Das gebrochene Herz
Das gebrochene Herz.
Wie manche andere Deutsche hatte auch ein Universitätsfreund von mir in England eine Hauslehrerstelle bekommen. Er fühlte sich glücklich in seinem neuen Wirkungskreise und schilderte mir seine „Jungen“ als so lustige, übermüthige Burschen und die Aeltern als so brav und bieder, daß ich endlich seinen Einladungen, ihn zu besuchen, folgte. Die rasend schnelle Eisenbahn brachte mich binnen wenigen Stunden von London nach Norwich, von wo mich der ehemalige Berliner Referendar und jetzige englische „tutor“ in einer Privat-Equipage nach seiner neuen Heimath abholte. Ein Paar derbe Jungen mit schwarzen Jacken, wunderschönen, glänzenden Augen, feinen, blühenden Gesichtern und ernsten Castorhüten bewiesen mir gleich auf dem Wege viel Achtung und Freundschaft, blos weil ich einen „Schnurrbart“ trug. Lange und alle Tage hätten sie ihren „tutor“ aufgefordert, Barbiermesser und Oberlippen einander zu entfremden, aber vergebens; nun sollten aber doch die Leute zu Hause an mir sehen, daß sie wirklich einen „ausländischen“ Hauslehrer hätten. Er selber, und das sei jammerschade, spräche so gut Englisch, daß man ihnen immer nicht glauben wolle, wenn sie versicherten, er sei vom Continent; mein schlechtes Englisch und mein Schnurrbart solle sie nun aber endlich eines Besseren belehren. Nachdem Bill, der ältere, mich versichert hatte, er werde und wolle nie etwas Ordentliches lernen, denn erstens störe es die Heiterkeit und zweitens gäbe es in Australien Gold genug, das man desto besser graben könne, je dümmer man sei, fuhren wir durch das breite, eiserne Gitterthor des prächtigen Landsitzes, als dessen Schulmeister mein Freund hier blühte und bereits ziemlich fett und feist geworden war. Wie fett und schwer ruhte ringsum Epheu auf den Mauern, welche Fülle und Reinheit ringsum, welche üppige Parkaussichten über das herrliche Rasengrün hin!
Doch was ist alle Herrlichkeit der Natur gegen eine edle, würdige Menschengestalt? Wahre Ehrfurcht ergriff mich vor dem Adel und der sinnigen, ehrlichen Milde, womit mir die Herrin des Hauses entgegenkam. Freilich ließ man mir keine Zeit, mich vorstellen zu lassen. Dick riß mich nach der einen und Bill nach der andern Seite: ich sollte die Kaninchen des ersteren und den „Pony“ des letzteren in Augenschein nehmen, während [144] mich eine sehr in’s Rothe spielende Blondine von sechszehn Jahren, aber mit zehnjähriger Kindlichkeit bat, ihren Tauben den Vorzug zu geben. Welche Heiterkeit und Lebensfülle, welche sprudelnde Naivetät in diesen blühenden Jugendgestalten! Da steht die Turnanstalt, weiter hin blinkt ein großer See mit Kähnen und Gondeln, wo sie sich alle Tage baden und um die Wette rudern. Und dort die Kühe und jungen Ochsen, wie rund und rein und klug. Jeder hört auf seinen Namen und kommt weit her, blos um sich ein Bischen streicheln zu lassen. Die Hühner und Hähne, darunter stolze, riesige Asiaten aus Calcutta, welche Eier legen sie zum Frühstück! Immer Bewegung, Leben, Kraftübung, herrlichste Natur, kräftigstes Rumsteak, derbes Bier, feurigen Wein, Eier, Speck, Schinken, Haschen und Hänseln, Wetten und Wagen – o welche Lust, dort Schulmeister zu sein!
