Das neue Heim des Reichsgerichts
Das neue Heim des Reichsgerichts.
Vierhundert Jahre sind vergangen, seit unter Kaiser Maximilian I. im ehemaligen Deutschen Reiche neben dem Reichshofrat ein Reichskammergericht eingerichtet wurde, das „nach des Reichs und gemeinen Rechten und nach ehrbaren und verliehenen Ordnungen und Statuten“ entscheiden sollte, was in deutschen Landen Rechtens sei. Es sollte über alle Rechtssachen der Reichsunmittelbaren urteilen und zugleich die höchste Instanz für die Reichsmittelbaren in Civilsachen sein. Das Reichskammergericht, von dessen Jämmerlichkeit Goethe im dritten Teil von „Dichtung und Wahrheit“ ein anschauliches Bild giebt, bestand aus einem vom Kaiser ernannten Kammerrichter fürstlicher oder gräflicher Abkunft, zwei Präsidenten und einer Anzahl Assessoren. Da aber die Sporteln, von denen die Assessoren bezahlt werden sollten, nur spärlich eingingen, mußte man die Zahl der Richter mehr und mehr beschränken, die Prozesse schleppten sich mühselig dahin und die Reste wuchsen von Jahr zu Jahr. So wurde der oberste Gerichtshof Deutschlands allmählich zum Gespött. Unter Kaiser Joseph hatten sich bereits 20 000 Prozesse aufgehäuft. Jährlich konnten nach Goethes Aufzeichnungen 60 abgethan werden und das Doppelte kam hinzu. Das Reichskammergericht hatte seinen Aufenthalt in verschiedenen Reichsstädten genommen, bis es endlich 1693 in Wetzlar seßhaft wurde. Mit dem alten Deutschen Reich ging es zu Grunde – mit dem neuen Deutschen Reich lebte ein neues, oberstes Gericht auf, das nach dem Gesetz vom 11. April 1877 seinen ständigen Sitz in Leipzig hat, – das Reichsgericht! In ihm ging auch das Reichsoberhandelsgericht auf, das auf dem Gebiete des Handels schon ein einheitliches Recht sprach und ebenfalls in Leipzig seinen Sitz hatte.
Ohnmächtig wie das alte Reich war sein oberstes Gericht. Stark und kraftvoll wie das neue Reich wurde auch das neue Reichsgericht organisiert. Wie das alte Reich, so war auch sein Gericht ohne Würde und Ansehen, und es konnte vorkommen, daß Städte wie Frankfurt a. M. es ablehnten, diesen Gerichtshof in ihren Mauern aufzunehmen. Anders das neue Reichsgericht. Es war ein langer Streit um dasselbe, und namentlich die Reichshauptstadt des Deutschen Reiches hätte es gern in ihren Bereich gezogen. Aber Leipzig blieb Siegerin im Streite, und heute ist dem Reichsgericht in der Lindenstadt an der Pleiße ein Heim aufgerichtet, so imposant, so würdevoll, so künstlerisch schön, wie es dieser oberste Gerichtshof eines starken, machtvollen Reiches verdient.
Die deutsche Kunst hat im neuen Reichsgerichtsgebäude einen ihrer schönsten Triumphe gefeiert. Am 31. Oktober 1888 wurde in Gegenwart Kaiser Wilhelms II. und König Alberts von Sachsen der Grundstein zu dem Bau gelegt, der nun vollendet vor unseren Augen steht,
[749][750] ein Bild architektonischer Majestät. Ruhe und Kraft, Würde und Erhabenheit, diese Charaktereigenschaften der wahrhaften Rechtsprechung beherrschen auch den Bau. Der Schöpfer desselben, Regierungsbaumeister Ludwig Hoffmann, an dessen Seite hervorragende deutsche Künstler wie der Glasmaler Linnemann, die Bildhauer Otto Lessing, Giesecke, Nicolaus Geiger, Felderhoff, Magr, Lehnert, Seffner und Pfannschmidt, die Maler Woldemar Friedrich, Max Koch und andere erfolgreich wirkten, hat ein Werk geschaffen, das bei aller klassischen, vornehmen Einfachheit doch einen Gedankenreichtum aufweist, wie er nur wenig anderen Bauwerken der Neuzeit eigen ist. Ueberall tritt uns bei der Betrachtung des Gebäudes wohlthuend die klare, künstlerische Harmonie entgegen. Es ist eine geniale Schöpfung, die hier zu Ehren des deutschen Reiches und Rechtes entstanden ist.
