Das klassische Zeitalter der Geselligkeit

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Autor: Rosalie Braun-Artaria
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Titel: Das klassische Zeitalter der Geselligkeit
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aus: Die Gartenlaube, Heft 38, S. 638–643
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1893
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Das klassische Zeitalter der Geselligkeit.

Von R. Artaria.
I.

Die französischen Salons des 18. Jahrhunderts! Es ist, als ob man von einem versunkenen goldenen Zeitalter spräche, wenn dieses Wort genannt wird. Augenblicklich öffnen sich dem innern Auge weite, kostbar ausgestattete Säle mit schweren Sammet- und Seide-Vorhängen, schöne Frauengesichter lächeln kokett aus den Wandgemälden nieder. Die schmalen Pfeilerspiegel werfen den Luxus der Möbel und chinesischen Wandschirme zurück, sowie den schweren funkelnden Krystalllüster, in dessen Schein die Tafel glänzt, mit ihrem Aufbau von Silber und Porzellan, mit den gewaltigen Fruchtpyramiden des Desserts. Und um diese Tafel gereiht eine ausgesuchte Gesellschaft: Männer mit feinen geistreichen Köpfen, die es verstehen, ohne Pedanterie von allen höchsten Fragen der Menschheit zu reden, Frauen voll Grazie und Liebenswürdigkeit, die es sich zur Ehre rechnen, solche Gespräche mit Witz und guten Einfällen zu beleben, und die in dem raschen Fluge einer Stunde über Gebiete hineilen, welche durch die mühsame Geistesarbeit von Jahrhunderten geschaffen und bebaut wurden. Die leichte Philosophie bemächtigt sich aller Dinge, sie spitzt sich im Munde der Schönen zu allerliebsten Bonmots zu und dient den Philosophen als Deckmantel für ihre persönlichen Wünsche. Es ist in der That eine ebenso bequeme als reizende Sache, dieses „Philosophieren“ unter Scherz und Gelächter bei der Mittags- und Abendtafel. Taine in seinem ausgezeichneten Buche über die Gesellschaft des vorigen Jahrhunderts sagt sehr bezeichnend über jene Feste: „Mit dem zweiten Gange des Mahles erfolgt die Explosion, beginnt das Witzgeplänkel, entflammen und sprühen die Geister. Wer kann sich beim Dessert noch enthalten, die ernsthaftesten Dinge spaßhaft zu behandeln? Und beim Kaffee kommt die Frage von der Unsterblichkeit der Seele und dem Dasein Gottes an die Reihe.“

So frivol dies klingt, so malt es doch besser als viele Worte die geniale und glänzende Geistesperiode, welche dem Auftreten Voltaires und seiner Gesinnungsgenossen in der Gesellschaft gefolgt war. Geistreich zu sein hatten die französischen Damen schon hundert Jahre früher gelernt, im Hotel Rambouillet unter der Protektion des großen Kardinals Richelieu, aber es war mehr ein unerquickliches Geistreichthun mit lateinischem Anstriche, was dabei herauskam. Molière hat uns in seinen „Précieuses ridicules“ ein scharfes Bild davon gezeichnet. Als jedoch Voltaire daran ging, in seiner populären unübertrefflichen Sprache das ganze, bisher der Allgemeinheit und besonders den Frauen verschlossene Wissen zum Gemeingut der Gebildeten zu machen und ganz ernsthafte Dinge mit Witz und Laune zu behandeln, da kam ein völlig neuer Zug und Ton in das geistige Leben einer Gesellschaft, die wie keine andere vor- oder nachher unter dem Scepter der Frau stand. Weibliche Hände, weiblicher Geist mischten sich in alles, von der hohen Politik an, welche die Marquise von Pompadour für den trägen Ludwig XV. machte, von den Ernennungen in hohe und niedere Aemter, die sämmtlich durch Damenhände gingen (die der Akademie nicht ausgeschlossen), bis zu den Aufführungen neuer Stücke, dem Erscheinen neuer Bücher, die alle nur Aussicht auf Erfolg hatten, wenn die Herrin eines tonangebenden Salons sie in ihre Gunst nahm.

Und dies alles nicht am Hofe, sondern vier Stunden von demselben entfernt, nicht in Versailles, das unter Ludwig XIV. Mittelpunkt auch der geistigen Welt war, sondern in Paris, welches keine andere Wahl hatte, als sich von dem geistlos gewordenen Hofe und seinen armseligen Vergnügungen zu emancipieren und eine Republik der Geister zu begründen, da die Monarchie nichts mehr von ihnen wissen wollte. Frau von Pompadour persönlich interessierte sich wohl für Philosophen und Poeten, aber sie mußte behutsam sein, um das nicht zu erregen, wovor sie am meisten zitterte: die Langeweile des Königs, am Ende sogar über sie selbst – und somit griffen eben andere Frauenhände nach dem Scepter des Geistes und führten es mit einer Ueberlegenheit und Grazie, die uns heute noch in Erstaunen setzen.