Nach zwei Stunden aber hatte das Alles seinen Reiz verloren. Ich war der Dame des Hauses vorgestellt worden, und fortan beschäftigte mich ihr edles Gesicht, ihr ruhiges, trauriges Auge so ausschließlich, daß ich Alles um mich her vergaß. Was ist der Zauber in diesem klassischen, blassen Antlitz? Sie ist eine hohe Vierzigerin, und Alles, was man mit Liebe zu einem weiblichen Wesen in Verbindung bringen könnte, war von meinem mir selbst unerklärlichen Interesse für diese Augen ausgeschlossen. Gäste kamen und gingen, und sie war eine Wirthin und Herrin in ihrer prächtigen Behausung, wie ich nie etwas Aehnliches gesehen: sie machte die Honneurs mit einer Würde und Grazie, mit einer Milde, Herzlichkeit und Vornehmheit zugleich und immer mit so geheimnißvoll traurigen und treuen Augen, daß durch ihr Lächeln mit den Fröhlichen, ihr Lachen mit übermüthigen Kindern, ihr Scherzen mit den Gästen stets ein innerer, tiefer Schmerz hindurch zu tönen schien. Sie war gesund, schön, reich, gebildet, glücklich als Mutter und Gattin und in letzterer Beziehung in einem beneidenswerthen Grade. Ihr Gatte behandelte sie stets noch wie der glücklichste, jugendliche Anbeter in den ersten Flitterwochen, und etwas Fröhlicheres, Gesunderes, Witzigeres, als ihre Kinder, konnte man kaum sehen. Ich konnte keine andere Erklärung für diesen melancholischen Reiz ihrer Augen finden, als eine alte, tiefe Herzenswunde, welche die gütige Hand der Zeit gründlich zu heilen nicht im Stande gewesen war. Ein tragischer Zufall ließ mich bald tiefer in dieses edle, leidende Herz blicken.
Ich war schon beinahe vierzehn Tage Gast des Hauses gewesen und fühlte mich so glücklich, wie in einer neu gewonnenen Heimath. Der Schulmeister gab den wilden Jungen eines Abends den üblichen Unterricht, und ich ließ mich während der Zeit nachlässig auf dem See herumtreiben, wobei mir Niemand zusah, als ein Paar riesige Schwäne, die manchmal mit ihren langen Hälsen ganz tief in den Kahn hineinblickten, ob nicht einige Brocken von dem Weißbrode, das ich ihnen gereicht, übrig geblieben seien. Sonst Alles still und einsam um mich herum. Der feurige Westen blickte glühend durch große, fette Bäume und spiegelte sich in unzähligen Farbenlinien im See, dazwischen auch meine Vergangenheit in unzähligen, schmerzlichen Bildern, denn auch die heitern und glücklichen blickten traurig aus der Tiefe des Wassers zu mir herauf: sie waren ja begraben ohne Hoffnung einer Auferstehung.
Der Kahn rauschte im Schilfe und schob sich von selbst am Ufer fest. In demselben Augenblicke, als mich diese unwillkürliche Landung aus meinen Träumen erweckte, bekam der Kahn einen plötzlichen Stoß und eine weiße Gestalt mit langen, braunen Locken stürzte sich in meine Arme. „O, wie lange hast Du mich warten lassen!“ rief sie schmerzlich. „Sieh, es ist Alles bereit. Die Gäste warten schon so lange, lange, und ich noch viel länger. Und o, mein Gott, wie bist Du alt geworden seit gestern! Komm, laß uns eilen; o die Zeit ist grausam und hält nie Ruhe. Komm, Mary soll mir Deine Perlen anlegen und den Schleier und dann treten wir gleich vor den Altar. Und dann?“ Sie umklammerte mich wieder, legte ihren Kopf an meine Brust und lachte und weinte krampfhaft. Die dünnen, geisterhaften Arme, der beinahe durchsichtige Hals und Nacken, die wirren Locken, Reden und Blicke ließen mir keinen Zweifel, daß ich ein unglückliches, wahnsinniges Wesen in meinen Armen hielt. Meine Verlegenheit wurde mit jedem Augenblicke peinlicher. Ich hatte sogleich beschlossen, ihren wirren Vorstellungen und Fragen zunächst meine Vernunft nicht entgegen zu setzen und auf ihren Wahnsinn einzugehen; aber ich konnte nicht immer zu ihrer Befriedigung antworten, so daß ich durch Ausweichungen und Vertröstungen auf eine andere Zeit davon zu kommen suchte. „Nein jetzt, jetzt oder nie!