Der Plan des Gebäudes stützt sich auf drei Hauptteile. Der mittlere Teil enthält die Sitzungssäle und alle Räume, welche dem Verkehr des Publikums offen stehen. Im nördlichen Teil stoßen wir auf die eigentlichen Arbeitsräume der Beamten und im südlichen auf die Wohnung des Präsidenten. Der Flächenraum des Gebäudes ist etwas kleiner als der des Reichstagsgebäudes in Berlin, etwa um 10 Meter geringer nach beiden Richtungen hin. Auch die Höhenentwicklung ist geringer. Das Gebäude, mit seinen vier Fronten an der Simsonstraße, Wächterstraße, Wilhelm-Seyfferthstraße und Beethovenstraße gelegen, weist eine Breite von 127 Metern und eine Tiefe von 76 Metern auf. In seiner Mitte erhebt sich die weithin sichtbare, riesige Kuppel bis zu einer Höhe von 68,5 Metern. Der Bau enthält insgesamt 391 Räume, drei Hauptvestibüle und neun Treppenhäuser. Der Haupteingang befindet sich auf der Ostseite, an der Simsonstraße. Das große Giebelfeld über den mächtig aufstrebenden Säulen ist reich mit Figuren geschmückt. In der Mitte thront die Justitia. Die Gruppen zu ihrer Rechten und Linken stellen die strafende, verdammende und die befreiende, erlösende Justiz dar. Zur Seite des Haupteinganges sind in Nischen die Standbilder Kaiser Wilhelms I. und Kaiser Wilhelms II., über denen sich mächtige Kaiserkronen befinden, angebracht.
Auch die Eingänge an der Nord- und Südseite sind durch wirkungsvolle Skulpturen sinnreich geschmückt. Bei den seitlichen Bauteilen ist der Schmuck sparsamer verwendet. Reichskronen, Löwenköpfe, Rollen mit Lorbeerzweigen, Gesetzbuch und Eule, Flammenträger und weibliche Gestalten, die Tugenden des Richters darstellend, geben hier den gewaltigen Steinmassen Schönheit und symbolische Bedeutung. Durch mächtige, schmiedeeiserne Thore kommt man an der Hauptfront in das gewaltige Hauptvestibül. Ernst, feierlich ist der Eindruck, der hier den Besucher ergreift. Breite Granittreppen führen nach den seitlichen Hallen und dem Innern des Hauptgebäudes. Tritt man in das letztere hinein, so befindet man sich in der großen, mittleren Wartehalle, dem Repräsentationsraum des Reichsgerichts, von dem aus man in die verschiedenen
[751] Räumlichkeiten gelangt. Der Schmuck dieser Halle, die wir unseren Lesern im Bilde vor Augen führen, mit dem Schlußstein auf dem Boden in der Mitte, ist reich und von tiefer, symbolischer Bedeutung. Die vier Fenster liegenso, daß sie auf die verschiedenen Gegenden des Deutschen Reiches hinweisen. Das nach Süden gelegene deutet auf die Kunst, mit den Wappen der Städte Nürnberg und Augsburg, das nach Norden gerichtete auf Handel und Schiffahrt mit den Wappen der Städte Hamburg und Lübeck, das nach Osten zu angebrachte auf die Landwirtschaft mit den Wappen der Städte Königsberg und Marienburg und das nach Westen liegende auf die Industrie mit den Wappen der Städte Köln und Straßburg hin. Inmitten der Hallendecke wird symbolisch die Klarheit des Rechtes dargestellt. Vier seitliche Füllungen mit Schild, Schwertern und Schwurhänden deuten auf die Rechtspflege im Gebäude, vier weibliche Figuren auf die Tugenden der Richter, Weisheit, Gerechtigkeit, Entschlossenheit und Milde, hin. Ein im südöstlichen Hallenteil befindliches Relief versinnbildlicht die Untersuchung, während demselben gegenüber das Urteil symbolisiert wird. An den übrigen Wänden der Halle erblicken wir weiter Darstellungen der Vollstreckung und der Gnade.
