Das Schloß/Das zehnte Kapitel
« Das neunte Kapitel | Franz Kafka Das Schloß |
Das elfte Kapitel » | |||
Für eine seitenweise Ansicht und den Vergleich mit den zugrundegelegten Scans, klicke bitte auf die entsprechende Seitenzahl (in eckigen Klammern).
|
[228] Auf die wild umwehte Freitreppe trat K. hinaus und blickte in die Finsternis. Ein böses, böses Wetter. Irgendwie im Zusammenhang damit fiel ihm ein, wie sich die Wirtin bemüht hatte, ihn dem Protokoll gefügig zu machen, wie er aber standgehalten hatte. Es war freilich keine offene Bemühung, im geheimen hatte sie ihn gleichzeitig vom Protokoll fortgebracht, schließlich wußte man nicht, ob man standgehalten oder nachgegeben hatte. Eine intrigante Natur, scheinbar sinnlos arbeitend wie der Wind, nach fernen fremden Aufträgen, in die man nie Einsicht bekam. Kaum hatte er ein paar Schritte auf der Landstraße gemacht, als er in der Ferne zwei schwankende Lichter sah; dieses Zeichen des Lebens freute ihn und er eilte auf sie zu, die ihm auch ihrerseits entgegenschwebten. Er wußte nicht, warum er so enttäuscht war, als er die Gehilfen erkannte. Sie [229] kamen ihm doch entgegen, wahrscheinlich von Frieda geschickt, und die Laternen, die ihn vor der Finsternis befreiten, in der es ringsum gegen ihn lärmte, waren wohl sein Eigentum, trotzdem war er enttäuscht, er hatte Fremde erwartet, nicht diese alten Bekannten, die ihm eine Last waren. Aber es waren nicht nur die Gehilfen, aus dem Dunkel zwischen ihnen trat Barnabas hervor. „Barnabas“, rief K., und streckte ihm die Hand entgegen, „kommst du zu mir?“ Die Überraschung des Wiedersehens machte zunächst allen Ärger vergessen, den Barnabas K. einmal verursacht hatte. „Zu dir“, sagte Barnabas unverändert freundlich wie einst, „mit einem Brief von Klamm.“ „Ein Brief von Klamm!“ sagte K., den Kopf zurückwerfend und nahm ihn eilig aus des Barnabas Hand. „Leuchtet!“ sagte er zu den Gehilfen, die sich rechts und links eng an ihn drückten und die Laternen hoben. K. mußte den großen Briefbogen zum Lesen ganz klein zusammenfalten, um ihn vor dem Wind zu schützen. Dann las er: „Dem Herrn Landvermesser im Brückenhof! Die landvermesserischen Arbeiten, die Sie bisher ausgeführt haben, finden meine Anerkennung. [230] Auch die Arbeiten der Gehilfen sind lobenswert. Sie wissen sie gut zu Arbeit anzuhalten. Lassen Sie nicht nach in Ihrem Eifer! Führen Sie die Arbeiten zu einem guten Ende. Eine Unterbrechung würde mich erbittern. Im übrigen seien Sie getrost, die Entlohnungsfrage wird nächstens entschieden werden. Ich behalte Sie im Auge.“ K. sah vom Brief erst auf, als die viel langsamer als er lesenden Gehilfen zur Feier der guten Nachrichten dreimal laut Hurra riefen und die Laternen schwenkten. „Seid ruhig“, sagte er und zu Barnabas: „Es ist ein Mißverständnis“, Barnabas verstand ihn nicht. „Es ist ein Mißverständnis“, wiederholte K. und die Müdigkeit des Nachmittags kam wieder, der Weg ins Schulhaus schien ihm noch so weit und hinter Barnabas stand dessen ganze Familie auf und die Gehilfen drückten sich noch immer an ihn, so daß er sie mit dem Ellbogen wegstieß; wie hatte Frieda sie ihm entgegenschicken können, der er doch befohlen hatte, sie sollten bei ihr bleiben. Den Nachhauseweg hätte er