Trotzdem fragt man sich: wie war jene ausschließliche Frauenherrschaft möglich, aus welchen Gründen erklärt sie sich? Und die Antwort darauf zeigt uns die Kehrseite des glänzenden Bildes: den allgemeinen Niedergang des männlichen Characters, der in den Zeiten des Despotismus Ludwigs XIV. feige und heuchlerisch geworden, roh und lasterhaft geblieben war. Solche Männer können von Frauen unterjocht und beherrscht werden. Unter einem tyrannischen und absoluten Regimente hatten sie verlernt, sich als Staatsbürger zu fühlen, die öffentlichen Angelegenheiten, für die heute jedem tüchtigen Manne das Herz schlägt, waren für sie nicht vorhanden; so mußten sie verzichten auf eine ganze Reihe von Eigenschaften, die am Manne auch einer hochstehenden Frau imponieren, und sahen sich auf solche angewiesen, in denen begabte Frauen den Männern überlegen sind, auf Feinheit des Geistes, List, Diplomatie, Selbstbeherrschung und Verstellungskunst. Sieht man sich indeß die Frauenbriefe und Memoiren jener Zeit näher an und hat man die erste Ueberraschung über den merkwürdigen Scharfsinn, die schlagenden Bemerkungen, die unglaubliche Menschenkenntniß überwunden, so kommt sehr bald eine andere Empfindung, die jener Bewunderung stark die Wage hält. Man sagt sich: wie nüchtern, kalt und begeisterungslos muß eine Seele sein, die so klar und unerbittlich ihre Freunde, ihren Mann, ihren Geliebten beurtheilt! Freilich hatten jene Frauen ein paar Hauptschwächen ihres Geschlechtes abgethan, sie waren nicht empfindlich und nicht eifersüchtig, weil sie wohl wußten, daß nur der herrscht, welcher kalt und ohne eigene Reizbarkeit die anderen studiert; aber sie erreichten damit doch nicht die Ueberlegenheit des Weisen, sondern nur eine gleichgültige Gelassenheit, ein Heraussagen des Letzten ohne Scheu, so daß man sich heute von solchen Frauennaturen, denen alle echte Weiblichkeit verloren gegangen war, angewidert fühlt. Und sie selbst waren am härtesten gestraft: was Menschen einfach beglückt, Liebe, Treue und Vertrauen, hatten sie sich glücklich weggespottet, die Mutterpflichten galten für etwas Altväterisches, durch unzweckmäßige Kleidung und Lebensweise war ein gesunder Körper ebenfalls zur Seltenheit geworden. Nun fragte es sich, mit was die endlose Zeit, die langen Stunden hinbringen, welche nicht der Gesellschaft gewidmet waren? Tausenderlei Beschäftigungen mußten herhalten, man schnitt Figuren aus und pappte sie auf Lichtschirme und Kartonnagen, man zertrennte alte Goldstickereien und machte neue daraus, man spielte alle Sorten von Karten- und Brettspielen – das Beste war noch die eifrige Lektüre, und hierin lag die wirkliche Stärke jener Damen. Sie hatten keine Töchterschulen durchgemacht, sondern sich an guten Büchern [639] selbst gebildet, und die Köpfe, welche Montaigne, Pascal und Montesquieu lasen und verstanden, sie hatten zugleich ihren eigenen Stil gewonnen. Lesend lernt man schreiben, und jene Frauen schrieben ausgezeichuet und unermüdlich: Briefe, Memoiren, „litterarische Porträts“ ihrer Bekannten, alles, was heute für die Geschichtschreibung zur werthvollen Quelle geworden ist.

Selbstverständlich aber bemächtigte sich sofort auch die Mode der geistigen Interessen, und man begnügte sich bald nicht mehr mit der schönen Litteratur, sondern man legte auch Beschlag auf die Wissenschaft, trotz unsern allermodernsten Studentinnen. Die Damen schwärmten für Medizin, sogar für Anatomie, und die reichen Marquisen bauten Privatlaboratorien, ja Privatsektionssäle, wo sie an wirklichen Kadavern den Bau des Innern studierten! Wir besitzen genaue Aufzeichnungen über den Tageslauf dieser vielbeschäftigten Damen. Sie gehen noch in die Messe, dann aber in die verschiedenen gelehrten Vorträge, die ihnen die ersten Professoren der Universität halten, in den Jardin des plantes, um zu sehen, wie Theriak gewonnen wird. Sie gehen zu dem Uhrmacher Furet, um eine geschnitzte Negerin zu betrachten, in deren einem Auge die Stunden, in dem andern die Minuten zu sehen sind. Sie gehen zu dem Maler Greuze, sein neuestes Werk zu bewundern; ebenso bewundern sie dann die Automaten des Abbé Mical, die vier Sätze sprechen können. Dann fahren sie zu einem Zeichner, um ihre Silhouette machen zu lassen, und nachdem sie morgens der Messe für die glückliche Auffahrt eines Luftschiffers angewohnt haben, eilen sie hinaus, um die kühnen Brüder Robert und Pilatre de Rozier noch vor dem Aufsteigen des Ballons zu umarmen. (Goncourt, „La femme au dix-huitième siècle“.)

Ein köstliches Gemälde von dieser Leichtigkeit und Oberflächlichkeit, von dieser Manie für alles Mögliche entwirft uns ein Schriftsteller jener Zeit in dem einfachen Bericht alles dessen, was er erlebt, nachdem ihn eine seiner guten Bekannten in den Wagen genommen hat, um nach dem Anatomiekurs zu fahren. Kaum haben sie einen kleinen Abstecher zur Modistin gemacht, um die dringende Frage eines neuen Hutes zu erledigen, so begegnet ihnen der Wagen des Barons, der gerade auf dem Wege ist, die neuen Experimente mit brennbarer Luft zu sehen. Die Damen sind entzückt, ihn zu begleiten, nachdem er sich verbürgt hat, daß sie durch keinen Knall erschreckt werden. Aber unterwegs sehen sie die reizendsten sprechenden Papageien und müssen einen Augenblick bei dem Verkäufer eintreten. Der Baron wird entlassen, man begegnet jedoch beim Heraustreten aus dem Lokal dem Grafen, welcher nach der Blindendruckerei fährt. „Einzig, himmlisch, köstlich!“ Man befiehlt dem Kutscher, ebenfalls hinzufahren, bis der Marquise plötzlich einfällt, daß heute der letzte Termin ist, um ein ausgestelltes Bild zu sehen. Kaum sind sie im Atelier, so erinnert sich ihre Begleiterin, daß heute im botanischen Garten die Aloë aufblühen soll, die man um alles in der Welt nicht versäumen will. Und so geht es fort, vom botanischen Garten ins Modemagazin, zum Buchhändler und Architekten, bis endlich am Ende dieser anstrengenden Tour der wiedergefundene Baron mit dem Satze schließt: „Sie wollten ja in die Anatomie, meine Damen!“

