Das Wasser kommt
Das Wasser kommt.
Ein Bild aus der Ueberschwemmungsnoth Böhmens am 25. Mai 1872.
„Erzählt mir, Schwager, wie es kam!
Ich kann, selbst was ich sah, nicht glauben.
Hier stand ja, als ich Abschied nahm,
Das Haus der Mutter. Von den Lauben
Ward es umhegt der grünen Bäume,
Die oft des Daches weite Räume
Im Herbst mit süßer Frucht gefüllt.
Hier zog sich grüner Rasen nieder –
Ich weiß es ja, als wär’s noch heut’ –
Und alle Bilder kehren wieder
Aus glücklicher vergang’ner Zeit.
Dort lag, in Furchen abgeschichtet,
Der Hopfengarten. Gelb und grün,
An hundert Stangen aufgerichtet,
Sah man ihn schon von weitem blüh’n.
Wir sprangen hundertmal entlang
Die Gräben, galt’s, mit frohem Singen
Das grüne, duftige Gerank
Der Ernte fleißig heim zu bringen.
Schwager! Wohin ist Alles? Sprecht!
Die Mutter, Euer Weib und Kind,
Das Haus und Feld und Flur? O brecht
Das Herz mir nicht! Starrt nicht dem Wind
In’s Weite nach, in’s Oede, Leere!
Erzählt, ich bitt’ Euch!“
– – – – – – Nun, so höre! –
Sonnabend war’s und vor Dreifaltigkeit.
Das Tagwerk war gethan, wir kehrten heim
Vom Feld, das üppig grünte weit und breit.
Das Frühjahr hat gefördert. Hoch im Keim
Trieb schon der Hopfen auf an seinen Stangen,
Das Futter stand und das Getreide dicht,
Die Bäume waren reich mit Frucht behangen,
Daß kaum ein Strahl durchdrang vom Sonnenlicht,
Das ganze Thal konnt’ eine Ernte hoffen,
Wie seit Jahrzehnten Keiner sie getroffen.
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Ein Bauer, Schwager, hat sein ganzes Leben –
Wie du’s ja auch noch weißt vom Vater her –
An Feld und Flur, an Baum und Frucht gegeben,
Und ander’ Lieb und Hoffen wiegt nicht schwer.
Mein Leben war nun auch, wie Flur und Feld,
’s ging Alles gut, war dies nur gut bestellt.
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So kam ich heim mit freudereichem Denken.
Die Kühe standen noch an ihren Tränken,
Die Tauben girrten noch im Hofe munter;
Von ihrer Alten sorgsamlich bewacht,
An fünfzig Küchelchen im Schwarm darunter,
Daß mir das Herz vor Lust im Leibe lacht.
Ich sah den Hof mir an und hätt’ vergessen,
Daß auch für mich schon längst war Zeit zum Essen,
Wär’ Mutter nicht zum Haus herausgetreten,
Und hört’ ich nicht mein Kind am Tische beten.
Da rief auch meine Frau, kaum grüßte ich
Die Mutter, zeigte ihr das lustige Getümmel,
Dann trat ich ein, mein Weib, mein Kindchen küßte ich – –
Allmächtiger da droben, Gott im Himmel,
Das Alles, Alles war zum letztenmal!
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Ich weiß nicht, wie mir ward, als ich am Tisch
Nun bei den Meinen saß. Das Bier war frisch,
Das Essen kräftig, dennoch schmeckt’ es nicht.
Die Kehle schnürt’ sich in der Luft, der schwülen,
Ein dunkler Flor umtrübt’ das Augenlicht,
Und unablässig, um mein Blut zu kühlen,
Greif’ ich zum Glas und ruh’ im Trinken nicht.
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Da lacht mein Weib und ruft noch scherzend aus,
Ich tränk’, als wollt’ ich heute Hof und Haus
In Einem Zug vertrinken. Mutter meint,
Das wär’ nun einmal so. Das Stangensetzen
Beim Hopfen sei wohl schwerer, als es scheint,
Ein tücht’ger Trunk muß da die Zunge netzen.
