Das neue Babylon von Eugen Pelletan

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Titel: Das neue Babylon von Eugen Pelletan
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aus: Die Gartenlaube, Heft 46, S. 719–720
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1862
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[719] Das neue Babylon von Eugen Pelletan. Der französische Märtyrer der Presse, Eugen Pelletan, neulich in allen Zeitungen als Redner im Congresse für sociale Wissenschaften in Brüssel genannt und excerpirt mit seinen Hauptstellen: „ganz Frankreich ein 300 Meilen weites Zuchthaus, – nichts mehr frei, als die Pflastersteine, – Freiheit nur durch Straßenfrechheit der Mädchen ersetzt – die französische Presse nur eine Form des Schweigens“ etc. – dieser Eugen Pelletan hat im Gefängnisse, wo er für einen im Courrier du Dimanche veröffentlichten Artikel büßte, das jetzige Napoleonische Paris in einem besondern Buche als „La Nouvelle Babylone“ geschildert. Dieses neue Babylon hat in Frankreich, wo man seit Jahren keine freie Herzens- und Gallenergießung in die Öffentlichkeit kommen ließ, ungemein viel eifrige Käufer und Leser gefunden.

Das Buch ist im Sinne eines „vieux provincial“ geschrieben, der Paris nach dreißig Jahren zum ersten Male wieder sieht und es natürlich kaum wieder erkennt in seiner furchtbaren innern Häßlichkeit unter äußerem koketten, lügnerischen Glanze.

Pelletan schildert seine Landsleute als eine entartete, verlebte Race, die für nichts mehr Sinn haben, als für die groben materiellen Genüsse, die man sich für Geld und allerhand unsittliche Kunststücke der Civilisation erkaufen kann, erschwindeltes oder in der Lotterie der Börse gewonnenes Geld im Café Anglais verprassend oder es mit gefräßigen Werkzeugen ihrer Lust verlotternd, die nach keiner Literatur fragen, wenn sie nicht aus dem Sinnlichkeitskitzel eines Flaubert oder Feydeau besteht – Menschen ohne Ehrgefühl und Selbstachtung, Freiheit als zur „Politik“ gehörig und deshalb als langweilig meidend und verspottend, Lakaienseelen in Affenkörpern, die nur noch von den niedrigsten Lastern eines orientalischen Sensualismus bewegt und bestimmt werden.

Diese Art von Charakteristik beschränkt er nicht etwa auf das männliche Geschlecht, nein, das weibliche besteht aus pflichtvergessenen Töchtern, schlechten Müttern und liederlichen Gattinnen. Kleiderluxus und Gefallsucht ist die große und ganze Arbeit ihres Lebens. Er giebt nicht blos zu verstehen, sondern stellt es geradezu als ausgemachte Thatsache hin, daß Frauen und Töchter schlechtbezahlter Beamten oder knickeriger Hausväter nicht anstehen, ihre Ehre zu verschachern, um die Rechnung eines unangenehm werdenden Modisten zu berichtigen und diese Art von Geschäften zu wiederholen, um sich einen neuen Hut oder einen neuen Kleiderstoff zu kaufen.

Die Presse ist dem Verfasser natürlich ein Hauptsymptom des sittlichen und intellectuellen Verfalles. Seine Schilderung des Journalismus ist so graphisch und, wie es scheint, richtig, daß wir sie möglichst treu wiedergeben wollen.

„Ein Fremder im Gasthof wacht auf, klingelt und fragt den Kellner, wie’s Wetter aussehe. Der Kellner öffnet das Fenster, sieht auf und antwortet: „sieht nach gar nichts aus, Monsieur.“ Das ist die öffentliche Meinung in Paris, Niemand bekümmert sich mehr um die politischen Zustände seines Landes, einige alte Narren ausgenommen, die immer noch von Freiheit faseln. Da kam mir neulich so ’n alter Raisonneur in die Quere, der mich als Mann der Presse etwa so abkanzelte: „Wer könnte sich heutzutage noch für ’n Zeitungsartikel interessiren? Einige alte Kerls, wie Sie selbst, Veteranen der liberalen Presse, quälen sich wohl noch gelegentlich einen Leitartikel ab, weil’s mal Ihr Geschäft war. Und statt nun auf den Straßen umherzubetteln – was mit der Polizei in Conflict bringt, ziehen Sie’s vor, sich durch Zeitungsschreiberei der Gefahr eines hypothetischen Verbrechens gegen die Februar-Ukase auszusetzen. Aber, ehrlich gestanden, worüber können Sie denn überhaupt schreiben, wenn Sie bei jedem Worte fürchten müssen, daß irgend eine Anklage darauf begründet werden könne? Sie schreiben in Räthseln, plagen sich mit dunkeln Anspielungen und verwahren und entschuldigen sich. Sie sagen nicht, was Sie meinen, und wenn wir sagen wollen, wir können lesen, müssen wir klar herausfinden, was Sie sorgfältig verschwiegen haben. Im besten Falle tischen Sie ein Bischen Wahrheit auf, niedlich in ein Räthsel eingepackt. Sie schreiben immer unter dem Fluche, Ihre wahren Gedanken verbergen zu müssen. Sie sind zu ehrlich, um mir nicht Recht zu geben, wenn ich sage, daß uns Ihre ängstlichen Sprünge auf dem gespannten Seile keinen Spaß machen. Wir lesen zwar immer noch Zeitungen, weil man doch einmal etwas lesen will, und – Gott sei Dank! Anzeigen giebt’s ja noch alle Tage. Frankreich fürchtet sich vor dem Denken, wie vor ’ner Krankheit, und trägt eine Chloroform-Binde um die Stirn.“

