Das Opfer einer Republik
Walther Rathenau ist für die Republik ermordet worden, die ihn niemals geschützt hat. Die unmittelbaren Täter sind unerkannt entkommen. Die mittelbaren sind zu fassen.
Seit der Kaiser seinen Krieg geführt und verloren hat, sind die beiden großen Rechtsparteien damit beschäftigt, zu kneifen und die Schuld an Krieg und Niederlage andern aufzubürden. In ihrer Unklugheit haben sich Bürgerliche bereitgefunden, den Waffenstillstand zu unterzeichnen – es wäre des geschlagenen Ludendorffs Sache gewesen, nach Canossa zu gehen, so, wie er ja auch durchs Brandenburger Tor gezogen wäre und das nicht den Parlamentariern überlassen hätte. Es ging aber Erzberger hinüber und unterschrieb. Bürgerliche des neuen Systems gingen nach Versailles und unterschrieben. Den [70] Konkurs hätten aber die unterzeichnen sollen, die die Pleite verursacht haben: die Leute des alten kaiserlichen Preußens. Die andern haben es bitter büßen müssen.
Die geschlagenen und krumm geprügelten Generale sowie ihre Hintermänner von der Schwerindustrie und dem Großagrariertum predigen seit Jahren unablässig, daß die Konkursverwalter der Monarchie an allem schuld seien. Und dank ihrer ausgezeichneten, gutbezahlten Propaganda finden sie Dumme in Massen, die das glauben. Nicht der allein mordet, der die Handgranate wirft. Auch der, der die Atmosphäre schafft, in der so etwas möglich ist. Diese Atmosphäre ist von den Leuten um Karl Helfferich, dem Finanzverderber Deutschlands, bewußt geschaffen worden.
So, wie Karl Helfferich intellektuell an der Ermordung Erzbergers schuld ist, so sind die beiden Rechtsparteien – die Deutschnationale und die Deutsche Volkspartei – schuld an der Verbreitung der faustdicken Lügen und Verdrehungen, die Rathenau das Leben gekostet haben. Die Provinzpresse rast seit Monaten gegen den Republikaner, den Steuererfasser, den Juden Rathenau. Denn das ist hier noch immer so gewesen: was der Junker versaut, muß der Jude ausfressen.
Die Regierung hat geschlafen. Die Beamten der Republik haben fahrlässig gehandelt und haben ihre Pflicht nicht getan. Man hat sie gewarnt, immer wieder gewarnt; jeder, der die Seelenbeschaffenheit dieser Radaupreußen kannte, sagte, daß man mit Nachgibigkeit gar nichts erreichte – sie haben doch nur vor einem einzigen Furcht: vor der durchgreifenden Macht. Die Wilhelmstraße wußte es aber besser. Sie hat Rathenau nicht geschützt. Sie ist mitschuldig.
Eine ungeheure Mitschuld trifft auch die demokratische Presse. Sie, deren Bedeutung in gar keinem Verhältnis zu dem kleinen Häuflein demokratischer Politiker steht, beruhigte, wo nichts [71] zu beruhigen war, und deckte jeden Minister, wie Herrn Geßler, auch wenn er der Verfassung nicht zur Durchführung verhalf. Diese Presse ist mitschuldig, weil sie eingeschläfert hat, statt zu wecken.
An tausend Stammtischen wird das blutige Ereignis mit einem „Prost Blume!“ begossen werden. Aber wir andern, wir Hunderttausende und Millionen, werden nicht mehr warten. Und sagen: Wenn uns die Republik nicht hilft, dann müssen wir uns selber helfen! Denn was nun kommen wird, ist ganz klar. Man wird empört von den Mörderparteien „abrücken“, von denen es jetzt, wo es zu spät ist, keine gewesen sein will. Die Nekrologe werden steigen – aber kein stramm antirepublikanischer Gendarmerie-Wachtmeister wird wegen seiner Gesinnung entlassen werden, kein Schulrat, kein Landrat, kein Botenmeister.
Wir standen vor den angesagten frechen und staatsfeindlichen Demonstrationen der Ludendorff-Parteien. Sie sind nun verboten, aber ob es der Republik gelingt, die Mordhetze auszurotten, ist fraglich.
Nicht fraglich aber ist dieses:
Was seit dem 9. November 1918, nach dem Kapp-Putsch, nach der Ermordung Erzbergers versäumt worden ist: jetzt und heute muß es Wirklichkeit werden. Hinaus mit den paar tausend Beamten aus der Republik, die gegen uns arbeiten! Hinaus mit den unzuverlässigen Generälen! Her mit der Auflösung der nationalen Verbände! Herunter von den Straßen mit allen Monarchisten und schwarzweißroten Tüchern!
Walther Rathenau soll nicht umsonst gefallen sein. Wenn ihr wollt, dann habt ihr an seiner Bahre endlich die Republik!
Dieser Artikel ist im Jahre 1922, einige Tage nach Rathenaus Ermordung, erschienen. Sie haben ihre Republik noch heute nicht; sie wollen sie gar nicht.