auch allein gefunden und leichter allein als in dieser Gesellschaft. Nun hatte überdies der eine ein Tuch um den Hals geschlungen, [231] dessen freie Enden im Wind flatterten und einigemal gegen das Gesicht K.s geschlagen hatten, der andere Gehilfe hatte allerdings immer gleich das Tuch von K.s Gesicht mit seinen langen spitzen, immerfort spielenden Fingern weggenommen, damit aber die Sache nicht besser gemacht. Beide schienen sogar an dem Hin und Her Gefallen gefunden zu haben, wie sie überhaupt der Wind und die Unruhe der Nacht begeisterte. „Fort,“ schrie K., „wenn ihr mir schon entgegengekommen seid, warum habt ihr nicht meinen Stock mitgebracht? Womit soll ich euch denn nach Hause treiben?“ Sie duckten sich hinter Barnabas, aber so verängstigt waren sie nicht, daß sie nicht doch ihre Laternen rechts und links auf die Achseln ihres Beschützers gestellt hätten, er schüttelte sie freilich gleich ab. „Barnabas“, sagte K. und es legte sich ihm schwer aufs Herz, daß ihn Barnabas sichtlich nicht verstand, daß in ruhigen Zeiten seine Jacke schön glänzte, wenn es aber Ernst wurde, keine Hilfe, nur stummer Widerstand zu finden war, Widerstand, gegen den man nicht ankämpfen konnte, denn er selbst war wehrlos, nur ein Lächeln leuchtete, aber es half [232] ebensowenig wie die Sterne oben gegen den Sturmwind hier unten. „Sieh, was mir der Herr schreibt“, sagte K. und hielt ihm den Brief vors Gesicht. „Der Herr ist falsch unterrichtet. Ich mache doch keine Vermesserarbeit, und was die Gehilfen wert sind, siehst du selbst. Und die Arbeit, die ich nicht mache, kann ich freilich auch nicht unterbrechen, nicht einmal die Erbitterung des Herrn kann ich erregen, wie sollte ich seine Anerkennung verdienen! Und getrost kann ich niemals sein.“ „Ich werde es ausrichten“, sagte Barnabas, der die ganze Zeit über am Brief vorbeigesehen hatte, den er allerdings auch gar nicht hätte lesen können, denn er hatte ihn dicht vor dem Gesicht. „Ach,“ sagte K., „du versprichst mir, daß du es ausrichten wirst, aber kann ich dir denn wirklich glauben? So sehr brauche ich einen vertrauenswürdigen Boten, jetzt mehr als jemals.“ K. biß in die Lippe vor Ungeduld. „Herr,“ sagte Barnabas mit einer weichen Neigung des Halses - fast hätte K. sich wieder von ihr verführen lassen, Barnabas zu glauben - „ich werde es gewiß ausrichten, auch was du mir letzthin aufgetragen hast, werde ich gewiß ausrichten.“ „Wie!“ rief K., [233] „hast du denn das noch nicht ausgerichtet? Warst du denn nicht am nächsten Tag im Schloß?“ „Nein,“ sagte Barnabas, „mein guter Vater ist alt, du hast ihn ja gesehen, und es war gerade viel Arbeit da, ich mußte ihm helfen, aber nun werde ich bald wieder einmal ins Schloß gehen.“ „Aber was tust du denn, unbegreiflicher Mensch,“ rief K., und schlug sich an die Stirn, „gehen denn nicht Klamms Sachen allen andern vor? Du hast das hohe Amt eines Boten und verwaltest es so schmählich? Wen kümmert die Arbeit deines Vaters? Klamm wartet auf die Nachricht und du, statt im Lauf dich zu überschlagen, ziehst es vor, den Mist aus dem Stall zu führen.“ „Mein Vater ist Schuster,“ sagte Barnabas unbeirrt, „er hatte Aufträge von Brunswick, und ich bin ja des Vaters Geselle.