Der Kirchheimer ABC-Buch-Krieg
Oft genug hat zwar in Deutschland wie anderwärts die Einführung neuer Religionsbücher, weil in das Volksleben tief eingreifend, Aufregung und selbst schwere Unruhen hervorgerufen; wir brauchen z. B. nur an die Schicksale des Heidelberger Katechismus, sowie an den jüngsten, das ganze Speierer Consistorium aus dem Sattel hebenden Gesangbuchsstreit der Protestanten zu erinnern. Daß aber ein harmloses ABC-Buch einen Volksaufstand hervorgerufen, der mit Waffengewalt unterdrückt werden mußte, dürfte
[57] schwerlich noch anderswo vorgekommen sein. Wir glauben daher auf die Nachsicht der Leser Anspruch zu haben und zugleich einen Beitrag zur Geschichte des deutschen Schulwesens zu liefern, wenn wir auf Grund officieller Actenstücke die Veranlassung und den Verlauf jenes Aufruhrs, der in der Gegend selbst unter dem Namen des „Kirchheimer-ABC-Buch-Krieges“ bekannt ist, darzustellen versuchen.
Unter den zahlreichen Territorien, in welche vor Ausbruch der französischen Revolution die heutige Rheinpfalz zersplittert war, befanden sich auch die dem Fürsten von Nassau-Weilburg gehörigen fruchtbaren Herrschaften Kirchheim und Stauf am Fuße des Donnersberges, deren Bewohner vor vieler anderer Herren Unterthanen das Glück einer wohlwollenden und erleuchteten Regierung genossen. Namentlich seit Fürst Karl Christian (1753–1788), der Urgroßvater des im verflossen Sommer von Preußen entsetzten Herzogs Adolph von Nassau, seine gewöhnliche Residenz in dem Städtchen Kirchheimbolanden aufgeschlagen, wurde das Emporkommen des Landes nach allen Richtungen gefördert, so daß sich noch heute die betreffenden Gemeinden schon im Aeußeren vortheilhaft auszeichnen. Natürlich blieben dabei auch die geistigen Interessen der Bewohner nicht unberücksichtigt. Als daher in den siebenziger Jahren des vorigen Jahrhunderts der Philanthropinismus die Aufmerksamkeit der Regierungen wie der Regierten auf die Gebrechen und Mängel lenkte, unter denen das damalige Schulwesen allenthalben darniederlag, blieb man in der Herrschaft Kirchheim mit Reformen um so weniger zurück, als in nächster Nähe, in dem leiningischen Schlößchen Heidesheim, einer der Hauptvertreter jener pädagogischen Richtung, der übel berüchtigte Karl Friedrich Bahrdt, seine übrigens verunglückten Erziehungsversuche anstellte.
Um solche Reformen zunächst in den Volksschulen des Residenzstädtchens herbeizuführen, traten im Spätsommer des Jahres 1776 die dortigen beiden lutherischen Pfarrer Hahn und Lieberich mit dem reformirten Pfarrer Des Côtes in einen Verein zusammen. Ihr Unternehmen, dessen Plan sie dem Fürsten vorlegten, fand nicht nur die volle Billigung desselben, sondern ward durch Decret vom 12. Sept. unter dem Namen einer „gemeinschaftlichen Erziehungsanstalt“ mit officiellem Charakter auf die sämmtlichen weilburgischen Gebiete des linken Rheinufers, die Aemter Kirchheim und Alsenz, ausgedehnt und der Regierung wie dem Consistorium deren eifrige Förderung anbefohlen. Unter dem Vorsitze des fürstlichen geheimen Raths Freiherrn von Botzheim eröffnete die Anstalt alsbald ihre reformatorische Thätigkeit, bei der sie sowohl die Methode und den Umfang des Unterrichts als die Disciplin in’s Auge faßte. Vor Allem bezweckte sie eine Aenderung der bisherigen Weise des Religionsunterrichtes, dessen Mangelhaftigkeit sie es hauptsächlich zuschrieb, wenn noch so rohe Unwissenheit, schwarzer Aberglaube und mit ihnen verbunden menschenfeindliche Gesinnung verbreitet seien. Wie dieser Unterricht aber beschaffen war, das schildert ein damaliger officieller Bericht drastisch mit den Worten: „Der Schulmeister, dem derselbe anvertraut ist, lehrt den Jungen die eine Hälfte des Katechismus buchstabiren und lesen, die andere Hälfte muß er (sic!) auswendig lernen, von beiden Hälften werden ihm die bloßen Worte analytisch beigebracht. Dann ist der Unterricht vollendet und der Bürger und Christ sind fertig.“ Von nun an sollte der religiöse Lehrstoff nicht nur von dem übrigen getrennt, sondern auch, gereinigt von einem todten Formalismus und mit größerer Berücksichtigung des praktischen Christenthums, in vernünftiger und faßlicher Weise der Jugend beigebracht werden, doch so, daß „die symbolischen Katechismen, diese so ehrwürdigen Denkmäler von dem Eifer unserer Reformatoren, in den Schulen, wie vorher, in ihrem Werth und Gebrauch blieben.“