Mag die große Mehrzahl der damaligen Schönen in diesem Bilde getroffen sein, so waren andererseits genug glänzende Ausnahmen davon vorhanden, wirklich hochbedeutende Frauen, die es verstanden, geistvolle Männer um sich zu versammeln und den geselligen Umgang mit einem so hohen und eigenartigen Reiz zu umkleiden, daß er unter den Fortschrittsmitteln des Jahrhunderts den ersten Rang einnahm. Allerdings nur, bis sich aus den neuen Anschauungen und Verhältnissen wieder Männercharaktere entwickelten, die aus der thatenlosen Schönrednerei in das beginnende politische Leben, in die Bahn der Redner, Staatsmänner und Helden eintraten. Die große Revolution hatte unter vielen segensreichen Folgen auch die, das natürliche Verhältniß der Geschlechter wieder herzustellen. Aber vorbereitet wurde sie in den bureaux d’esprit, wie man die Salons um die Mitte des vorigen Jahrhunderts nannte.

Es wäre indessen ein großer Irrthum, zu glauben, daß die darin Versammelten sich vom Geiste allein genährt und die Freuden der Tafel verachtet hätten. Ganz im Gegentheil. Diese „offenen Abende“ bauten sich nicht wie unsere heutigen auf einer Tasse Thee auf, sondern auf mehr oder minder reichlichen warmen Soupers, die in manchem Hause zweimal die Woche gegeben wurden. Bei dem Minister Choiseul, wo sich die elegante Welt fünfmal wöchentlich versammelte, erschien, nachdem alle da waren, ein Viertel vor Zehn der Haushofmeister, warf einen Blick auf die Gäste und ließ dann für fünfzig, sechzig oder achtzig aufs Gerathewohl decken. Die Neigung zu solch zwangloser Geselligkeit griff rasch um sich, niemand wollte mehr seine Leute altväterisch vorher einladen, alle möglichen Variationen des „offenen Abends“ wurden erdacht. In einem der großen Häuser fanden die erstaunten Gäste den Salon zum Wirthslokal umgewandelt, hinter einem stattlichen Büffet voll Delikatessen saß die Hausfrau als Wirthin mit der weißen Musselinschürze, der Hausherr ging als Wirth ab und zu, die Dienstboten waren als Kellner verkleidet. Zahlreiche Tischchen mit Gläsern, Tassen und Zeitungen vollendeten die Täuschung, als ob man sich im Café befinde; im Hintergrund des Saales öffnete sich, nachdem die Gesellschaft eine Stunde lang gescherzt und gelacht hatte, eine kleine Bühne, auf der Pantomimen, kleine Lustspiele u. dergl. dargestellt wurden. Grund genug zu Heiterkeit und sprudelnder Laune – man begreift solchen Schilderungen gegenüber den Stoßseufzer eines alten Emigranten am Anfang unseres Jahrhunderts: „Wer nicht vor 1789 gelebt, hat gar keine Ahnung von der Süßigkeit des Daseins!“ Auf wessen Kosten die privilegierten oberen Klassen so süß ihr Dasein genossen, davon hatte freilich der Herr Marquis seinerseits keine Ahnung!

Aber nicht diese vom lärmenden Gesellschaftstreiben erfüllten Räume, deren Schilderung sich ins unendliche vermehren ließe, sind die wirklichen „Salons“ des 18. Jahrhunderts, sondern die stilleren geistig vornehmen Versammlungen im Zimmer einer jener bedeutenden Frauen, die tonangebend in ihrem Kreise standen und ihn mit der Macht eines überlegenen Geistes beherrschten.

Auch ihre Zahl ist sehr groß, doch heben sich aus der Menge einige Frauen hervor, die durch ihre berühmten Freunde ein doppeltes Interesse gewähren und uns aus deren Briefen und Memoiren als Hauptfiguren der damaligen litterarischen Kreise entgegentreten.

Da ist zunächst Madame be Tencin, der älteren Generation angehörend, eine Zeit- und Gesinnungsgenossin des Regenten Philipp von Orleans und in ihrer Jugend tief verwickelt in Hofintriguen der bedenklichsten und ruchlosesten Art. Als aber in Versailles die Marquise von Pompadour Alleinherrscherin geworden war, da zog sich Madame de Tencin nach Paris zurück und eröffnete dort einen der ersten Salons, aus dem der Spieltisch verbannt war und wo eine Gesellschaft von gelehrten und künstlerischen Größen sich zusammenfand, die hier zum ersten Male galten, was sie innerlich waren, ohne Rücksicht auf den Rock, den sie trugen, Frau von Tencin heuchelte keine der weiblichen und edeln Eigenschaften, die ihr fehlten, allein sie bildete und erzog die Männer um sich her, sie wies ihnen die Möglichkeiten des Erfolgs mit einer unfehlbaren Sicherheit, die ihrem scharfen Geist und der Beobachtung eines erfahrungsreichen Lebens entsprang. Sie ist keine wohlthuende Figur, diese Frau, welche keine Zuneigung des Herzens, sondern nur Taxation des Geistes kannte und eines Tages, auf ihre Brust deutend, sagte: „Hier schlägt nur ein zweites Gehirn!“ Aber sie steht ebenbürtig unter ihren berühmten Gästen, und Leute wie Montesquieu, Fontenelle, Helvetius und andere sahen über die schweren Flecken ihrer Vergangenheit hinweg in Bewunderung eines Geistes, den auch Goethe nachmals hochschätzte.