Doch auf mein Wort, mir war’s nicht um den Trank.
Mir war, als senkte sich die Decke nieder,
Als neigten sich die Wände zu mir. Bang’
Und banger ward mir, bis mich hin und wieder
Unstät der Fuß durch’s heiße Zimmer trug.
Mein Weib bringt nun das Kind zu Bett. Es schlug
Just Neun vom Kirchenthurm. Ich zählt’ die Schläge
und wünschte, angstgepeinigt, fort die träge,
Qualvolle Nacht! Dann schritt ich auf und nieder,
Nachtwandelnd, trotz der Müdigkeit der Glieder.
Da stand auch Mutter auf und sucht zusammen,
Was rechts und links von ihrer Arbeit lag.
„Ich nähe da für Gottes heil’gen Namen,“
Sagt sie zu mir, „und für ’nen heil’gen Tag.
Tritt dann mein Sohn in Wochen zum Altar,
Soll er ein Chorhemd tragen, das genäht
Und reich geschmückt von Mutterhänden war.
Es macht sich herrlich. Seht nur, Schwieger, seht!
Das Kreuz da von dem besten Goldbrocat
Und all’ die Spitzen machen wirklich Staat.“
Sie zeigt es mir. Doch unbegreiflich’ Grauen
Faßt da mein Herz; ich falte meine Hände,
Und wie ich’s nicht vermocht’, mehr hinzuschauen,
Bet’ ich, daß Gott all’ Uebel von uns wende.
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Bald ward es still um mich, auch still in mir.
Kein Lüftchen regte sich, so weit ich hört;
Der Mutter Athem nur drang durch die Thür,
Des Weibes Trösten, wenn, vom Traum gestört,
Das Kind sich schmeichelnd, bittend zu ihr kehrt.
Dann wieder ward es stille rings im Kreis.
Ich muß wohl, wie ich träumend mich gesetzt
So auf die Bank, entschlafen sein zuletzt,
Denn plötzlich fahr’ ich auf. In heißem Schweiß
War ich gebadet, und die Stirne pochte,
Als ob das Blut in allen Adern kochte.
Die Pfeife, wie ich in der Hand sie hielt,
War ausgebrannt und längst auch ausgekühlt.
Ich blickt’ umher. Zwei Uhr schlug’s von dem Thurme.
So lang’ hätt’ ich geschlafen? Doch, was ist’s?
Rast nicht der Regen durch das Thal im Sturme?
Und donnert es und blitzt es denn und gießt’s?
Ich denk’ es kaum, ich sprech’ es nicht, und stürze
Zur Thür hinaus. Daß ich den Weg mir kürze,
Spring’ ich zur Mauer, schwinge mich hinauf
Und bin im Feld und dann in kurzem Lauf
Am Goldbach, der die Wiesen uns durchschneidet.
Du lieber Gott; ich war noch angekleidet
Und schon durchnäßt, es fröstelte die Haut.
Zurück! rief es in mir, poch’ an die Thüren,
Daß Alles wacht, die Hände all’ sich rühren. –
„Das Wasser kommt! Fort, und den Teich gestaut,
Das Wehr hinauf, die Flöße vor die Fächer,
Und wer tief unten wohnt, hoch auf die Dächer!“
So ruf ich laut, doch ohne Widerhall,
Und schon erhebt des Wassers brauner Schwall
Sich bis zu meinen Knien auf freiem Feld.
Da, horch! Ein Schrei und noch ein zweiter gellt
Nun durch die schwarze Luft! Man ist erwacht,
Man schaut die Noth! O, nur zurück, zurück
Zu meines eig’nen Hauses eig’nem Glück
Und Hülfe dort für Weib und Kind gebracht.
Doch, Herr des Himmels, was ist denn geschehen?