Das Institut ging demnach von Principien aus, welche den modernen Schulplänen zu Grunde liegen. Allein wie noch heute, so trat diesen Grundsätzen auch damals der hyperorthodoxe Theil der Geistlichkeit entgegen und der Widerstand gewann in der Herrschaft Kirchheim durch die confessionelle Engherzigkeit und Gehässigkeit der lutherischen Mehrheit gegen ihre reformirten Mitbürger noch eine besondere Intensität. Hier war nämlich schon die freie Religionsübung und politische Gleichstellung, welche Fürst Karl August im Jahre 1738 seinen reformirten Unterthanen gewährt hatte, den lutherischen Geistlichen ein Stein des Anstoßes gewesen, der sie nicht müde werden ließ, bei ihren Parteigenossen die Toleranz des Landesherrn zu verdächtigen. Als dann später (1760) der Sohn und Nachfolger jenes Fürsten, Karl Christian, bei seiner Vermählung mit der Prinzessin Karoline von Nassau-Oranien sich verpflichtete, die Kinder dieser Ehe im reformirten Glauben zu erziehen, wurde laut die Befürchtung verbreitet, die lutherische Lehre im Lande solle durch den Calvinismus verdrängt werden.
Es ist daher begreiflich, daß auch die Thätigkeit der Erziehungsanstalt, zumal schon deren Zusammensetzung aus Geistlichen beider Confessionen Bedenken erregte, von der Bevölkerung mit argwöhnischen Blicken betrachtet wurde. Allein die Anstalt, darum unbekümmert, verfolgte mit Eifer das vorgesteckte Ziel. Um den Unterricht stufenweise zu heben, verfaßte sie zunächst ein neues ABC-Buch, das einzig zum Lesenlernen und keineswegs zum Religionsunterrichte dienen sollte. Dasselbe unterschied sich von den bis dahin benützten Brönnerischen lutherischen und reformirten ABC-Büchern hauptsächlich dadurch, daß die in letztern befindlichen Religionsabschnitte, insbesondere der Dekalog und das apostolische Symbolum, die ohnehin in den Katechismen vorkommen, weggelassen und an Stelle der geschmacklosen Gebete und Gesangbuchsverse sinnige Sprüche und Kinderlieder aufgenommen waren. Außer aus den schon erwähnten pädagogischen Gründen war die Aenderung auch deshalb erfolgt, um das Buch für die in vielen Schulen vereinigten Kinder beider Confessionen gleichmäßig brauchbar zu machen. Ganz ähnliche ABC-Bücher, so das Nürnberger, das Leipziger von Weiße, das Berliner von 1766, waren kurz vorher in anderen lutherischen Ländern ohne allen Anstand eingeführt worden.
Trotz dieser Harmlosigkeit des neuen ABC-Buchs concentrirte sich gegen dasselbe der Widerstand der lutherischen Geistlichen und Gemeinden des Kirchheimer Gebietes. Während die bedächtigeren und ruhigeren Seelenhirten es mindestens für bedenklich hielten, daß die Kinder in Zukunft das ABC und Buchstabiren nicht mehr an den Psalmen David’s und frommen Gesangbuchsliedern erlernen sollten, glaubten die geistlichen Heißsporne aus dem „glaubenslosen“ ABC-Buch deutlich die Absicht der Regierung zu erkennen, die confessionellen Lehrunterschiede zu verwischen und eine Bereinigung der Glaubensparteien zu Gunsten der Reformirten herbeizuführen. Die ohnehin mißtrauisch gemachten Bauern aber, durch solche Befürchtungen ihrer Seelsorger noch mehr geängstigt, betrachteten schließlich ihr altes ABC-Buch als den letzten Hort ihres alten lutherischen Glaubens und die Einführung des neuen Buches als dessen Untergang. Rechnet man hierzu die überall und allezeit hervortretende bäuerliche Abneigung gegen Anschaffung neuer Schulbücher überhaupt, so wird man den hartnäckigen Widerstand der Kirchheimer Unterthanen gegen das ABC-Buch, wie er in der Folge hervortrat, eher begreiflich finden.