Frau von Tencin hatte in ihrer Jugend verschiedene Liebesverhältnisse geknüpft und gelöst, die denselben entsprossenen Kinder überließ sie einfach ihrem Schicksal. Eines derselben war der berühmte d’Alembert, der den Geist seiner Mutter hatte, aber zugleich ein wärmeres Herz und ihr niemals verzieh, was sie an seiner Jugend gesündigt hatte. Als er sich durch das Elend emporgerungen und einen Namen erworben hatte, da wollte sie sich ihm nähern, er jedoch stieß sie verachtungsvoll zurück und hielt zeitlebens als seine Mutter die gute Glasersfrau in Ehren, welche ihn einstmals von der Kirchentreppe aufgehoben und als ihren Sohn erzogen hatte. Es wird nicht berichtet, daß Frau von Tencin hierüber besonderen Kummer empfunden habe.

Sie starb 1749, und als ihr in den letzten Zeiten die dicke gutmüthige ebenfalls sehr gescheidte Madame Geoffrin einen Besuch machte, sagte sie zu ihrer Umgebung: „Aha, die kommt, um zu sehen, was sie von meinem Inventar brauchen kann.“ Und in der That ging dann dieses Inventar von Poeten und Gelehrten ziemlich vollständig in den Besitz der „Mama Geoffrin“ über, [640] wie diese aus bürgerlichen Kreisen stammende Dame bald von ihren Gästen genannt wurde.

Die eigentlich geistreichen Damen ärgerten sich über die Anmaßung der reichgewordenen Bürgersfrau, aber das that dem Besuch ihres Salons keinen Abtrag; dieser hatte vielmehr seine besondere Anziehungskraft. Madame Geoffrin war der gesunde Menschenverstand in Person, mit ihrer Bildung war es nicht weit her, und sie selber pflegte darüber zu scherzen. Lachend bemerkte sie einmal zu einem ihrer Gelehrten: „Ach, lieber Freund, Sie wollen mir eine Grammatik widmen, ich kann ja selbst keinen ordentlichen Satz schreiben!“ Aber sie kannte und beurtheilte alle Verhältnisse der kleinen Gelehrtenrepublik außerordentlich richtig und behandelte mit wahrer Meisterschaft das persönliche Element, das auch bei geistreichen Leuten seine Rolle spielt. Sie besaß die große Kunst, nur von dem zu reden, was sie gut verstand, und über alles andere das Wort an diejenigen abzugeben, die es führen konnten.

Aber auch bei dieser gutmüthigsten aller Salonbesitzerinnen spielte doch der Kopf eine viel größere Rolle als das Herz; sie war wohlthätig, ohne an den Beschenkten einen wirklichen Antheil zu nehmen; die lange Erfahrung eines Lebens unter den verschiedensten Menschen hatte ihren Glauben an menschlichen Werth sehr herabgestimmt, wenn sie sich auch wohl hütete, jemals die Menschenverachtung auszusprechen, die aus jedem Wort ihrer offenherzigeren Rivalin, der Marquise du Deffand, hervorleuchtet. Doch lassen gelegentliche Aussprüche einen Blick in ihre wahre Meinung thun. Einmal hatte sie im Auftrag ihrer hohen Gönnerin, der Kaiserin Katharina von Rußland, welche lebhafte Fühlung mit dem litterarischen Paris unterhielt, einen jungen Autor zu bearbeiten, daß er ein Werk über den russischen Hof nicht drucken lasse, von welchem allerhand unliebsame Enthüllungen zu besorgen waren. Madame Geoffrin glaubte den kürzesten und besten Weg einzuschlagen, wenn sie ihm einfach Geld bot, und als der Schriftsteller, hierüber aufs äußerste empört, ihr heftige Reden ins Gesicht schleuderte über die Schändlichkeit einer solchen Zumuthung, wo es doch gelte, Mißbräuche aufzudecken und die Wahrheit zu sagen, da ließ sie ihn ausreden und sagte dann sehr ruhig: „Nicht wahr, Sie wollen mehr haben?“

Daß eine solche Seele, die den moralischen Muth gar nicht begriff, auch selbst keinen besitzen konnte, liegt auf der Hand. Die innere Charakterlosigkeit dieser Philosophenfreundin zeigt ihr Verhalten in religiösen Dingen. Während bei ihren Diners der Atheismus den Vorsitz führte, wagte sie, die eigentlich innerlich ihrer Kirche anhing, kein Wort zur Vertheidigung der geleugneten Existenz Gottes zu sagen, aber heimlich, so heimlich, daß keiner ihrer Freunde dahinter kam, als gelte es, ein galantes Abenteuer zuzudecken, ging sie zur Messe in eine entfernte Kirche und saß dort hinter dem Gitter einer Loge, unsichtbar für die andern, „um sich mit dem Himmel auf gutem Fuß zu halten“.

Abgesehen von solchen Schattenstrichen lächelt uns aber aus dem zierlichen weißen Häubchen der Madame Geoffrin ein rundes gemüthliches und liebenswürdiges Gesicht entgegen. Auch sie wußte, wie viel die gute Küche zum Behagen der Geistreichen beiträgt, und gab sich große Mühe, ihre Diners, bei denen Voltaire, Diderot, Helvetius, Grimm, d'Alembert und viele andere glänzende Männer saßen, mit aller möglichen Opulenz auszustatten. Der intime Kreis versammelte sich dann auch wieder in großer Einfachheit. Wenn man nur zu Fünfen oder Sechsen zusammensaß, wurde bei einem gebratenen Huhn, bei einer Platte Spinat und einer Omelette über die höchsten Dinge disputiert.