“ rief sie plötzlich und sah mich scharf und durchdringend an. „Liebst Du wirklich die Mary mehr wie mich? Es ist noch Zeit, ich liebe Dich und Mary mehr wie mich; also erlöse mich von diesen Banden, erlöse mich!“ – In meiner Voreiligkeit und wähnend, eine bejahende Antwort werde sie trösten, erlösen, gab ich eine bejahende Antwort. Ein gellender Schrei und die Unglückliche sprang von der Spitze des Kahns weit hin in’s Wasser. Bald hatte ich ihr Kleid gefaßt, doch vergebens strengte ich mich an, sie wieder in den Kahn zu bringen. Sie kämpfte mit Riesenkraft dagegen und tauchte sich absichtlich unter. Endlich rief die Herrin des Hauses durchdringend vom Ufer: „Lusy! Lusy! Lusy, komm zu mir!“ Kaum hörte sie diese Stimme, so wurde sie sanft, klammerte sich an den Kahn, lachte und bat um Entschuldigung, daß sie sich einen Scherz gemacht habe. Sie ließ sich geduldig aus dem Wasser ziehen und in’s Haus tragen. Die Herrin des Hauses führte mich und sie einige Treppen hinauf in ein ringsum gepolstertes Zimmer mit Eisenstäben am Fenster, legte die Unglückliche auf ein Sopha, [145] sie, „daß meine Schwester Lusy von ungewöhnlicher Schönheit war. Sie haben sie gesehen, nachdem der Geist, die innerste Quelle der Schönheit, schon seit acht Jahren aufgehört hat, den schönen Formen Nahrung zu geben, und sie ist noch schön. – Unsere Mutter starb, als ich vierzehn und sie erst sechs Jahre alt war. Obgleich wir vom zärtlichsten Vater und einer liebevollen Tante mit der größten Liebe und Sorgfalt erzogen wurden, die Mutter war nicht zu ersetzen. In meinem siebenzehnten Jahre heirathete die Tante, und ich übernahm nun die Stelle einer Herrin des Hauses. Von Schule war für uns Beide nie die Rede gewesen. Was ich gelernt, verdankte ich dem Vater, der Tante und der verewigten Mutter; aber Lusy haßte alles Lernen, und Alles, was sie wußte, verdankte sie ihren Spielen und was ich ihr spielend und scherzend beigebracht. Der Vater haßte allen Zwang, und ich als Schwester vermochte es noch weniger, ihre Freiheit, in der sie so unbeschreiblich reizend und schön war, zu beschränken. Dabei war sie stets so zart und ätherisch, daß ich sie um dieser Schwächlichkeit willen nur um so mehr liebte und eine Sünde zu begehen glaubte, sie zum Sitzen und Studiren anzuhalten. Sie war nur Musik, die sie allein liebte und lernte. Wir behandelten sie immer alle wie ein liebenswürdiges Kind, und es gehört nicht zu dem kleinsten Theile meines ewigen, großen Schmerzes, daß ich ihr nicht mehr Mutter, Erzieherin war. Nur durch Erziehung, durch frühzeitiges Lernen im Wollen, Wissen, Ertragen und Entsagen lernt der Mensch das Leben und seine Geschicke ertragen und beherrschen.
Wir sahen stets viel Gesellschaft bei uns. Man hielt mich für schön, und da ich auch für reich galt, fehlte es mir nicht an Anbetern. Zugleich hielt man mich für eitel, kalt und wählerisch. Doch ich hatte bisher noch Niemanden gesehen, der mir ein mehr als oberflächliches Interesse abgewonnen. Sie sprachen alle zu viel von jagen, fischen und Geschäften, sogar vom Wetter. Auch Herr William W.....w, der seine Absichten am Deutlichsten verrieth, konnte mich trotz des Zuredens meines Vaters und besonders der Schwester nicht bewegen, ihm entgegen zu kommen. Schwester Lusy verrieth ein so warmes Interesse an dieser Verbindung, daß ich für sie zu fürchten begann. Sie war so jung und schwärmerisch, und in ihrer Furcht vor seinem Unglück sah ich die Keime eines Gefühls, das ihrem eigenen schönen Frieden tödtlich werden konnte.