Kaum war nämlich in den ersten Wochen des Jahres 1777 das Büchlein vom Fürsten genehmigt und zu seiner sofortigen Vertheilung und Einführung den Lehrern zugesandt, als der Regierung von allen Seiten Nachrichten über Unzufriedenheit der Unterthanen zugingen. Anfangs ließen die Behörden die Anzeigen unbeachtet, in der Hoffnung, daß die Bauern sich bald an die Neuerung gewöhnen würden. Allein die einmal erregten Wogen, anstatt sich allmählich zu beruhigen, gingen täglich höher, bis sie zuletzt fast das ganze Ländchen überflutheten.
Der Hauptwiderstand zeigte sich zu Albisheim, wo man wenige Jahre zuvor auch dem – freilich etwas zu weit gehenden – Verbot von Leichensteinen und Grabkreuzen, „die Bürger und Bauern nur unnöthige Ausgaben verursachten“, offen getrotzt hatte. Auf Veranlassung von Nickel Morgenstern und Konrad Mann verpflichteten sich die dortigen Familienväter durch Unterschrift, die neuen ABC- oder (nach pfälzischem Provincialismus) „Namenbücher“ nicht anzunehmen. Dieses Beispiel wirkte ermuthigend auf die übrigen Gemeinden. Sie traten mittels Boten unter einander in Verbindung und beschlossen die Absendung einer Deputation an den Fürsten, um die Beseitigung des gefährlichen Buches zu verlangen. Als in Folge dessen wirklich sechs Unterthanen als Deputirte in Kirchheimbolanden erschienen und dem Fürsten eine mit vielen Unterschriften bedeckte Bittschrift überreichten, hörte dieser sie huldvollst an und suchte sie sowohl über die heilsamen Absichten der Erziehungsanstalt als über die Zweckmäßigkeit und Ungefährlichkeit des neuen ABC-Buchs zu belehren. Dasselbe geschah von Seite des Landesministers Freiherrn von [58] Botzheim, der zugleich zur Ruhe und zum Gehorsam ermahnte damit nicht ernstere Maßregeln nothwendig würden.
Allein alles Zureden blieb fruchtlos und die Bauern beschlossen, der angedrohten Execution ungeachtet, auf ihrem Widerstand zu beharren. In diesem Entschluß wurden sie durch einige fanatische lutherische Geistliche der benachbarten Gebiete, worunter Pfarrer P. Ch. Nacke[1] in dem leiningen-westerburgischen (heute rheinhessischen) Wachenheim a. d. Pfr. einer der rührigsten war, unablässig bestärkt, nachdem sich die einheimische Geistlichkeit, durch den Ernst der Regierung eingeschüchtert, von aller Agitation gegen das ABC-Buch zurückgezogen hatte.
Obgleich daher die Regierung den Pfarrern und Lehrern auf ausschließlicher Benutzung des neuen ABC-Buchs in den Schulen zu bestehen befahl und die Schultheißen anwies, jene hiebei in aller Weise zu unterstützen, so war doch die Einführung des Buches fast nirgends durchzusetzen. In Sippersfeld kamen die Bauern, an ihrer Spitze Theobald Scholl, in die Schule und untersagten dem Lehrer im Namen der Gemeinde den Gebrauch der neuen Namenbücher, die sie sämmtlich dem Pfarrer zurückgebracht hatten; ihren Kindern gaben sie die alten Bücher mit, aus denen aber der Lehrer nicht unterrichten wollte. Gleicher Widerstand zeigte sich in Marnheim, von wo der Schultheiß Gassenberger am Schlusse eines Berichtes vom 16. Februar an das Amt meldete: „Summa, es ist nichts als Utz und Spötterei; wenn man einen kommen lassen will, so wird es eine Stund, und gehen erst im Dorff herum und befragen sich, was sie thun sollen.“ In ähnlicher Weise berichtete der Schultheiß Engel Ermarth von Albisheim unterm 17. Februar: „Wie man denen Leuthen mehr zured, sie sollten die neuen Namenbücher nehmen, desto weniger thun sie es.“
Um diesen Widerstand zu brechen, glaubte die Regierung zunächst gegen die Rädelsführer einschreiten zu sollen. Sie ließ daher dieselben aus den einzelnen Gemeinden vor das Amt nach Kirchheim citiren, wo diejenigen, welche sich am ungebührlichsten benommen hatten, zu kurzem Arreste verurtheilt wurden. Ebenso wurden jene festgehalten, welche sich auch vor dem Amte weigerten, das ABC-Buch für ihre Kinder anzunehmen. Die meisten der Eingethürmten legten nach wenigen Tagen das Versprechen des Gehorsams ab und erhielten ihre Freiheit wieder. Allein drei derselben, Adam und Philipp Decker von Marnheim, sowie der erwähnte Nickel Morgenstern von Albisheim, die trotzig auf ihrer Weigerung beharrten, beschloß die Regierung in das Zuchthaus nach Weilburg abführen zu lassen, um dort ein peinliches Verfahren gegen sie einzuleiten.
