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Vogelfrei!

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Autor: unbekannt
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Titel: Vogelfrei!
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 4, S. 54–56
Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1867
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Wilhelm Brinkhoff
Nach den Untersuchungsacten erzählt
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Vogelfrei.
Nach den Untersuchungsacten erzählt.


Gegen Ende des Jahres 1859 herrschte am Niederrhein eine außerordentliche Aufregung. Alle Blätter, namentlich die kleinen Localblättchen, welche in den Städtchen des Niederrheins Moers, Rheinberg und Xanten erschienen, brachten zahlreiche Nachrichten, daß sich ein verwegener, mit Waffen versehener Räuber auf der Lönninghardter Haide, einer von jeher verrufenen Gegend, herumtreibe und Land und Leute unsicher mache. Diese Aufregung nahm noch zu, als aus der Festung Wesel sogar ein Militärcommando ausgesandt wurde, um den angeblichen Räuberhauptmann einzufangen. Es gelang dies auch endlich. Brinkhoff – so hieß der Gefürchtete – wurde verhaftet. Aber man verhaftete keinen Räuberhauptmann, sondern einen jungen Menschen von einundzwanzig Jahren, der, durch einen zweijährigen Aufenthalt in Amerika an Freiheit gewöhnt, sich nicht entschließen konnte, freiwillig in’s Zuchthaus zu wandern; einen jungen Ehemann, der sich nicht bereit finden lassen wollte, kurz nach der Trauung sich von seiner reizenden, kaum achtzehnjährigen Frau zu trennen; ein armes gehetztes Wild, das keine Lust hatte, sich wie einen tollen Hund todt schießen zu lassen, sondern mit aller Energie, die allerdings einer bessern Sache würdig gewesen wäre, seine Freiheit und sein Leben der Staatsgewalt gegenüber vertheidigte! Die Geschichte ist merkwürdig und lehrreich, sie thut dar, wie ein Mensch, ohne von Natur böse oder roh zu sein, aus einem ungemessenen Freiheitstrieb zum Mörder werden kann.

Brinkhoff ist der Sohn braver Eltern, die in Alpen, einem Dorfe an der Straße zwischen Geldern und Wesel, wohnen. Er erlernte das Schreinerhandwerk und machte sich in seiner Jugend dadurch bemerklich, daß er zu allen waghalsigen Knabenstreichen aufgelegt war. Er konnte z. B. wie eine Katze klettern, und machte als Knabe manchmal den Spaß, das Dach eines Bauernhauses blitzschnell zu erklimmen, durch den Schornstein zu verschwinden und plötzlich geschwärzt, wie ein kleiner Teufel, unter den Bauern in der Küche zu erscheinen.

Leider wohnte damals in Alpen viel schlechtes Gesindel, das vom Diebstahl lebte; in diese Gesellschaft gerieth Brinkhoff zu seinem Unheil. Die Bande fand ihn wegen seiner Behendigkeit zu ihren Expeditionen sehr brauchbar und veranlaßte Brinkhoff, noch ehe er siebenzehn Jahre alt war, sich an schweren Diebstählen zu betheiligen. Die Folgen konnten natürlich nicht ausbleiben. Brinkhoff wurde verhaftet und am 13. März 1857 vom kgl. Assisenhofe zu Cleve zu einer Zuchthausstrafe von vier Jahren verurtheilt. Zur Abbüßung dieser Strafe wurde er in’s Zuchthaus nach Werden abgeführt. Dort wußte er sich bald bei den Beamten durch seine Geschicklichkeit im Arbeiten und durch sein einnehmendes Benehmen beliebt zu machen; man betrachtete ihn kaum wie einen Verbrecher, sondern wie ein Kind, das einen Fehltritt gethan und das sich bessern will. Er aber benutzte die für ihn günstige Meinung und war plötzlich auf unerklärliche Weise aus Werden verschwunden. Indem er einsah, daß er in Europa nicht mehr bleiben konnte, schiffte er sich am 2. Januar 1858 in Rotterdam nach Nordamerika ein.