“ „Schuster-Aufträge-Brunswick“, rief K. verbissen, als mache er jedes der Worte für immer unbrauchbar. „Und wer braucht denn hier Stiefel auf den ewig leeren Wegen. Und was kümmert mich diese ganze Schusterei, eine Botschaft habe ich dir anvertraut, nicht damit du sie auf der Schusterbank vergißt und verwirrst, sondern damit du sie gleich hinträgst zum Herrn.“ Ein [234] wenig beruhigte sich hier K., als ihm einfiel, daß ja Klamm wahrscheinlich die ganze Zeit über nicht im Schloß, sondern im Herrenhof gewesen war, aber Barnabas reizte ihn wieder, als er K.s erste Nachricht, zum Beweis, daß er sie gut behalten hatte, aufzusagen begann. „Genug, ich will nichts wissen“, sagte K. „Sei mir nicht böse, Herr", sagte Barnabas, und wie wenn er unbewußt K. strafen wollte, entzog er ihm seinen Blick und senkte die Augen, aber es war wohl Bestürzung wegen K.s Schreien. „Ich bin dir nicht böse“, sagte K. und seine Unruhe wandte sich nun gegen ihn selbst. „Dir nicht, aber es ist sehr schlimm für mich, nur einen solchen Boten zu haben, für die wichtigen Dinge.“ „Sieh,“ sagte Barnabas und es schien, als sage er, um seine Botenehre zu verteidigen, mehr als er dürfte, „Klamm wartet doch nicht auf die Nachrichten, er ist sogar ärgerlich, wenn ich komme, ‚wieder neue Nachrichten‘, sagte er einmal und meistens steht er auf, wenn er mich von der Ferne kommen sieht, geht ins Nebenzimmer und empfängt mich nicht. Es ist auch nicht bestimmt, daß ich gleich mit jeder Botschaft kommen soll, wäre es bestimmt, [235] käme ich natürlich gleich, aber es ist nichts darüber bestimmt, und wenn ich niemals käme, würde ich nicht darum gemahnt werden. Wenn ich eine Botschaft bringe, geschieht es freiwillig.“ „Gut“, sagte K., Barnabas beobachtend und geflissentlich wegsehend von den Gehilfen, welche abwechselnd hinter Barnabas’ Schultern wie aus der Versenkung langsam aufstiegen und schnell mit einem leichten, dem Winde nachgemachten Pfeifen, als seien sie von K.s Anblick erschreckt, wieder verschwanden, so vergnügten sie sich lange. „Wie es bei Klamm ist, weiß ich nicht; daß du dort alles genau erkennen kannst, bezweifle ich, und selbst wenn du es könntest, wir könnten diese Dinge nicht verbessern. Aber eine Botschaft überbringen, das kannst du und darum bitte ich dich. Eine ganz kurze Botschaft. Kannst du sie gleich morgen überbringen und gleich morgen mir die Antwort sagen oder wenigstens ausrichten, wie du aufgenommen wurdest? Kannst du das und willst du es tun? Es wäre für mich sehr wertvoll. Und vielleicht bekomme ich noch Gelegenheit, dir entsprechend zu danken oder vielleicht hast du schon jetzt einen Wunsch, den ich dir erfüllen kann.“ [236] „Gewiß werde ich den Auftrag ausführen“, sagte Barnabas. „Und willst du dich anstrengen, ihn möglichst gut auszuführen, Klamm selbst ihn überreichen, von Klamm selbst die Antwort bekommen und gleich, alles gleich, morgen, noch am Vormittag, willst du das?“ „Ich werde mein Bestes tun,“ sagte Barnabas, „aber das tue ich immer.