Als aber deren Verwandte und Freunde hievon Nachricht erhielten, trafen sie sofort Anstalt, um die Transportirung zu verhindern und die Gefangenen mit Gewalt zu befreien. Die Bewohner von Marnheim, Albisheim, Bischheim und Rittersheim versprachen hierzu ihre Beihülfe. Den beiden Decker ward heimlich im Gefängniß ein Brief zugesteckt, der sie zur Standhaftigkeit aufmunterte. Als nun am 18. Februar ein Commando von vier Grenadieren mit den Arrestanten von Kirchheim nach Alzei aufbrach, fand es schon vor Morschheim zahlreich versammelte Einwohner aus dieser Gemeinde, sowie aus dem benachbarten Orbis, welche Miene machten, ihm die Gefangenen abzunehmen. Doch trugen die Bauern vermuthlich Scheu, im nassauischen Gebiete selbst der bewaffneten Macht offen entgegengetreten. Anders aber gestaltete sich die Sache, als die Grenadiere mit ihrem Transport in die Gemarkung der zur österreichischen Grafschaft Falkenstein gehörigen Gemeinde Ilbisheim kamen, indem hier plötzlich ein großer, mit Flinten, Pistolen, Dreschflegeln u. s. w. bewaffneter Haufe von Bauern aus allen umliegenden Dörfern gegen das Commando heranrückte, es überwältigte und die Gefangenen in Freiheit setzte.
Nachdem somit das Signal zur Empörung gegeben war, kehrten die Bauern mit ihren befreiten Genossen triumphirend nach Haus zurück. Schon in Ilbisheim ließ aber Nickel Morgenstern durch den Maurer Freyhöfer einen „Verschwörungsbrief“ aufsetzen und ihn noch in derselben Nacht in die obern, an der verübten Gewaltthat nicht betheiligten Gemeinden des Amtes (Damenfels, Sippersfeld, Stauf, Ramsen, Eisenberg, Kerzenheim, Göllheim, Rüssingen und Bolanden) tragen, um auch deren Bewohner auf den andern Tag nach Kirchheim zu entbieten. Das interessante Actenstück, welches übrigens beweist, wie wenig seinen Verfassern ein besserer Schulunterricht geschadet hätte, lautet wörtlich: „Im Namen des ganzen Landes wird hiermit bekannt gemacht und auch jedermann wissen sein, daß wir von unserm rechten Glauben sollen abwendig gemacht werden, und daß sie diejenige protestantische Leyd die es nicht haben wollen einwilligen, in das Zuchthaus nacher Weilburg sollen transportirt werden, so haben wir uns, noch Hilf angeruffen zu Ilbesh. in der Gemarkung, die Arrestanten hinweggenommen, so haben wir uns verbunden, euch alle zuwissen zu thun, wer ein Christ ist der muß des Morgens früh, um fünf Uhr zu Kirchheim erscheinen, im ganzen Land zu erscheinen und keiner auszubleiben, damit unser Protestantie-Krieg ein Ende nimmt. Geschehen Ilbesh. den 18. Februar 1777. Wie schen leicht der Morgenstern von Knat und Worheit von dem Herrn N. M**.“ Neben diesem eigenhändigen Sinnspruch des Nickel Morgenstern folgten noch andere Unterschriften und am Schlusse war das Ersuchen beigefügt: „So ist verbuten Ort vor Ort diesem Boten auch ein Bot mit zu geben, denn es ist ja für uns alle und ohne Aufenthalt damit kein Verzug gibt und niemand ausbleibt um Seligkeit willen.“
Da sich in Albisheim noch während des Tages das Gerücht verbreitet hatte, auch die vier andern Unterthanen, die wegen des ABC-Buchs noch zu Kirchheimbolanden im Gefängniß saßen und worunter drei Angehörige der genannten Gemeinde waren, sollten nach Weilburg gebracht werden, so wurde mitten in der Nacht die Sturmglocke geläutet und die Bauern zogen in Masse gegen die Stadt, bis sie in deren Nähe, zu Bischheim, den Ungrund ihrer Befürchtung erfuhren.