Dort war für, ihn, den geweckten und unternehmenden Menschen, das richtige Feld. Eine in Amerika verheirathete Schwester, die in guten Verhältnissen war, bot ihm einen Anhaltspunkt. Als tüchtiger Schreiner verdiente er bald reichlich so viel Geld, daß er nach der Arbeit als Gentleman auftreten und sich noch Ersparnisse zurücklegen konnte. Im Besitze von einigen Mitteln begann er einen Cigarrenhandel, der sich gut rentirte, da er es verstand, billig zu kaufen und theuer zu verkaufen; kurz, nach einem Jahre war er ein gemachter Mann, der über zwölfhundert baare Dollars verfügen konnte. Seine Geschäfte führten ihn nach dem Norden und nach dem Süden, nach dem Osten und Westen. Im Juni 1859 kam er aus Californien nach Philadelphia, kehrte dort in einem der ersten Hotels ein und machte in demselben die Bekanntschaft der Caroline Ernst, eines siebenzehnjährigen hübschen, schwarzäugigen deutschen Mädchens, welches im Hotel das Departement des Kaffees unter sich hatte. Die jungen Leute waren bald einig. Nach echt amerikanischer Weise begaben sich die Liebenden bereits am dritten Tage ihrer Bekanntschaft zum Friedensrichter, der ihrem Herzensbunde die gesetzliche Weihe ertheilte.

Die junge Frau war eine deutsche Eingewanderte, gebürtig aus Sieglingen im Königreich Würtemberg. Sie hatte Sehnsucht nach der Heimath, und wollte gern den dort zurückgebliebenen Freundinnen ihren jungen, schönen und reichen Mann vorführen. Nachdem am 1. August die Heirath stattgefunden, begab sich das junge Paar bereits am 15. August zu New-York auf ein Dampfschiff und gelangte am 1. September wohlbehalten nach Hamburg. Nach einer kurzen Vergnügungsreise nach Amsterdam und einem heimlichen Besuche bei den Eltern in Alpen reisten Beide in die Heimath der jungen Frau nach Sieglingen. Brinkhoff, in seinem Aeußern vollständig Gentleman, legitimirt durch einen regelrechten Paß, in dem das amerikanische Bürgerrecht, welches er sich dort erworben, bescheinigt war, nebenbei ein ausgezeichneter Jäger und Schütze, war in der Heimath seiner Frau bald eine gesuchte Persönlichkeit. Der Amerikaner wurde zu Jagden eingeladen; dafür revanchirte er sich glänzend, gab im Gasthofe Gesellschaften, machte den Verwandten seiner Frau Geschenke; kurz, die sauer erworbenen Dollars rollten und rollten, bis dieselben auf ein kleines Häufchen zusammen geschmolzen waren. Da nun der amerikanische Gentleman sich in der Heimath seiner Frau nicht als Schreinergeselle entpuppen wollte, so beschloß das junge Paar, nach Alpen zu reisen und von dort mit Hülfe von Brinkhoff’s Eltern sich wiederum nach Amerika einzuschiffen. Schon am 1. November war in Darmstadt der letzte Dollar ausgegeben; um die Reise fortsetzen zu können, wurden die Schmucksachen der Frau versetzt. In Mainz war die Baarschaft soweit zusammengeschmolzen, daß Brinkhoff seine Frau dort zurücklassen mußte. Er reiste nach Alpen und erst am 8. November, nachdem die Frau auch ihre letzten guten Kleidungsstücke verkauft hatte, zog nächtlicher Weise nicht der amerikanische Gentleman, nein, der preußische entsprungene Zuchthaussträfling in Alpen bei den Eltern ein. Ihn durfte Niemand sehen, denn die Luft, die er athmete, durfte er gesetzlich nicht athmen; er mußte das Licht scheuen, denn jeder Beamte der Polizei war verpflichtet, ihn sofort zu verhaften und in’s Zuchthaus abzuliefern! Der an das Uebermaß persönlicher Freiheit gewöhnte amerikanische Bürger sollte in’s Zuchthaus wandern und sich dort mit fünfundzwanzig Hieben zum Willkommen begrüßen lassen?[1]