“ „Wir wollen jetzt nicht mehr darüber streiten,“ sagte K., „das ist der Auftrag: Der Landvermesser K. bittet den Herrn Vorstand ihm zu erlauben, persönlich bei ihm vorzusprechen, er nimmt von vornherein jede Bedingung an, welche an eine solche Erlaubnis geknüpft werden könnte. Zu seiner Bitte ist er deshalb gezwungen, weil bisher alle Mittelspersonen vollständig versagt haben, zum Beweis führt er an, daß er nicht die geringste Vermesserarbeit bisher ausgeführt hat und nach den Mitteilungen des Gemeindevorstehers auch niemals ausführen wird; mit verzweifelter Beschämung hat er deshalb den letzten Brief des Herrn Vorstandes gelesen, nur die persönliche Vorsprache beim Herrn Vorstand kann hier helfen. Der Landvermesser weiß, wieviel er damit erbittet, aber er wird sich anstrengen, die [237] Störung dem Herrn Vorstand möglichst wenig fühlbar zu machen, jeder zeitlichen Beschränkung unterwirft er sich, auch einer etwa als notwendig erachteten Festsetzung der Zahl der Worte, die er bei der Unterredung gebrauchen darf, fügt er sich, schon mit zehn Worten glaubt er auskommen zu können. In tiefer Ehrfurcht und äußerster Ungeduld erwartet er die Entscheidung.“ K. hatte in Selbstvergessenheit gesprochen, so, als stehe er vor Klamms Tür und spreche mit dem Türhüter. „Es ist viel länger geworden, als ich dachte,“ sagte er dann, „aber du mußt es doch mündlich ausrichten, einen Brief will ich nicht schreiben, er würde ja doch wieder nur den endlosen Aktenweg gehen.“ So kritzelte es K. nur für Barnabas auf einem Stück Papier auf eines Gehilfen Rücken, während der andere leuchtete, aber K. konnte es schon nach dem Diktat Barnabas aufschreiben, der alles behalten hatte und es schülerhaft genau aufsagte, ohne sich um das falsche Einsagen der Gehilfen zu kümmern. „Dein Gedächtnis ist außerordentlich,“ sagte K. und gab ihm das Papier, „nun aber bitte, zeige dich außerordentlich auch in anderem. Und die Wünsche? Hast du keine? [238] Es würde mich, ich sage es offen, hinsichtlich des Schicksals meiner Botschaft ein wenig beruhigen, wenn du welche hättest?“ Zuerst blieb Barnabas still, dann sagte er: „Meine Schwestern lassen dich grüßen.“ „Deine Schwestern,“ sagte K., „ja, die großen starken Mädchen.“ „Beide lassen dich grüßen, aber besonders Amalia,“ sagte Barnabas, „sie hat mir auch heute diesen Brief für dich aus dem Schloß gebracht.“ An dieser Mitteilung vor allen andern sich festhaltend fragte K.: „Könnte sie nicht auch meine Botschaft ins Schloß bringen? Oder könntet Ihr nicht beide gehen und jeder sein Glück versuchen?“ „Amalia darf nicht in die Kanzleien,“ sagte Barnabas, „sonst würde sie es gewiß sehr gerne tun.“ „Ich werde vielleicht morgen zu euch kommen,“ sagte K., „komm nur du zuerst mit der Antwort. Ich erwarte dich in der Schule. Grüß auch deine Schwestern von mir.“ K.s Versprechen schien Barnabas sehr glücklich zu machen, nach dem verabschiedenden Händedruck berührte er überdies noch K. flüchtig an der Schulter. So als sei jetzt alles wieder wie damals, als Barnabas zuerst in seinem Glanz unter die Bauern in der Wirtsstube getreten war, [239] empfand K. diese Berührung, lächelnd allerdings, als eine Auszeichnung. Sanftmütiger geworden, ließ er auf dem Rückweg die Gehilfen tun, was sie wollten. |
« Das neunte Kapitel | Das Schloß | Das elfte Kapitel » | |||
Für eine seitenweise Ansicht und den Vergleich mit den zugrundegelegten Scans, klicke bitte auf die entsprechende Seitenzahl (in eckigen Klammern).
|
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext. |