Inzwischen strömten am nächsten Morgen, den 19. Februar in Folge der ausgegebenen Losung von allen Seiten Haufen von Landleuten nach Kirchheimbolanden, wo sie sich in der Vorstadt sammelten. Von hier zogen sie, mehrere hundert Mann stark, lärmend und drohend vor das Amthaus. Auf ihr Rufen erschien der Geh. Rath Frhr. von Botzheim in ihrer Mitte und suchte sie durch freundliche Vorstellungen und Ermahnungen zu beruhigen. Allein dieses Mittel blieb eben so fruchtlos wie sein schließlicher ernster Befehl zum Auseinandergehen. Trotzig und mit Ungestüm verlangten die Aufrührer die Entlassung der übrigen Gefangenen und die Abschaffung des ABC-Buchs. Als dies verweigert wurde, rückten sie gegen das fürstliche Schloß, wo Frhr. von Botzheim sich nochmals unter sie begab, um seine Versuche zur Herstellung der Ruhe zu wiederholen. Allein dieselben hatten so wenig Erfolg als vorher, vielmehr drohten die wüthenden Bauern mit „großem Unglücke, das es absetzen solle“, falls man ihre Forderungen nicht erfülle.
Da die Aufregung einen immer bedenklicheren und gefährlicheren Charakter annahm, Militärmacht aber nicht zu Gebote stand, so war die Regierung endlich genöthigt, die Gefangenen in Freiheit zu setzen. Ein Theil der Bauern war hierdurch befriedigt und verließ die Stadt. Die übrigen aber blieben bis in die Nacht und bestanden nur noch ungestümer auch auf der Abschaffung des ABC-Buchs. Erst als die Bürger, die für ihre und ihrer Habe Sicherheit fürchteten, ankündigten, daß sie auf Verlangen der Herrschaft der Gewalt Gewalt entgegensetzen würden, zog auch der andere Haufen von dannen.
Gleich beim Beginn des Aufstandes hatte der Fürst einen Eilboten mit der Bitte um militärischen Beistand an den Kurfürsten Karl Theodor nach Mannheim abgeschickt. Da dem Boten rasch das Gerücht nachfolgte, daß die aufrührerischen Bauern in Kirchheim schon Häuser zerstörten, so ward die nachgesuchte Hülfe schleunigst gewährt, und bereits am folgenden Tage, 20. Februar, rückte aus Alzei ein Bataillon Pfälzer von achthundert Mann in das Amt Kirchheim ein. Das Erscheinen dieser Truppen, sowie die Thätigkeit der sofort niedergesetzten Untersuchungscommission, welche die Hauptruhestörer gefänglich einzog, wirkte ungemein rasch auf die Einsicht der Unterthanen. Noch am nämlichen Tage erschienen vor dem Amte zu Kirchheim Deputirte von Morschheim, am 21. Februar solche von Bischheim und Göllheim, am 22. von Rittersheim, Orbis und Marnheim, am [59] 23. von Sippersfeld, um zu erklären, daß sie ihre bisherige Renitenz bereuten, das ABC-Buch annehmen wollten und wegen ihres Aufstandes um Gnade bäten. Andere Gemeinden ließen Aehnliches durch ihre Schultheißen melden. Schon nach wenigen Tagen war das Ländchen wieder so beruhigt, daß die Pfälzer Truppen in ihre Garnison zurückkehren konnten.