„Wie kannst Du,“ sagte sie eines Tages zu mir, „so einen schönen, edeln, reichen, gebildeten Mann nicht lieben? Hätte ich einen solchen Anbeter“ – sie stockte, erröthete und athmete leidenschaftlich.
„Hättest Du solch einen Liebhaber, was dann?“ fragte ich.
„Ich fühle, daß ich für ihn sterben könnte,“ antwortete sie ernst. „Und Du, die er so leidenschaftlich liebt, willst nichts für sein Glück thun? O, nimm ihn, liebe Mary, ich bitte Dich, sonst wird er so unglücklich. Ich aber kann ihn nicht unglücklich sehen.“
„Nein, liebe Lusy,“ antwortete ich, „selbst Dir zu Liebe kann ich ihn nicht lieben, obgleich ich ihn achte und wegen seines edeln Charakters allen andern Männern vorziehe.“
Lusy schwieg. W.....w setzte seine Besuche auch nach einer verneinenden Antwort fort, bis er sich endlich überzeugt haben mochte, daß sich mein Verhältniß zu ihm nicht ändern lasse. Er verreiste und blieb lange auf dem Continente. Während dieser Zeit lernte ich meinen Mann kennen. Mögen Sie lächeln, aber es ist doch wahr, daß mein Gefühl für ihn noch ganz dasselbe ist, wie an dem Tage, an welchem ich ihn zuerst sah, nur inniger, schöner, ausgebildeter. – Ungefähr nach achtzehn Monaten kehrte W.....w zurück, schöner, männlicher und gebildeter, sogar mit einem schönen Schnurrbarte,“ setzte sie lächelnd hinzu. „Ich war mit meinem Manne noch nicht öffentlich verlobt; der Vater hatte darauf bestanden, daß er erst durch Abwesenheit und Arbeit beweisen sollte, ob sich das Verhältniß auch bewähre. So nahm er denn auch als Theilhaber eines kaufmännischen Geschäfts bald Abschied von uns und bestand die Prüfung. W.....w ging in unserm Hause wie ein alter Freund aus und ein und schien die alte Leidenschaft ganz unterdrückt zu haben. Er ging und sprach mit mir ganz frei und ungezwungen.
Lusy war damals siebzehn Jahre alt, ein zartes, sentimentales Wesen mit den schönsten blauen Augen, den üppigsten braunen Locken und dem feinsten, weißesten Teint, Grazie in allen ihren Bewegungen, Musik in jedem Worte. Selbst ihr größter Fehler machte sie in den Augen ihrer Anbeter nur noch liebenswürdiger. Sie konnte Tage lang in eleganter Kleidung auf dem Divan liegen und sitzen, Guitarre oder Harfe spielen, liebesieche Romane lesen und Besuche und Anbeter mit der größten Kaltblütigkeit behandeln. Sie war nicht zu bewegen, mich in meinen schweren Pflichten gegen Wirthschaft und Gäste zu unterstützen.
Nach W.....w’s Rückkehr trat eine große Veränderung ein. Er war ihr Pygmalion, sie war lauter Seele, Leben und Wärme in der Gesellschaft. So oft er uns verließ, sank sie in ihre Gleichgültigkeit zurück.
Mit ängstlicher Spannung beobachtete ich W.....w, ob sich Spuren von Gegen-Neigung zeigen würden; doch vergebens. Er spaßte zuweilen mit ihr, wie mit einem unreifen Kinde. Dabei blieb es. Ich bot alle meine Liebe und Beredtsamkeit auf, ihr die Thorheit einer solchen Liebe begreiflich zu machen.