So sprach der alte Raisonneur. Hat er Recht? Ich weiß nicht. Alles, was ich sehe, ist, daß die Presse im Sterben liegt und daß die Zeitungsbogen bald mit nichts mehr bedeckt sein werden, als einem der französischen Sprache ähnlichen Kauderwälsch. Die halbofficielle Presse lebt von der Hand in den Mund und veröffentlicht ihre Meinungen und Grundsätze fertig geschnitten und mundgerecht, wie sie vom Hauptquartier geliefert werden. Sie legt sich schlafen auf das Bett des Schutzzolls und erwacht am Morgen in den Armen des Freihandels, ist bald für, bald gegen den Papst und bleibt immer ergebenst und unabhängig. Aber so wie sie ist, ziehe ich sie noch immer der Schein-Opposition jener feurigen Demokraten vor, die mit einer Hand dem Radicalismus die Hand schütteln und sich mit der andern an die Rockschöße der Regierung klammern, bald dem einen, bald der andern in’s Ohr flüsternd und beide belügend. Wir sind verflucht zu einer Art von Bastard-Journalismus, voll von Haß gegen die Jesuiten und tartüffischer als Tartüffe selber, am Morgen eine Verwarnung entgegennehmend und am Abend mit dem Beamten soupirend, der sie am Morgen brachte – feierlich gegen Regierungsschutz protestirend mit einem Regierungs-Anstellungs-Decrete in der Tasche. Diese amphibische Presse bringt dann und wann einen starken Freiheits-Artikel und meint damit das Publicum zu betrügen. In der That aber scheert sie sich um Freiheit ebenso wenig, wie eine Marquise unter den Ludwigs ihren Gatten liebte. – Sie lebte mit ihm unter demselben Dache, hatte aber mit ihm nichts gemein. Manchmal begegneten sie sich auf der Treppe, grüßten sich gegenseitig mit den studirtesten Höflichkeiten und gingen ab in entgegengesetzten Richtungen. So leben freie Presse und Freiheit mit einander. –

Die tägliche Zeitung wird alle Tage stummer – denn ihre Artikel sind blos verkapptes Schweigen. – Die Neugier und Leichtgläubigkeit des Publicums, just aufgestachelt durch dieses Schweigen – hat eine Art von anonymen Journalismus in’s Dasein gerufen, den man sich gegenseitig ganz dicht in’s Ohr flüstert und der von Mund zu Mund circulirt. Eine Art von Mund-Presse hat die gedruckte Zeitung verdrängt. Sie ist unsichtbar wie die Luft, schnell wie der Wind und weht, gleitet, dringt überall hin, sagt was und wie’s ihr beliebt und wird geglaubt. Die ganze Welt ist Redacteur und Herausgeber, und das Publicum schätzt sie um so höher, je eifriger es daran mitarbeitet. Wenn irgend ein mißmuthiger Geist eine scandalöse Anekdote hört oder erfindet, setzt er sie in seiner Gesellschaft in Umlauf, im Café, beim Diner etc., und die Anekdote fliegt auf den Fittigen der Conversation von Salon zu Salon in ganz Paris, und mit Hülfe der Briefmarken verbreitet sie sich schnell über ganz Europa.“

Das ist Alles sehr wichtig, wie in jedem Lande, wo die Presse unter polizeilicher Willkür schweigen, lügen und heucheln lernt. Besonders treffend [720] schildert Pelletan jenes geheimnißvoll freimaurerische Privat-Intelligenz-Blatt, das aller Censur und Polizei spottet, alle Warnungen und Drohungen verlacht. Diese mündlich von Ohr zu Ohr geflüsterte Scandal-Presse demoralisirt und verpestet die ganze Gesellschaft. Sie ist aber noch ein viel gefährlicheres Uebel für die Regierung, welche durch ihre Willkürmaßregeln gegen die Presse „sich des einzigen Mittels beraubt, den Herz- und Pulsschlag des Volks zu fühlen.“ Es giebt nach Pelletan’s scharfsinnig motivirtem Urtheil nichts Unsichereres, als die Stellung der jetzigen Regierung, die ein Volk von Hypokriten zu beherrschen meint, der die Presse öffentlich schmeichelt und die sie im Redactionszimmer, in allen Privatkreisen verflucht, die sich des Gehorsams ihrer Unterthanen rühmt und nicht weiß, „daß diese Unterthanen alle durch die Freimaurerei des Hasses gegen sie verschworen sind.“

Es ist kaum zu erklären, wie ein so schlauer Potentat nicht sehen kann, daß seine Unterdrückung der Presse „der giftigen Schlange nur ihre warnende Klapper bindet, ohne ihr die Giftzähne ansziehen zu können.“ Sie wird dann wahrscheinlich auch einmal plötzlich, ohne vorher warnend klappern zu können, tödtlich stechen und beißen.