Hier ist kein Weg, kein Wiesengrund zu sehen?
Nein, nicht nach links, nach rechts hin mußt du gehen.
Ich thu’s, jedoch mein Fuß ist festgebannt.
Vor mir, kaum hundert Schritt, steht eine Wand
Die, schwärzer als die schwarze Nacht, im Wogen
Durch’s ganze Thal kommt brausend hergezogen.
So mag die Sündfluth einst hereingebrochen,
Das rothe Meer gethürmt gewesen sein,
Als der Prophet sein herrschend Wort gesprochen
Und Wasser sich wie Balken und wie Stein
Zusammenschloß! Dann kam’s herangekrochen,
Bis es – vom Donner übertönt, erhellt
Vom Blitz – ein grauses, furchtbar grauses Kochen,
Hinab in’s Thal mit Sturmeseile fällt.
Mich faßt’ es an mit starkem Arm. Nach oben
Fühlt’ ich mich plötzlich hoch empor gehoben,
Von Fluth und Steinen und von tausend Aesten
Gebrochner Bäume fortgepeitscht, bis ich –
O, dieser Augenblick war fürchterlich! –
An einem Dache mit den letzten Resten
Der Manneskraft mich festgeklammert hielt.
„Es ist vielleicht mein Haus, mein eigen Haus!“
So schrie ich auf! Da ward es fortgespült
Und ich mit ihm, in grause Fluth hinaus.
Noch hört’ ich Menschenrufe, Kuhgebrüll,
Verzweifelt Bellen – – dann war Alles still.
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Als Nacht und Tag schon in den Wolken stritten,
Die finster, wie zuvor, am Himmel hingen,
Erwachte ich. In vieler Zweige Mitten,
Die fest mein Kleid umstrickend mich umfingen,
Lag ich wie festgebannt. Und um den Baum
Und rings im Thal die gräßlich bleiche Noth.
Viel Hundert’ hatten in dem Grab schon Raum,
Und rings droht tausendfältig noch der Tod.
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„Wo bin ich, wo mein Weib und wo mein Kind?“
So ächzt’ ich, als ich in der Pappel Zweigen
Mich höher wand und durch den kalten Wind
Und durch die Wasser, wie sie immer steigen,
Die Blicke drängte, bis ich Alles sah
Und Alles kannt’, was ferne und was nah.
Das sind die Wälder alle, sturmgelichtet,
Das sind die Erntehügel, nun vernichtet!
Hier schwimmt ein Acker, schwimmt ein Wald, da kommen
Viel’ tausend Stangen, die hinweggenommen
Vom Hopfengarten sind. Sie schießen fort,
Zur Tiefe wirbelnd, bersten, brechen, krachen,
Wie Reisig, das gedörret und verdorrt,
Bis aus den sandgemischten, schwarzen Lachen
Die Strömung sie zersplittert wieder speit
Und rings umher mit Laub und Früchten streut.
Doch wo ist denn mein Dorf, mein Heimathsherd?
Hinweggerissen, weg bis auf den Grund!
Doch nein! da steht der Thurm, noch nicht zerstört,
Und da ein Haus! Das Stroh im festen Bund,
Wie es das Dach bedeckt, ist unversehrt,
Und hoch die Bodenfenster wasserfrei!
Da sind die Meinen! Gott gebenedei’
Und rette sie! Nimm mich für Alle hin
Und lass’ sie leben, lass’ das Kindchen blüh’n!
Ja! Ja! Es ist mein Haus! Die Wasser fallen,
Sie müssen fall’n, wenn eine Mutter fleht
Und unschuldsvolle Kinderlippen lallen,
Daß in der Noth Gott nahe sei! – O seht!
Ein Kahn! Nein! Nein! Es ist ein Dach! Vorüber,
Vorüber schießt’s, und in die Fluthen, trüber
Und immer trüber, wühlt es sich hinein!