„Ich kann nicht dafür,“ sagte sie; „ich muß ihn lieben, wenn er mich auch haßt. Es ist meine Bestimmung. Nur durch Deine Kälte hast Du sein Herz in Eis verwandelt, und er denkt nun, nie wieder lieben zu können. Aber er soll wieder lieben; ich werde es ihm lehren oder – sterben.“
Vergebens waren meine Ermahnungen, vergebens bewies ich ihr das Unedle einer solchen Leidenschaft; sie wollte, sie konnte sich nicht beherrschen. Und so vergingen qualvolle Monde für mich: er immer kalt oder herablassend spaßend mit ihr, gegen mich mild, weich, gemessen, aber freundschaftlich.
Eines Tages ging ich allein im Parke umher, um einen Plan ausfindig zu machen, wie ich die unglückliche Schwester heilen oder entfernen könne, als W.....w sich mir näherte, mir den Arm bot und mit mir weiter gehend, ernsthaft sagte: „Erschrecken Sie nicht; ich will nicht an vergangene Wünsche erinnern; nur eine Frage. Ich bitte, sie mir ehrlich zu beantworten. Liebt mich Lusy?“
„Was veranlaßt Sie zu einer so seltsamen Frage?“ frug ich ziemlich bestürzt.
Ein Freund vertraute mir unlängst das Geheimniß [146] an. Ich lachte darüber; aber ich glaube jetzt selbst bemerkt zu haben, daß er Recht hat. Ist dem so, habe ich Ihre Einwilligung, sie zu heirathen? Nur ein Wort: „Ja oder Nein!“
„Ja,“ war meine zitternde Antwort.
Er dankte mir traurig, verließ mich und ließ mich in der größten Aufregung von Schmerz und Freude allein.
Nach einer Stunde kehrte ich zurück und ging mit klopfendem Herzen gerade in Lusy’s Zimmer. Ihr schönes Haar verbarg sie ganz an der Brust des Geliebten. Mit einem Arme hielt er sie, mit der andern Hand hielt er ihre beiden Hände. Als sie mich bemerkte, rief sie: „O er weiß nun Alles. Und er ist so glücklich, so dankbar, so – so – Und ich – o Gott! o Gott!“ Ein Strom von Thränen erstickte ihre Stimme, sie schluchzte laut und verbarg ihr glühendes Gesichtchen abermals am Busen des Gefundenen. Ich kniete vor ihr nieder und machte meinem so lange geängstigten Herzen Luft in Worten der freudigsten Theilnahme. Dabei sah ich zufällig auf, und während Lusy sagte: „Er sah mich ganz so an, wie Dich früher, liebe Marie!“ begegnete ich seinem Blick. Ich erschrack, es war ein Blick voller Angst und Unruhe, nicht das Auge eines Glücklichen. – Mein Vater gab freudig seine Einwilligung: seine liebe Tochter sollte einen edeln und guten Mann ganz in seiner Nähe bekommen. Die Vorbereitungen zur Hochzeit wurden von beiden Seiten mit Eifer und großem Aufwande getroffen. Mein Vater bestand auf Verschönerungen in W.....w’s Hause auf seine Kosten, und zwar unter seiner und meiner Leitung, da Lusy nicht zu bewegen war, sich dafür zu interessiren. Sie war wie eine Elfe, lauter Leben und Freude mit ihrem W.....w. Die Einrichtungen drüben, die Arbeiten in Haus, Hof, Garten und Park veranlaßten mich und den Vater oft, hinüber zu fahren und Anleitung zu geben, da der Herr selber sich nicht darum kümmern wollte und immer ernster zu werden schien, je näher der Tag der Hochzeit kam. Das merkte ich allein mit steigender Angst. Ich kam sowohl drüben als auch bei uns oft genug mit ihm in Berührung, zumal da mein Vater in Folge eines rheumatischen Fiebers lange an Bett und Sopha gefesselt blieb, da die Füße ihm ganz den Dienst versagten. W.....w unterstützte mich in der Pflege des Vaters, in der Wirthschaft und tausenderlei Geld- und Gesellschafts-Angelegenheiten. Er erschien unter den Verhältnissen wie mein natürlicher Rathgeber. Die kostbaren Vorbereitungen und Bestellungen für die Hochzeit schienen nicht alle zu rechter Zeit fertig zu werden, so daß W.....w rieth, wir möchten den Tag etwas verschieben. Doch der Vater wollte nichts davon hören. Alles was er bewilligte, beschränkte sich auf Verlegung der eigentlichen Festlichkeiten in das Haus des Bräutigams. Ein Theil der Möbels kam erst den Tag vor der Hochzeit an. Auf Lusy’s Bitten mußte ich hinüber, um dieselben nach meinem Geschmacke aufstellen zu lassen.