Dieser Sachverhalt entriß gelegentlich der weit geistreicheren Marquise du Deffand, die es ihren Freunden schwer verdachte, daß sie sich bei dieser bürgerlichen Madame Geoffrin so wohl fühlten, den berühmten Ausruf: „Quoi, tant de bruit pour une omelette!“

Und hier sind wir bei dem Namen einer Frau angelangt, welche, die interessanteste von allen, uns den Typus jener geistvollen, herzenskalten, gemüthlosen Damen vollkommen darstellt, die endlich selbst ihre innerliche Oede und Armuth aufs fürchterlichste empfinden, ohne doch ein Mittel gegen den endlosen „ennui“ zu wissen, der ihr Leben vergiftet, gegen jene quälende Freudlosigkeit, die aus dem Mangel einer tüchtigen Beschäftigung entspringt und die Strafe jedes müßigen Lebens ist. Für die Gesellschaft des 18. Jahrhunderts war dieser gefürchtete „ennui“ („Langeweile“ deckt das Wort nicht, welches noch Ueberdruß und Ekel einschließt) eine ganz specielle Geißel.


II.

Madame du Deffand, welche in ihren mittleren Jahren zu Frau von Genlis sagte, als diese ihre kleine Tochter liebkoste: „Sie lieben das Kind wohl sehr?“ und, als dies natürlich bejaht wurde, hinzusetzte: „Ach, da sind Sie sehr glücklich, ich habe niemals etwas lieb haben können“ – dieselbe Madame du Deffand saß in ihren alten Tagen erblindet ihrem alten Freund Pont de Veyle gegenüber und äußerte nach einer langen Pause des Schweigens:

„Pont de Veyle, man muß doch zugestehen, daß wenige Freundschaften so dauerhaft sind wie die unsrige!“

„Ja, das ist wahr.“

„Sie besteht jetzt fünfzig Jahre.“

„Fünfzig Jahre – gut und gern.“

„Und in all der Zeit kein Verdruß, nicht einmal eine vorübergehende Wolke.“

„Das eben habe ich immer bewundert.“

„Aber, Pont de Veyle, kommt das nicht vielleicht daher, daß wir uns eigentlich recht gleichgültig waren?“

„Das ist wohl möglich, Madame!“

Der Ort solcher Unterhaltungen war dasselbe Kloster von St. Joseph, in welches seinerzeit die La Vallière ihre Reue und ihre Schmerzen geflüchtet und wo auch zehn Jahre später Frau von Montespan „manchmal versucht hatte, Ludwig XIV. zu vergessen und an Gott zu denken“. Die Marquise du Deffand begehrte die klösterliche Gastfreundschaft für den Rest eines Lebens, das im Geräusche der Welt verstrichen war und ihr als Endergebniß das große Wort von der „Eitelkeit der Eitelkeiten“ gelassen hatte. Sie trat übrigens nicht in das Kloster ein - das brauchte es nicht, um darin zu leben. Die Klöster jener Zeit erfüllten neben ihrem eigentlichen Zweck den anderen, alleinstehenden Frauen Unterkunft und Pension in eigenen Räumlichkeiten zu gewähren. Die Marquise besaß die Mittel, schöne Zimmer und reichlichen Tisch zu bezahlen, und in ihrem Salon, angezogen von dem Geiste der alten, schon seit Jahren erblindeten Frau, versammelten sich ein- oder zweimal in der Woche dieselben Leute, welche bei Mama Geoffrin plauderten. Was heute für uns undenkbar wäre: eine Anzahl junger, geistvoller und lebenslustiger Männer den Sessel einer blinden Greisin umgebend und ihr mit höchstem Interesse zuhörend, das vollzog sich dort auf die natürlichste Weise. Und für sie, die Früherblindete, war diese Geselligkeit das erste Lebensbedürfniß, sie vermochte in ihr für ein paar Stunden den Abscheu vor dem Leben zu vergessen, den sie als schwerste Last bis in die Achtzig zu schleppen hatte. Ihr Blindsein ertrug sie mit der unerschütterlichen Gelassenheit, welche bei ihr der ungeheuren Verachtung alles Irdischen entsprang. Außerdem brachte sie fertig, was nur außerordentliche Menschen können, ein so trauriges Gebrechen mit so vielen Gaben des Geistes und der Phantasie zu decken, daß sie eben doch einzig unter allen da stand. Allein ihr innerstes Wesen, wie ihre Briefe es uns zeigen, ist ein einziger Schrei nach Erlösung aus diesem fürchterlichen Einerlei des Daseins, aus der geselligen Konvention und ihren fortgesetzten Lügen.

„So groß ist heute die Seltenheit wahren Gefühls bei uns,“ sagte sie schon in früheren Jahren, „daß ich manchmal auf der Straße stehen bleibe, um einem Hunde zuzusehen, der einen Knochen benagt. Das wenigstens ist Natur. Ich versichere Sie, lieber Freund, es giebt Leute, welche die Bäume und Steine beneiden, weil diese den ennui nicht fühlen.“

Das Innere dieser Frau zeigt uns an einem großen Beispiele, wohin auch der begabteste Mensch kommt ohne wirkliche Thätigkeit körperlicher oder geistiger Art. Denn so sehr Madame du Deffand es liebte, mit ihrem glänzenden Witze die schwachen Seiten der Philosophie und der Philosophen zu beleuchten, so wenig war sie geneigt, sich ernsthafte Kenntnisse zu erwerben.

