Das alte Mütterchen (1819)
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Es war in einer großen Stadt ein altes Mütterchen, das saß Abends allein in seiner Kammer; es dachte so darüber nach, wie es [302] erst den Mann, dann die beiden Kinder, nach und nach alle Verwandte, endlich heute auch noch den letzten Freund verloren hätte, und nun ganz allein und verlassen wäre. Da ward es in tiefstem Herzen traurig, und vor allem schwer war ihm der Verlust der beiden Söhne, daß es in seinem Schmerz Gott darüber anklagte. So saß es still und in sich versunken, als es auf einmal zur Frühkirche läuten hörte und sich wunderte, daß es die ganze Nacht also in Leid zugebracht. Es zündete seine Leuchte an und ging zur Kirche; bei seiner Ankunft war sie schon hell, aber nicht, wie gewöhnlich, von Kerzen, sondern von einem dämmernden Lichte. Sie war auch schon angefüllt mit Menschen und alle Plätze besetzt, und als es zu seinem gewöhnlichen Sitz kam, war der auch nicht mehr ledig, sondern die ganze Bank gedrängt voll. Und wie es die Leute ansah, so waren es lauter verstorbene Verwandten, die saßen da in ihren altmodischen Kleidern, aber mit blassem Angesicht. Sie sprachen auch nicht und sangen nicht, es ging aber ein leises Summen und Wehen durch die Kirche. Da stand eine Muhme auf, trat vor und sprach zu dem Mütterlein: „dort sieh nach dem Altar, da wirst du deine Söhne sehen.“ Die Alte blickte hin und sah ihre beiden Kinder, der eine hing am Galgen, der andere war auf ein Rad geflochten. Da sprach die Muhme: „siehst du, so wär es ihnen ergangen, wären sie im Leben geblieben, und hätte sie Gott nicht als unschuldige Kinder zu sich genommen.“ Die Alte ging zitternd nach Haus und dankte Gott auf den Knieen, daß er es besser mit ihr gemacht, als sie hätte begreifen können; und am dritten Tag legte sie sich und starb.