W.....w empfing mich am Thore. Ich erschrack über sein Aussehen und fragte nach seinem Gesundheitszustande. Er läugnete alles Unwohlsein. Mein Geschäft war mit Hülfe vieler bereitwilligen Hände bald gethan und ich beeilte mich, wieder in den Wagen zu kommen. Doch die Pferde waren noch nicht angespannt; so benutzte ich die Zeit, um einige eben vollendete Veränderungen im Parke anzusehen. Da begegnete ich ihm. – Er ging einige Minuten schweigend mit mir. Plötzlich blieb er stehen und sagte: „Ich muß noch einmal eine Frage an Sie richten, Miß! Was halten Sie mit Ihrem kalten, richtigen Urtheil von einem Manne, der ein weibliches Wesen heirathet, während sein ganzes Herz unwiderstehlich zu einer andern hingezogen wird?“
„Er ist ein Schurke!“ rief ich in überwallender Erbitterung; „ich habe keine Worte für die Verachtung, die ich gegen einen solchen Menschen hegen würde.“ Seine blasse Wange wurde noch bleicher. Er schwieg, doch sagte er kurz darauf sehr ruhig: „Und würden Sie ihn nicht mehr verachten, wenn er in seiner Falschheit beharrte, statt sie kühn zu gestehen, wenn auch schon vor dem Altare?“
Ein tiefer Abgrund öffnete sich vor meinen Augen und ich rief in namenloser Pein: „Mann, in Himmels Namen, sage mir, was dies heißen soll?“
Er sah mich fest an und antwortete: „Ich liebe Sie, nicht Ihre Schwester. Ich frage Sie daher, soll ich sie heirathen oder nicht?“
„Mir vergingen die Sinne und ich sank hin. Als ich die Augen aufschlug, stand er noch vor mir, ohne mir Hilfe zu bieten. „Sie sind nicht todt,“ sagte er mit derselben Ruhe, „Seelenleiden tödten nicht, sonst wär’ ich längst nicht mehr. Hören Sie mich, Miß, hören Sie meinen Fall ganz an, denn in Ihre Hände lege ich mein Schicksal. Befehlen Sie mit klarem Geist und Ihrem starken Willen. Ich glaubte, Ihre Schwester zu lieben und den alten Feind überwunden zu haben. Ich sehe sie so schön, so engelschön, und ihr ganzes Herz gehört mein – ich mußte Sie vergessen und diese lieben, aber ich betrog mich! Die letzten Wochen gaben mir Gelegenheit, Sie ganz genau kennen zu lernen. Ihre Schönheit, Ihr kluges Wollen und Wirken, Ihre Aufopferungsfähigkeit für Andere, für edle Zwecke traten mir näher und näher, und ich kann der Gewalt dieser Neigung mitten in meiner Manneskraft nichts mehr entgegensetzen, nichts. Alles vergebens. Lusy dagegen nichts, als ein Goldkind, lieblich, liebend, himmlisch – aber nichts von dem, was mir in Ihnen lebendig geworden. Ich fühlte mich besser, als ich Ihnen je erschienen sein mochte; ich fühlte mich edel genug, Ihrer Liebe würdig zu sein. Ihre schwesterliche Neigung, wie leicht hätte sie wärmer werden können, wenn ich gewartet hätte?“
„Meine Hand, mein Herz sind versagt,“ rief ich in den größten Qualen.