„Ich liebe sehr Memoiren, Romane, auch Reisebeschreibungen, in denen man Menschen und Sitten kennenlernt, aber die wirkliche Geschichte, die Moralphilosophie und alle derartigen Dinge sind mir unausstehlich langweilig.“ Die Menschen genügten ihr indessen auch nicht. „Lieber Gott, was für Unterschiede unter den einzelnen! Nicht weniger als zwischen einem Engel und einer Auster! . . . Wie glatt, wie dumm und trivial sind die meisten!“

Solche bittere Ausfälle sind die Anzeichen eines tiefen Gefühls innerer Vereinsamung. Die unglückliche Frau hatte keine Kinder [642] und Enkel, nichts von dem, was im Alter das Leben versüßt, und doch zugleich das Entsetzen vor dem Altern selbst, welches geistig sehr bedeutenden und dabei egoistischen Menschen zu allen Zeiten eigen ist. Nicht alle haben den glücklichen Humor der Madame de Sévigné, welche, selbst beglückte und liebenswürdige Großmama, einem gealterten Unwiderstehlichen, der sich über seine neue Großvaterwürde nicht trösten konnte, scherzhaft schrieb: „Pätus, es schmerzt nicht!“ Madame du Deffand besonders konnte sich nicht darein finden, und obgleich sie klar einsah, daß dem Alter Zurückhaltung und Entfernung aus der Gesellschaft wohl anstehe, war ihr schon der Gedanke entsetzlich, einen Abend allein zu sein, sie wollte, wie sie einmal sagte, lieber einen Minoritenbruder zur Gesellschaft haben, als die schreckliche Langeweile des Alleinseins erdulden, die sie als ärgste Geißel des Lebens fürchtete.

„Verschaffen Sie mir ein Geheimmittel gegen den ennui,“ schreibt sie einmal, „und ich will Ihnen dankbarer sein, als wenn Sie mir den Stein der Weisen geoffenbart hätten.“

Wohl trug die Abhängigkeit der Blinden von Vorleserin und Sekretär sehr dazu bei, dieses Gefühl zu schärfen, sie sprach es aber auch schon aus, als sie noch sehend war; es ist das allgemeine Leiden einer Zeit, welche den Genuß an Stelle der Arbeit setzte.

Den schwierigen Posten einer Vorleserin nahm bei der Marquise jahrelang zu ihrer großen Zufriedenheit ein junges Mädchen ein, deren Name als Freundin d’Alembert’s ebenfalls unzertrennlich von jener Glanzzeit französischen Geistes ist: Julie de Lespinasse. Sie war das Kind einer adligen Dame, mußte aber ihrer Verhältnisse wegen froh sein, als 1754 die damals schon fast ganz erblindete Madame du Deffand sie als Gesellschafterin zu sich nahm, Es war kein leichtes Geschäft für das zarte Mädchen, der schwer zu befriedigenden Gebieterin, die an fortwährender Schlaflosigkeit litt, mit Gespräch und Lektüre die Nächte hinbringen zu helfen, und manchmal erlag die Gesellschafterin fast der Aufgabe. Eifersüchtig wachte dann abends die alte Frau darüber, daß die außerordentliche Anmuth der Jüngeren, ihre seltene Grazie und glücktiche Gabe, das interessanteste Gespräch zu beginnen, nicht ihren eigenen berühmten Geist verdunkle, und besonders durfte d’Alembert, der sich von Anfang an aufs entschiedenste zu Julie hingezogen fühlte, nicht wagen, dies in Gegenwart der Gebieterin zu zeigen, die ihn wegen seines glänzenden Geistes und liebenswürdigen Herzens vor allen auszeichnete. So wie er fühlten sich auch die anderen nach und nach durch die ungestümen Ansprüche der Herrin des Salons etwas beengt und sehnten sich nach einem unbefangenen Gespräche mit der liebenswürdigen Julie, deren gleichmüthige Sanftheit im Ertragen der alten launenhaften Frau die allgemeine Bewunderung erregte. Es war nicht schwer, eine solche Gelegenheit zu finden, aber alle Besucher von St. Joseph und Fräulein de Lespinasse namentlich wußten, daß dies einem Todesverbrechen gegen die Marquise gleichkam und strengstens verheimlicht werden mußte. Die Besucher kamen einfach abends eine Stunde früher, ehe Madame du Deffand, die den Tag zur Nacht machte, aufstand, und versammelten sich in dem Stübchen ihrer Gesellschafterin zu ebener Erde, wo dann ohne Zwang in bester Laune geplaudert werden konnte, und dieser „salon de contrebande“, wie ihn einer nannte, ging jedem von ihnen weit über den der Marquise.

Jahre lang fanden sich hier die ersten Geister von Paris zusammen, um nicht nur esprit zu haben, wie im oberen Stockwerk, sondern um von den großen politischen und socialen Gebrechen, von den Mitteln zu ihrer Heilung zu reden, für welche Madame du Deffand sich nicht interessierte. Endlich aber wurde das Geheimniß offenbar, und nun kannte die Entrüstung der alten Frau keine Grenzen. Sie sah sich betrogen und verrathen von ihren Nächsten, sie, die an den Menschen kaum etwas anderes mehr achtete, als die Wahrhaftigkeit und mit vollem Recht sowohl d’Alembert als seine junge Freundin für wahrhaft gehalten hatte. Kein Bitten und Zureden half, sie entließ Fräulein de Lespinasse sofort, und als sie hörte, daß in deren neuem Quartier dieselben Menschen, die ihren eigenen Soupers anwohnten, sich bei einem Glas Zuckerwasser zusammenfanden, da stellte sie ihren Gästen einfach die Alternative: sie oder ich! Weil es ihr unmöglich schien, d’Alembert’s Umgang zu missen, glaubte sie dasselbe auch von ihm, allein er zögerte keinen Augenblick und entschied sich für seine junge Freundin.