Ein Mann sitzt drauf, ein Weib bei ihm, sie schrei’n –
Kein Retter hört den Ruf. Hinunter fliegt
Pfeilschnell die Last, bis sie die Fluth besiegt.
Und Balken nach und Betten, Kisten, Kasten,
Ein buntes Durcheinander ohne Rasten.
Und sieh! Da kommt ja meine alte Henne
Und fünfzig kleine Hühnchen rings herum!
Fahrt wohl! Treff’t ihr ein Grab: wen ich auch kenne,
Grüßt ihn, als grüßtet ihr ein Heiligthum! –
Die Hütte meines Hundes: „Treues Thier!
Droht unser’m Haus Gefahr, und du nicht dort?“
Ich ruf’s und seh’, wie ihn die Hütte hier
Vorüberreißt, zum nassen Grabe fort.
Doch horch! Rief’s „Vater“ nicht? Ja, ja, es rief,
Da kommt das Bett, in dem mein Kindchen schlief.
Allmächt’ger! Auch das Kind! Und todt und todt!
Die Wangen noch vom letzten Traum geröthet,
Dem Vater nah’, von kalter Fluth getödtet!
Du Engel sage, eh’ ich mit Dir geh’,
Sag’ mir nur erst, wo ich die Mutter seh’!
„Im Dach, im Dach!“ ertönte fernes Heulen,
Und Kähne sah ich fliegen, Männer eilen.
Woher? Wohin? Ich sah es nicht! Ich sah allein
Ein Chorhemd dort mit einem Kreuzelein,
D’rauf eine Frau, an die mit weißer Hand
Ein Weib sich stöhnend, rettungsuchend wand,
Noch jung und schön! Dann sah ich noch das Dach.
Es ward von braunen Fluthen just verschlungen,
Der letzte Pfeiler aus dem Grund gerungen!
Das Alles sah ich, sprang den Trümmern nach.
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„Und dennoch wurdet Ihr gerettet?
Sagt Alles, Schwager, Alles sagt!“
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Gensd’armen, die im Nu zusamm’gekettet
Zwei breite Kähne, hatten es gewagt,
Wie sie von fern mich in den Zweigen hängen
Und schwanken sah’n, sich durch die Fluth zu drängen.
Sie rissen mich zurück aus kalter Gruft,
In die ich sprang aus Furcht vor weiterem Leben,
Und sorgten treu, bis man zurück mich ruft
In’s Dasein, das ich selbst dahingegeben.
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„Muth! Schwager, Muth! Kommt, laßt uns beten gehen
Und dann mit Gott nach unsrer Arbeit sehen,
Bis wir das Feld von Steinen neu gelichtet,
Der Mutter dann dem Kind ein Kreuz errichtet!“
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Nein, Schwager! Nimmermehr! Mir ist um’s Herz
Wie einem Liebsten, dem das Wort gebrochen
Die Liebste, die ihm ew’ge Treu’ versprochen.
Ich will zum Wald, will in’s Gebirge dringen
So hoch hinauf bis an das End’ der Welt.
Dort Bäume fällend hoch die Hacke schwingen,
Bis Gott der Herr zuletzt mich selber fällt.
Leb’ wohl! Glaubst du an ihn noch, seine Güte –
O bete, daß im Grab er mich behüte.
Ich bete nicht! Denn braune Wasser schließen
Mit Wirbelwellen meine Kirche ein,
Und über’m Altar brausend hoch ergießen
Die Fluthen sich und über’s Kreuzelein!
Prag, Ende Mai 1872. C. Thomas.
Dieses ergreifende Gedicht, aus der „Neuen freien Presse“ hier mitgetheilt, möge zu den Herzen unserer Leser so eindringlich sprechen, daß aus ihren immer milden Händen der reichste Segen, den Menschen geben können, über die armen Unglückskinder des Böhmerlands komme. Der „Hülfs-Ausschuß zu Leipzig“ ist bereit, die Gaben zu empfangen und weiter zu befördern.