Mit der Bestrafung der Theilnahme am Aufstande, an dem übrigens etwa die Hälfte der Gemeinden keinen Antheil genommen, hätte nun die ganze Angelegenheit ihre Erledigung gefunden, wenn nicht einige Rädelsführer, darunter der mit andern geflüchtete Morgenstern, sie klagend vor das Kreiskammergericht nach Wetzlar gebracht und dadurch die volle Herstellung der Ruhe im Lande noch längere Zeit verhindert hätten. In ihrer schon am 27. Februar eingereichten Beschwerdeschrift gegen den Fürsten traten die Kläger im Namen der „Bürger und Unterthanen der Stadt und des Amtes Kirchheim“ auf. Allein die Bewohner dieser fürstlichen Residenz protestirten feierlich gegen eine solche Verdächtigung ihrer Loyalität, weshalb der Proceß später im Namen der „lutherischen Unterthanen der Herrschaft“ fortgeführt ward. Als vorzüglichsten Beschwerdepunkt brachten sie vor, daß dem Lande ein ABC-Buch „ohne alle Religionsbegriffe, welches von lutherischem Glauben nichts enthalte“, aufgedrungen werde, während die lutherische Confession als die herrschende im Besitz gewesen sei, die Kinder nach ihren Grundsätzen und im alten ABC-Buch zu unterrichten. Hieran reihten sich dann noch andere Religionsbeschwerden und baten um richterlichen Schutz gegen diese den Friedensschlüssen zuwiderlaufenden Störungen.
Da die Regierung, welcher die Klage vor dem Reichsgerichte, wie begreiflich, im höchsten Grade ärgerlich war, den Veranlassern und Begünstigern derselben in aller Weise entgegentrat, indem sie u. A. zahlreiche Unterthanen gefänglich einzog, den übrigen bei Strafe der Einthürmung die Reise nach Wetzlar verbot und den zur Abfassung der Klagschrift benützten Advocaten auf vier Wochen suspendirte: so gab dies zu neuen Beschwerden Veranlassung und der Proceß würde bei der bekannten Schwerfälligkeit der Reichsjustiz wohl Jahrzehnte gewährt haben, wenn nicht die nassauische Regierung, von Wetzlar aus selbst dazu aufgemuntert, die Sache schließlich in der Güte beigelegt hätte.
So endigte der berühmte Kirchheimer ABC-Buch-Krieg, der durch ganz Deutschland Aufsehen erregt und namentlich die Freunde der neupädagogischen Richtung unangenehm berührt hatte. Confessionelle Aufhetzung war im Stande gewesen, eine sonst intelligente Bevölkerung wegen eines simpeln Kinderbuches gegen ihren wahrhaft väterlich gesinnten Fürsten in Aufstand zu bringen; sie hatte das Ländchen viele Monate lang in Unruhe versetzt, zahlreiche Unterthanen an ihrer Freiheit und noch mehrere an ihrem Vermögen geschädigt. Auch der spätere Hauptschürer des Aufstandes, Pfarrer Nacke in Wachenheim, war von seiner Regierung zur Verantwortung gezogen und durch eine von der Universität Göttingen bestätigte Sentenz zu einem Verweise, zur Suspension von seinem Amte und Einkommen auf vier Wochen, sowie zur Abbitte vor dem Fürsten von Nassau-Weilburg verurtheilt worden.
Das confessionelle Verhältniß im Nassau-Weilburg’schen gewann übrigens später eine freundlichere Gestalt. Schon im Herbst des Jahres 1786 nahmen die Reformirten in Kirchheimbolanden das einige Jahre zuvor in der lutherischen Gemeinde eingeführte Gesangbuch ohne allen Widerspruch auch für ihren kirchlichen Gebrauch an, bei welcher Gelegenheit Fürst Karl Christian jeder Familie zwei Exemplare desselben zum Geschenke machte. Von den Bewohnern jener Gegend, die zu den gebildetsten und freisinnigsten der schönen Pfalz gehört, wissen aber heute die wenigsten mehr, ob ihre Groß- und Urgroßeltern lutherisch oder reformirt – lesen gelernt haben.
- ↑ Derselbe ist wahrscheinlich auch der Verfasser eines aus siebenzehn Strophen schlechter Knittelverse bestehenden, gegen das ABC-Buch und die indifferent gewordenen Geistlichen gerichteten Kreuzzugsliedes, betitelt: „Glaubensposaune, welche die eingeschläferten, vom wahren Glauben entwichenen und ihre Heerde verlassenden evangelischen Pastores in dem Nassau-Weilburgischen Amt Kirchheim ihres Mayn-Eids erinnert und ihre Schafe zur Beständigkeit aufmuntert, angeblasen von einem treuaufrichtigen benachbarten evangelisch-lutherischen Prediger.“