Madame du Deffand wurde deshalb noch nicht einsam, sie hatte nur einige von denen verloren, welche allabendlich den gelben Salon von St. Joseph bevölkerten, aber unter ihnen eben den Einen, den sie nie vergessen konnte. Ihr Haß gegen Julie de Lespinasse trotzte jeder Vermittelung, und als sie fünfzehn Jahre später deren Todesnachricht erhielt, war ihre einzige Bemerkung: „Wäre sie damals gestorben, so hätte ich d’Alembert behalten!“ Nicht ohne Beziehung auf jene Vorfälle ist auch ihr Wort: „Warum hat sich wohl Diogenes so viel Mühe gegeben, einen Menschen zu suchen? Es konnte ihm ja nichts Besseres passieren, als keinen zu finden, denn wenn er ihn wieder hergeben mußte, würde ihm das alle anderen verleidet haben!“

Und seltsam! Dieser herben, sarkastischem menschenverachtenden Seele sollte inmitten ihres verhärteten Egoismus das scheinbar Unmögliche widerfahren, im hohen Alter eine Empfindung kennen zu lernen, die sie ihr Lebtag gelästert und verleugnet hatte, und mit siebzig Jahren zum ersten Male zu lieben wie ein siebzehnjähriges Mädchen. Ein vornehmer Engländer, Horace Walpole, betrat wie so viele ausgezeichnete Fremde den Salon der Marquise, den man gesehen haben mußte, wenn man von Paris heimkehrte. Voltaire sagt von ihr: „Wenn man sich in Gesellschaft der Madame du Deffand befindet, wüßte ich niemand, den man nicht entbehren könnte.“ Walpole, ein sehr energischer, ebenfalls höchst geistvoller Mann, empfand anfangs diesen Zauber durchaus nicht, sondern schrieb an einen Freund von der „alten blinden Geistesschwelgerin“, mit der er gestern abend zu Nacht gegessen habe. Ihr aber hatte der männliche Klang seiner Stimme, die freimüthige und sehr rücksichtslose Ausdrucksweise einen Eindruck gemacht wie nie etwas vorher, und mit glühendem Enthusiasmus strömte sie das neue Gefühl aus, das im Schnee des Winters als ungeahnter Frühling über sie hereinbrach.

Walpole selbst war im Anfang sehr betreten, er fürchtete, wie alle glänzenden Weltmänner, die Lächerlichkeit über alles und trat mündlich und brieflich mit der größten Härte den Aeußerungen einer Zärtlichkeit entgegen, die für ihn, den achtundvierzigjährigen Mann, geradezu unerträglich war. Der Briefwechsel der beiden liefert Belege, die in ihrer Art einzig dastehen – von der willenlosesten Hingabe der sonst so hochmüthigen Egoistin und der grausamsten Verhöhnung ihrer Ergüsse von seiten Walpoles.

„Sie lassen mir keinen Zweifel über Ihren Widerwillen gegen mich,“ schreibt Madame du Deffand einmal. „Wissen Sie, was mir das für einen Effekt macht? Daß ich Sie nicht weniger liebe als vorher . . . Ohne den verwünschten Ocean, der so übel placiert ist, weil er uns trennt, wäre ich trotz meines Alters die Glücklichste der Menschen.“

Einer solchen Anbetung widerstand auf die Dauer auch ein Horace Walpole nicht. Trotz gelegentlicher strenger Zurückweisungen wurde er doch nach und nach wärmer und erwiderte wenigstens mit aufrichtiger Freundschaft die an Vergötterung grenzende Zärtlichkeit der einsamen alten Frau. Sie interessierte ihn doch bald aufs höchste, er brachte bei einem zweiten Aufenthalt in Paris, den sie stürmisch herbeigesehnt hatte, lange Stunden in ihrer Gesellschaft zu und bewunderte ihre geistige und körperliche Lebhaftigkeit, wie sie in diesem Alter selten genug ist. Einem Freunde schrieb er damals: „Sie hat mit 73 Jahren eben so viel Feuer, als andere mit 23, sie macht Couplets und singt sie und erinnert sich an alle, die sie je gesungen hat. Durch ihre Lebensdauer von der angenehmsten Zeit des Jahrhunderts an bis auf unsere (1774)), welche die philosophische genannt werden kann, vereinigt Madame du Deffand die Vorzüge von Alter und Jugend ohne ihre Fehler: Liebenswürdigkeit ohne Eitelkeit und Vernunft ohne Grämelei, Ich habe sie mit allen möglichen Leuten über jedes mögliche Thema sprechen hören, und sie bleibt niemals stecken. Sie schlägt die Gelehrten, setzt die Anfänger an ihre Stelle und findet das richtige Wort für jeden. Sie ist so lebhaft und eindrucksfähig wie Madame de Sévigné, aber sie theilt nicht deren Vorurtheile und hat einen viel umfassenderen Geschmack. Trotz ihrer zarten Körperbeschaffenheit führt sie in ihrer unglaublichen Beweglichkeit ein Leben, das mich einfach ruinieren würde, wenn ich hier bleiben müßte. Wenn wir um ein Uhr morgens von einem ländlichen Souper heimkehren, so schlägt sie noch einen Spaziergang über die Boulevards vor, weil man ‚so früh doch unmöglich schon schlafen gehen könne‘. Vorige Nacht hatte ich alle erdenkliche Mühe, sie, die sich noch dazu unwohl fühlte, vom [643] Aufbleiben bis zwei oder drei Uhr abzubringen. Sie wollte den Kometen sehen oder vielmehr, sie glaubte, daß es mich amüsieren würde, ihn zu sehen, und hatte zu diesem Zweck einen Astronomen nebst Fernrohr bestellt.“

Am andern Morgen, als Walpole die Augen öffnete, fand er schon einen Brief, den sie ihm noch vor Schlafengehen geschrieben hatte! Umsonst suchte er solche Flammen etwas einzudämmen, er entsetzte sich geradezu, daß man ihn in seinem Alter „reizend“ finde, es half alles nichts, sie ernannte ihn um seiner großen Weisheit willen zu ihrem Vormund und drohte ihm, als er nach England zurückkehrte, wo er als Herr eines schönen Landsitzes ein sehr angenehmes Leben führte, in einem scherzhaften Brief, sie werde ihm nachfolgen, in den Gassen von London ihre Liebe für ihn proklamieren, sich in seinem Hause installieren und nicht mehr fortgehen.