An den südlichen Mittelteil der Halle stößt dann das Haupttreppenhaus an, bei welchem der Schmuck auf die Mitte der seitlichen Wände beschränkt worden ist. Hier treten uns zwei Kompositionen O. Lessings, „Erlösung und Verdammnis“, die freisprechende und die verurteilende Justiz vor Augen, Schöpfungen von bedeutendem künstlerischen Werte. In besonderem Bilde (S. 748) bieten wir unseren Lesern die Gruppe der verurteilenden Justiz, welche sich an der östlichen Seite befindet. Auf dem mit Lichtstrahlen geschmückten Giebel zerbricht die Justitia den Stab. Darunter sehen wir eine zerknirschte Männergestalt, zu deren Füßen ein klagendes Weib. Die freisprechende Justiz, welche oben unser Bild der Haupttreppe zeigt, giebt den Unschuldigen seiner Familie zurück. Auch die Korridore erhielten reichen künstlerischen Schmuck. Wir geben zum Beweis eine Abschlußwand der westlichen Korridorhalle, welche vor den Civilsenatssitzungssälen liegt und über einem schönen schmiedeeisernen Thor ein sinnreiches Reliefbild enthält. Die Meereswogen und die vom Sturm gepeitschten Eichen veranschaulichen die Unruhe der Natur im Gewitter, die hinter dem Regenbogen sich ausbreitenden Sonnenstrahlen die Beruhigung nach demselben. Der Zwist ist durch zwei kämpfende Drachen dargestellt, welche von der weiblichen Gestalt der Wahrheit mit dem Schwerte zu Ruhe gebracht werden.
In den Senatssitzungssälen sind an den Eingängen, durch welche das Richtercollegium in den Saal tritt, interessante symbolische Schmuckwerke in Holzschnitzerei angebracht. Den gewaltigsten Eindruck aber ruft der große Sitzungssaal hervor, in welchem die vereinigten Senate tagen und künftighin die Hoch- und Landesverratsverhandlungen abgehalten werden. Unser Bild auf S. 750 zeigt den in den Farben Braun und Gold gehaltenen Saal, von der nördlichen Loge aus gesehen, während der Verhandlung. Die Decke und die Wände sind mit den Wappen der deutschen Bundesstaaten geschmückt. Fünf große Glasfenster, mit den bunten Wappen von 25 Städten, an welchen sich der Sitz eines Oberlandesgerichtes befindet, führen dem Saale Licht und Farbe zu. Der Raum ist, einschließlich der Galerien, 33,20 Meter lang, 12 Meter breit und 9,80 Meter hoch. Die Pfeiler werden nach oben durch Giebel abgeschlossen denen Waffenstücke und Helme als Zeichen der Staatsgewalt zur Zierde dienen. Konsolen, die mit Masken versehen wurden, leiten von den Giebeln über den Pfeilern zur Decke über. Die oberen Wandfelder zwischen diesen Pfeilern wurden mit Reichsadlern und einem Flammenbecken, von welchem sich Drachengestalten abwenden, geschmückt. An der den Fenstern gegenüberliegenden Wand sind die drei Hauptthüren angebracht, deren geschnitzte Aufsätze Reichsadler, Krone und Reichsapfel tragen. Die dazwischen liegenden [752] freien Felder enthalten Porträts der beiden ersten Kaiser des heutigen Deutschen Reiches. An den Decken der seitlichen Logen sehen wir je einen weiblichen Kopf, die Wahrheit darstellend, welcher sich Schwurhände zukehren, während Waffen die Meineidigen bedrohen. Man sieht, überall ist in geistvoller Weise auf die hohe Bedeutung der Rechtspflege, auf die Macht und den Segen des Rechtes hingewiesen.
