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Das jüngste Wunder

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Titel: Das jüngste Wunder
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aus: Die Gartenlaube, Heft 24, S. 384
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1870
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[384] Das jüngste Wunder. Kurz nach Ostern fiel in Rom ein Ereigniß vor, das nur wenige Zeugen mit angesehen und dessen Kunde nur schüchtern durch alle Gassen lief. Auf die Zustände der Ewigen Stadt indessen und auf die subjective Anschauung des Papstes wirft es ein so bedeutendes Streiflicht, daß es in Deutschland bekannt zu werden verdient.

Unser Fall führt uns nach Monte Mario, in die Nähe der Villa Melini. Von der Straße, die in langen Windungen bergan führt, schaut man weit hinab auf die hellen Häusermassen, auf die Campagna mit ihren schweifenden Linien und das leuchtende Albanergebirg. Ueber dem Allen liegt der italische Himmel mit seinem unerbittlichen Blau, das Aug’ und Seele fast übersättigt. Kein dunkler Ton beherrscht die classische Landschaft, wenn es nicht die Pinien sind, die den Garten der Villa melancholisch umschließen.

Der Monte Mario ist einer der schönsten Wege vor den Thoren der Stadt; dennoch begegnet man nur selten erlesenen Gästen dort. Höchstens am späten Nachmittag, wenn die ganze Straße bereits im Schatten liegt, kommt dann und wann eine rothe Carosse gefahren mit drei Bedienten und einem gepuderten Kutscher. Der Wagen hält und ein purpurner Cardinal mit seinem Begleiter steigt aus demselben und wandelt gemessenen Schrittes die Höhe hinan, denn in Rom selber trifft man keinen Cardinal zu Fuße.

So war es denn auch an jenem Nachmittag, von dem wir erzählen, aber der Wagen enthielt noch mehr als einen rothen Cardinal. Um die Züge des alten Mannes, der mühsam herunterstieg, spielte ein stumpfes Lächeln, an dem Finger funkelte ein Demantring und die wenigen Menschen, die über die Straße gingen, blieben verwundert und verneigend stehen. Ecco il Papa, hörte man flüstern – es war der Papst.

Durch die aufreibenden Eindrücke, die die Berufung des Concils zur Folge hatte, ist Pius der Neunte ganz außerordentlich gealtert. Die Würde des Souverains in seinem Wesen ist gewichen und hat ihm nur mehr den Ausdruck jener Starrheit zurückgelassen, in welche alle autokratischen Naturen zurückfallen, sobald ihnen das Schwungvolle der Idee und das Elastische der Jugend abhanden kommt. Mühsam gestützt auf seinen Begleiter ging der Papst die Straße hinan, ein Bild der menschlichen Schwäche und Gebrechlichkeit. Allein sein Antlitz stand zu dieser in schneidendem Gegensatz, denn ein Selbstbewußtsein, eine Manie der Vergötterung lag auf demselben, die neben dieser Erscheinung fast etwas Wahnwitziges hatte. Wege und Stege sind in Rom von Bettlern belagert; Blinde, die durch die Miasmen der Malaria das Augenlicht verloren, Fieberkranke, Krüppel aller Art flehen um eine milde Gabe.

Neben den vielen anderen saß auch einer, dessen Füße gelähmt waren, der bedauernswerther als die übrigen aussah. Als dieser den Papst gewahrte, da zuckte ein Hauch der Freude über das welke häßliche Gesicht, er hob die Hände empor, und all’ seine Züge sprachen: Herr, erbarme Dich meiner. Pius ging auf ihn zu; es mochte ein Gefühl rein menschlicher Theilnahme sein, das seine Schritte beflügelte: aber bald gewann das Göttliche, d. h. die Vergötterung, über das Menschliche die Oberhand. Bei dem ausgesprochenen Hang, den der Papst für die Wunder hat, und bei der unerschütterlichen Ueberzeugung, daß er selbst das wunderbare Werkzeug Gottes sei, läßt sich der Schritt, der nun geschah, gar wohl begreifen. Leidenschaftlich bewegt erhob er die Hand und sprach zu dem Kranken: „Steh’ auf, nimm Dein Bett und geh’.“ Man kann sich den furchtbaren Eindruck, den dies Wort des Unfehlbaren auf den armen kranken Bettler machte, kaum vorstellen – er war wie vom Blitz getroffen, wie elektrisirt. Mit funkelnden Augen sprang er auf und machte einige Schritte – auch die Züge des Papstes blitzten aber wenige Secunden und der „geheilte“ Kranke brach wieder zusammen. Wie ein Krieger, der mit verzweifelter Kraft gegen eine unüberwindliche Veste stürmt, rief der Papst zum zweiten Male: „Steh’ auf und geh’;“ doch als Jener sich wieder erhob, um wieder zusammenzubrechen, da zitterten die Hände des Pontifex maximus, seine Stimme war heiser, und stammelnd sprach er zum letzten Male den Befehl. Eine Qual, wie sie in den Augen eines verendenden Thieres liegt, arbeitete auf dem Gesicht des halbwilden, schmutzigen Lazarus; denn der Schmerz und die Täuschung tritt im ungebildeten Menschen doppelt grausam auf. Ueber das Antlitz des Papstes aber flog ein Schrecken, der ehrlich gemeint war; er wurde weiß wie das Blatt, auf dem diese Zeilen stehen. Halbohnmächtig hob man ihn in den Wagen, der Begleiter winkte und im Sturmschritt rollte er von dannen. Auf der Straße lag der Bettler und stöhnte: „Madonna, Madonna!“

Ein stärkeres Streiflicht, als dieser merkwürdige Fall auf den Charakter Pius des Neunten wirft, läßt sich kaum denken. Sein Allmachtsstreben, seine Unfehlbarkeitsmanie ist nicht Politik, sondern Glaube, und erst die Andern machen seinen Glauben zu ihrer Politik. Gerade der Umstand, daß Pius ein untaugliches Exemplar für seine Wunderthätigkeit sich aussuchte, zeigt am meisten, wie fest er daran glaubte, gerade seine Niederlage gereicht seinem Charakter zum Ruhme. Die Jesuiten waren natürlich wüthend: hätten sie geahnt, daß der Papst auf diesem Spaziergange einen derartigen Anfall von Unfehlbarkeit erleiden würde – dann wäre das Wunder ohne Zweifel glücklicher verlaufen. Denn man braucht sich nur obenhin zu erinnern, daß es in Rom viele hundert Lahme giebt, die gern Galopp laufen, wenn das Laufen besser bezahlt wird, als die Lahmheit. Ein prächtiges Sensationsstück ist damit der infalliblen Partei entgangen! In allen Blättern, vor aller Welt hätte man das neue Wunder verkünden können und Monte Mario wäre ein heiliger Berg geworden.

Daß unter den bestehenden Umständen das Geheimniß ängstlich gehütet ward, läßt sich erklären; dennoch drang es schnell in die öffentliche Meinung. Freilich wagte Niemand, laut davon zu berichten, aber flüsternd ging es von Mund zu Munde, und wer es Abends auf den Straßen erzählte, der blickte vorsichtig über die Achsel. Denn es giebt in Rom nicht nur lange, sondern auch spitze Ohren.