„Nehmen Sie schnell das Riechfläschchen, theurer Vormund, denn Sie sind nahe daran, in Ohnmacht zu fallen. Und doch steht Ihnen dies alles sicherlich bevor, wenn Sie mir nicht zweimal in der Woche schreiben.“

Und er schrieb, ja, er kam in den folgenden Jahren nochmals für längere Zeit, einzig und allein, um seine alte Freundin zu besuchen, die dann auch ohne Rücksicht auf Tages- oder Nachtzeit bei ihm erschien und mit ihrer gewohnten Bestimmtheit erklärte, es liege nichts Unschickliches darin, daß sie seiner Toilette beiwohne, da sie ja nichts davon sehen könne. Sie ward nicht müde, ihn anzustaunen und zu beneiden, daß er als gesunder natürlicher und thätiger Mensch den „ennui“ nicht kenne, und war geneigt, in ihm eine Ausnahme von dem ihr so verächtlichen Menschengeschlecht zu erblicken, während er in Wirklichkeit mit seinen englischen Gewohnheiten und Anschauungen eine Ausnahme nur unter den verweichlichten und blasierten Franzosen war. Er hatte weite Reisen gemacht und nach der Rückkehr seinen Landsitz Strawberry Hill mit den mitgebrachten Gegenständen zu einer Sehenswürdigkeit umgestaltet. Ohne jedes Stilbedenken vereinigte er hier ein Gemisch von Antike und Gothik, Renaissance und Rokoko, welches der vornehmen Welt als der Inbegriff alles Schönen erschien. Nicht der kleinste Anziehungspunkt war die Persönlichkeit des Hausherrn, der sein skeptisches Junggesellenthum aufrecht erhielt trotz aller wohlgezielten Angriffe aus schönen Augen und mit tadelloser Liebenswürdigkeit den Pflichten des Wirthes nachkam, ohne sich dabei in Fesseln schlagen zu lassen.

Es war also kein Wunder, wenn auch Madame du Deffand diesen unerhörten Mann für die größte Merkwürdigkeit des Jahrhunderts ansah und alle ihre Gedanken ihm widmete. Die sechzehn letzten Jahre ihres Lebens sind einzig von diesem Interesse bewegt; was sonst nebenher ging, war für sie bloßer Schatten. Und doch war um diese Zeit ihr Salon der einflußreichste von allen. Diplomaten, Minister, Fürsten und Könige eilten, sich der Marquise vorzustellen, Voltaire kam, nicht minder Joseph II. bei seinem Pariser Aufenthalt, was irgend auf Beachtung Anspruch machte, drängte sich um die alte blinde Frau. Ihr einziges Interesse aber war „der Mann von Eisen und Schnee“, vor dessen strengen Briefen sie zitterte, dem sie hundertmal Besserung ihrer Ausdrucksweise, Unterdrückung ihrer Zärttichkeit gelobte, um dann zum Schluß zu sagen: „Können Sie denken, welche Narrheit mir jetzt durch den Kopf schießt? Wenn es möglich wäre, daß Ihre Briefe den Klang Ihrer Stimme hätten, wie glücklich würde ich sein ...“

Am Tage seiner letzten Abreise schreibt sie dem Angebeteten: „Adieu! Das Wort ist sehr traurig. Vergessen Sie nicht, daß Sie hier ein Wesen zurücklassen, von dem Sie zärtlich geliebt werden und dessen Gtück und Unglück allein in dem besteht, was Sie von ihm denken.“

Es liegt eine wehmüthige Ironie in diesen Schlußworten eines Lebens, das für jenes ganze Zeitalter das Spiegelbild abgeben kann. Es ging zu Ende mit der alten Gesellschaft des 18. Jahrhunderts. Die lustige Frivolität, das schamlose Laster, die Emancipation von allen Schranken, der Hohn über das Gefühl und der ausschließliche Kultus des Geistreichthums, es hatte sich alles durchgelebt und überlebt. Und dem alten und ewigen Gesetze der Menschennatur zufolge kommt, wenn die Zustände sich ins Einseitige und Unleidliche zugespitzt haben, unversehens ein ungeheurer Rückschlag, der als Sturmfluth hereinbricht und, zurückweichend, eine völlig neue Gestaltung hinterläßt. Der Mann dieser Umwälzung war Rousseau. Sein Ruf nach Rückkehr zur Natur und Einfachheit lieh dem stillen Verlangen von Tausenden die Stimme, und urplötzlich erklangen die verpönten Worte: Empfindung, Liebe, Leidenschaft aus dem Munde einer Generation, die kaum einen Zug noch mit der vorigen gemein hatte. Die alten Gestalten verblaßten neben dem begeisterten jungen Frankreich, das mit stürmischem Herzschlag der großen Revolution entgegenstrebte. Als die letzte der Geistesvirtuosinnen einer versunkenen Zeit starb 1784 die Marquise du Deffand dreiundachtzigjährig; voll Ekel und Abscheu am Leben und doch in Furcht vor dem Tode, der sich übrigens ihrer erbarmte und sie sanft hinwegnahm.