Das seltsame Sterben

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: Paul Haller
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Das seltsame Sterben
Untertitel:
aus: Gedichte, S. 67–69
Herausgeber: Erwin Haller
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1922
Verlag: H. R. Sauerländer & Co.
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Aarau
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
[[index:|Indexseite]]


[67]

Das seltsame Sterben

Laßt aus frohen Jugendtagen
Euch mein liebstes Leid berichten:
Seltsam Sterben eines Freundes,
Das in trauten Nachtgesichten

5
Jahrelang mit mir gewandert.

Eines Freundes, den ich liebte
Wie mich selber; den ich kannte,
Meine zweite Seele nannte.

Still auf eines Berges Knieen

10
Lag das Dörflein. Auf zum Haupte

Stieg der Knabe jenes Morgens,
Der sein junges Leben raubte.
Grünten nicht die Frühlingswälder?
Lag der Nebel nicht im Tale?

15
Glänzte nicht im Sonnenstrahle

Silbern die betaute Welt?
War es nicht ein heilger Morgen?
Abends fand man meinen lieben
Freund zerschmettert unterm Felsen.

20
Und die Rede ist geblieben

In des Dörfleins stillen Hütten,
Daß er Maienglöcklein suchte
Und am Felsen ausgeglitten.

— — — — — — — — —

Besser weiß ich’s, weil er selber

25
Oftmals mir’s im Traum gewiesen.

Und ich wußt es ohne Träume,
Weil’s mein Freund war, den ich kannte,
Meine zweite Seele nannte.

[68]
Keiner sah ihn je auf Bergen
30
Tollkühn klettern, lustig wagen.

Und an jenem klaren Morgen
Nicht nach Blumen stieg er einsam;
Nur die Sonne wollt er sehen,
Eh sie auf den Berg gestiegen!

35
Ja, dem Licht entgegenfliegen,

Daß er früher als die Berge
Aus den goldnen Bechern trinke,
Glühend an der höchsten Göttin
Lichtumwob’ne Knie sinke!

40
Denn so war er, so ein Träumer,

Der auf Wolken weltumreiste,
Der auf blauen Himmelswiesen
Blumen pflückte, Sterne küßte,
Nach dem Licht mit Händen griff!

45
Und das Träumen, das er büßte,

War die einz’ge große Freude
Die das Leben ihm beschieden
Neben seinem großen Leide.

Fragt ihr, wie es denn gekommen? –

50
Heimlich dämmerten die Tale.

An den Bäumen festgeklammert
Stand er droben, als die Sterne
Blaßten unterm hellern Strahle.
Leuchtend malte sich der Osten.

55
Herrlich wuchsen goldne Bäume

Aus der Nacht verträumten Tiefen,
Breiteten die Flimmeräste
Über Lande, die noch schliefen.
Und der Schöpfung kleinste Seele,

60
[69]
Jedes Blatt am tiefsten Strome,

Hob die Hände voll Verlangen,
Himmelsfrüchte zu empfangen.
Aber meines Freundes Seele
Wollte hoch ob allen andern

65
Durch die klaren Lüfte wandern

Und zuerst die Sonne sehen!
Und das Kind vergaß die Erde,
Löste kühn die schwachen Arme
Von den Bäumen, stand dort oben

70
Auf des Felsens höchster Kante,

Halb schon in die Luft gehoben. –
Und dann sprang er in den Himmel. – –

Freundlich trugen ihn die Lüfte,
Rauschend grüne Waldesgrüfte

75
Zogen meinen Freund ans Herz.

Ja, sein Leben und sein Lieben
Und sein seltsam schönes Sterben
Sind mein liebstes Leid geblieben.