringen sich die Gebete der Einheimischen und Fremden in gemeinsamer Inbrunst zum Himmel. – Endlich um Mitternacht kommt ein Zug stummer Männer, mit verhüllten Gestalten auf dunklen Bahren. „Abgestürzt vom Matterhorn. – Steiger und Führer!“ Das Gebet in der Kirche und das Aufschluchzen der auf der Dorfstraße stehenden Menge. – Das ist das Band zwischen der großen sommerlustigen Welt und dem stillen Völkchen von Zermatt, sie haben beide Angehörige zu beweinen. Kein Berg hat so viele Menschenleben gefordert wie das Matterhorn. Davon reden die Steine und Kreuze auf dem Kirchhof des Dorfes. Von Zeit zu Zeit will der Löwe von Zermatt seine Opfer haben. J. C. Heer.