„Versagt?“ rief er trostlos. „Und Sie verschwiegen es mir? Falsch! Grausam! Unedel!“
„Und Sie dürfen von Falschheit sprechen,“ entgegnete ich, „Sie, der Sie in wenig Stunden mit meiner Schwester vor dem Altare stehen wollen und mich eben mit einem Liebesgeständniß beleidigen? Es kann nur ein augenblicklicher Wahnsinn sein. Ich würde mich als Weib einer solchen Schwäche schämen, und Sie schämen sich Ihrer als Mann nicht? Achten Sie mich, sich selber, meine Schwester! Beherrschen Sie den Augenblick! Meiner Schwester Schicksal ist an das Ihrige gebunden. Mit dem heiligen Verhältniß, das Sie mit ihr vereinigt, wird der Wahn schwinden.“
„Es ist kein Wahn,“ versetzte er ruhig, „es ist schreckliche Wirklichkeit, gegen welche ich meine Kraft erschöpft habe. Mein Geist fühlt sich jetzt schon zerrüttet und ich [148] kann, ich darf – darf mein und ihr Unglück nicht freventlich vollenden durch diese Heirath.“
„Und Sie? O mein Gott, sie stirbt, wenn Sie die Unglückliche verlassen! Sie können, Sie werden’s nicht. Sie ist nur zu gut, zu rein, zu wahr für Sie!“
„Und mit diesem Urtheil und wohl wissend, was Sie thun, rathen Sie noch zu dieser Verbindung? Ich dachte, Sie müßten dieses reine, zarte Wesen wegreißen von einer so schrecklichen Bestimmung. Denken Sie nur einen Augenblick nach und dann entscheiden Sie. Verlangen Sie es, so heirathe ich Lusy; aber bedenken Sie, daß Ihr Bild immer zwischen uns sein und in Lusy’s Armen ich Ihren Schatten umarmen werde. Entscheiden Sie!“
„Doch ich war jedes Gedankens unfähig. Lusy’s Bild vor mir, verrathen, verlassen, hinsterbend, todt – mein kranker Vater – meine eigene Trostlosigkeit – Richterin zwischen Betrug und Falschheit – händeringend jammerte ich; „Haben Sie Mitleiden mit mir! W.....w! Nehmen Sie diese furchtbare Verantwortlichkeit von mir! Sie sind Mann, es ist an Ihnen, zu handeln und zu entscheiden. Das Geheimniß ist nur mir bekannt und ich werde bald in meine neue Heimath, fern von hier, abgeholt. Meine Schwester werden Sie lieben lernen, wenn die reinste, vollste Liebe Ihnen irgend etwas werth ist. Sie stirbt, wenn Sie sie verlassen. Retten Sie das herrliche Kind, retten Sie sich, retten Sie uns alle von dem namenlosen Unglück!“
„Sie haben mich getäuscht,“ antwortete er düster. [149] „Sie haben offenbar nicht an die Folgen Ihrer Entscheidung gedacht. Ich sagte Ihnen, daß ich am Eingang zum Wahnsinn stehe.“
„Das ist unmännlich“, rief ich entrüstet und fassungslos. „Wir sind allemal wahnsinnig, wenn Leidenschaft uns beherrscht, statt wir sie. Beruhigen Sie sich, gebieten Sie mit männlicher Entschlossenheit Ihrem Herzen Gehorsam. Sie als Mann fühlen sich zu schwach und schieben einem schwachen Mädchen deshalb die Entscheidung zu. Das dürfte mich wahnsinnig machen, nicht Sie. Ich werde zum Himmel flehen, daß er mich vor Wahnsinn schütze und Sie, mehr kann ich nicht.“ Mit diesen Worten verließ ich ihn. Zu Hause umdrängte man mich wegen meines zerstörten Aussehens; ich schützte Kopfschmerzen vor und wollte allein sein. Doch Lusy, hüpfend und strahlend in Freude, bat mich leidenschaftlich, nicht krank zu werden zu ihrem schönsten Feste und folterte mich auf eine Weise, die ich nie vergessen werde.