In der Präsidentenwohnung, welche in ihrer Ausstattung sich harmonisch in das Ganze einfügt, fehlt es ebenfalls nicht an wertvollem Schmuck. Besonders hervorgehoben sei in dem reich ornamentierten Voraaal das große Gemälde von Woldemar Friedrich, welches den Frieden als den Schutz des Rechtes und der Gerechtigkeit darstellt. Aber es ist ein bewaffneter Friede, der den schützenden Krieger zur Seite hat. Inmitten des südlich gelegenen Teiles des majestätischen Bauwerkes liegt dann der Festsaal der Präsidentenwohnung, dessen Decke ein von Prof. Max Koch entworfenes Gemälde ziert, das in schöner Allegorie den Einzug Apollos mit den Musen in das Heim der Justiz darstellt. Der nach Norden gelegene Speisesaal gefällt durch seine reichverzierte kassetierte Eichenholzdecke und ein hohes prächtiges Eichenholzpaneel. Vom Speisesaal aus durchs Fenster genießt man einen herrlichen Blick auf die hohe Kuppel, die in der Stadt aus weiter Ferne schon sichtbar ist und majestätisch in die Lüfte ragt. In den Skulpturen der Kuppel, welche das ganze Bauwerk krönt, ist der Gedanke der Einigkeit im Reiche und auch die Bedeutung des Reichsgerichts für die Entwicklung des Reiches zum Ausdruck gekommen. Die der Kuppel aufsitzende Laterne trägt ein in Kupfer getriebenes 51/2 Meter hohes Kolossalbild der Wahrheit, die mit der Rechten die Fackel hoch emporhebt und, wie schon erwähnt, in einer Höhe von 68,5 Metern den gewaltigen Monumentalbau abschließt.
Es ist hier nicht möglich, alle architektonischen und sonstigen künstlerischen Schönheiten des neuen Reichsgerichtsgebäudes so eingehend zu würdigen, wie es die treue, hingebende Arbeit der Künstler verdient, die ihre beste Kraft darein setzten, dem deutschen Reichsgericht ein stolzes, seiner würdiges Heim zu geben. Man könnte ein Buch allein über die tiefe Symbolik der Ornamente schreiben, welche zeigen, daß auch die moderne deutsche Kunst reich an Gedanken ist und diese Gedanken in schöner Form zum Ausdruck zu bringen die Kraft hat. Die deutsche Kunst hat im neuen Reichsgerichtsgebäude von neuem bewiesen, daß sie auch in einer Zeit, da auf ihrem Gebiete gefährliche Stürme einherbrausen, noch unerschütterlich festhält am Edlen, Schönen und Erhabenen.
Mit dem 16. September dieses Jahres ist der oberste Gerichtshof des Reiches bereits in sein neues Heim, dessen Baukosten nahe an 6000000 Mark betragen, übergesiedelt, nachdem er bislang in einem Gebäude an der Promenade für 32000 Mark zur Miete wohnte.
Und am 26. Oktober soll nun das Gebäude durch den Kaiser und den König Albert von Sachsen und unter Mitwirkung vieler anderer hoher Würdenträger seine festliche Weihe erhalten.
Möge die Thätigkeit des Gerichtes in seinem Palaste eine reich gesegnete sein. Möge es, wie die Hammerschläge Kaiser Wilhelms II. bei der Grundsteinlegung, gewidmet sein: „Der Ehre des allmächtigen Gottes, dem Rechte uud seinen allezeit getreuen Dienern.“