„Nach einer schlaflos durchweinten Nacht war Alles im Hause in freudigster Geschäftigkeit und ich wurde mit Fragen und um Befehle bestürmt, die ich heute zum ersten Male nicht beantworten konnte.
„Nach 2 Uhr war alles in Ordnung. Lusy strahlte in Seide, Sammet und Perlen, doch viel herrlicher in Ihrem Glücke. Man wartete nun noch auf den Bräutigam. Es wurde öfter und öfter gefragt, ob er angekommen sei. Endlich schickte der Vater hinüber.
„Ich hielt es nicht in der Gesellschaft aus; alle meine Glieder zitterten. Ich suchte nach Fassung in einem abgelegenen Zimmer. Endlich schickte der Vater nach mir. Mit Mühe erreichte ich ihn unten. Der Bote stand noch da und sagte stumpf: Ja hören müssen’s Sie’s doch einmal: er hat sich erstochen!
„Ein durchdringender Schrei hielt mich auf im Umsinken. Lusy war mir gefolgt und hatte die Worte ohne irgend eine Vorbereitung vernommen. Mit furchtbarem Kreischen, fliegendem Haar und wilden Sprüngen stürzte sie davon. Mit Mühe eingeholt und mit Gewalt in ein Zimmer zurückgebracht, kämpfte sie mit der Kraft des Wahnsinns gegen starke Männerhände. Ein entsetzlicher Anblick: eben noch die strahlende, ätherische Braut, jetzt mit dem vollsten Schmucke von Gold und Perlen und Seide beinahe siegreich im Wahnsinn gegen die stärksten Männer kämpfend und Perlen und Goldgeschmeide um sie her fliegend. –
„Der Wahnsinn hat sie seitdem nie verlassen. Sie ist alle Tage dieselbe, früh ein glückliches, bräutliches Kind, ihren Brautschmuck ordnend und sich ankleidend, ohne eine Ahnung von Zeit und langen Jahren. Ich vermählte mich, meine Kinder wuchsen heran und immer noch rüstet sie sich jeden Morgen zum Empfange des Bräutigams. Meinen Mann und meine Kinder hält sie für Hochzeitsgäste seit Jahren und kennt sie unter keiner andern Beziehung. Abends, wenn ihre unglückliche Stunde kommt, gehe ich zu ihr und – erziehe sie. Sie folgt mir jetzt und tobt nicht mehr und betet mir willig Tröstungen der Religion nach. Daß er aus Mangel an früher Erziehung des Willens unterging, habe ich nicht zu verantworten; aber daß sie unter der Wucht des Schicksalstoßes zusammenbrach und die Freiheit über ihre Seele verlor, lastet ewig auf mir. Ich hatte die Pflichten einer Mutter und der Schule gegen sie; ich ließ sie gewähren und ihre Neigungen aufwachsen ohne den Schweiß des Gärtners. Wir Alle sind nichts ohne Erziehung, d. h. geschulte Herrschaft über unser Wissen und Wollen. In den untern Klassen läßt man ungehindert böses Beispiel merken, ohne dem Weizen der Seele Raum zum Wachsthum zu lassen; in den höheren glaubt man den Kindern eine „freie“ Erziehung zu geben, wenn man ihnen die Mühe erspart, sich an Gehorsam gegen die höheren Willensgesetze zu gewöhnen.
Unsere Versuche, sie zu trösten, klangen uns selbst ziemlich nichtig, so daß wir sie bald aufgaben und schweigend zusahen, wie sie langsam und edel, jetzt mit dem vollen, ruhigen Ausdruck ihres großen Schmerzes in Augen und Gesicht davonging.
Wir, ich und mein Freund, stritten uns noch lange, ob die Liebe noch unter Umständen das Recht habe, Menschen wahnsinnig oder todt zu machen. Er verneinte es durchaus und war ganz besonders böse auf das geldbeherrschte, industrielle England, wo gerade noch verhältnißmäßig die meisten weiblichen Wesen nach dem Urtheil der Todtenrichter an „gebrochenen Herzen“ sterben.