Der alte Vater, der sich als Schachtmeister mit seiner Familie kümmerlich ernährte, konnte dem Sohne nicht helfen; er hatte sein letztes Geld nach Mainz geschickt, um die Schwiegertochter auszulösen. Brinkhoff war in Verzweiflung. Er wollte wiederum zum Verbrechen übergehen; mit dem Revolver in der Hand wollte er bei einem reichen Gutsbesitzer in der Nacht eindringen und sich das Reisegeld nach Amerika holen. Aber sein braves Weib hielt ihn zurück und erklärte ihm, sie wolle lieber vor Hunger sterben, als ein auf unrechtmäßige Weise erworbenes Stück Brod essen! Eins vergaß B. in seiner Lage, daß es in Europa noch Menschen giebt, die dem Elend des Nebenmenschen gern abhelfen, und die nicht, wie oft der Amerikaner, die Tasche voll Dollars, den am Wege Schmachtenden keines Blickes würdigen. Wäre Brinkhoff damals ohne Revolver vertrauungsvoll zu dem reichen Gutsbesitzer gegangen, den er berauben wollte, so würde ihm dieser das Geld zur Rückreise nach Amerika geschenkt haben. Aber Brinkhoff hatte in Amerika den Glauben an die Menschheit verloren.

Was kommen mußte, blieb nicht lange aus. Es wurde bald in dem kleinen Dorfe Alpen bekannt, daß Wilhelm Brinkhoff aus Amerika zurückgekehrt sei. Merkwürdigerweise unternahm der Bürgermeister von Alpen nichts gegen ihn. Er ging ihm aus dem Wege und brachte so Brinkhoff die Idee bei, die Polizei fürchte sich vor ihm. Ein großer Theil der späteren traurigen Vorfälle ist der Schwachheit dieses Bürgermeisters zur Last zu legen. Wäre derselbe sofort mit Energie aufgetreten, so würde Brinkhoff nie gewagt haben, was er gethan.

Er wurde jetzt immer kühner, ging am Tage aus, besuchte die Wirthshäuser und legte in denselben einen geladenen Revolver vor sich, mit dem Bemerken, daß er Denjenigen, der ihn verhaften wolle, niederschießen [55] werde. Daß in einem geordneten Staate ein derartiges Auftreten unter keinen Umständen geduldet werden darf, ist keine Frage, denn die Achtung vor der Obrigkeit würde dadurch untergraben. Es kommt nicht darauf an, ob ein oder der andere zur Zuchthausstrafe Verurtheilter seine Strafe abbüße oder nicht; aber es kommt wohl darauf an, daß die Gesetze und Diener der Gesetze nicht verhöhnt und beschimpft werden. Kaum hörte daher der damalige Landrath des Kreises Moers, in dem Alpen liegt, von Enshausen, von dem Treiben Brinkhoff’s, so entbot er alle ihm zur Disposition stehenden polizeilichen Kräfte. Er selbst, an der Spitze von Kreissecretair, Kreisbote, Gensd’arm und mehreren Polizeidienern, umstellten in der Nacht vom 1. auf den 2. December das väterliche Haus des Brinkhoff und schritten sodann zur Haussuchung. Im Hause fand sich nichts, als ein neu angelegter heimlicher Durchgang nach dem Nachbarhause. Plötzlich aber erschien eine Person in dem Durchgang, der das Brinkhoff’sche Haus von dem des Nachbarn trennte und dessen Ausgang von einem Polizeidiener besetzt war. Es war Brinkhoff; den Revolver in der Hand rief er dem Polizeidiener zu: „Mach’ Dich fort.“ Als dies nicht sofort geschah, fiel ein Schuß, durch welchen der Polizeidiener am Arme unerheblich verwundet wurde. Der Durchgang war frei und Brinkhoff floh in den nahegelegenen, mit Moor und Sumpf durchzogenen Wald, genannt „die Leucht“.

Brinkhoff war frei, aber es war eine schreckliche Freiheit!

Die Behörden gingen jetzt zu einer energischen Thätigkeit über. Auf die Habhaftwerdung des Brinkhoff wurde eine Geldbelohnung von zwanzig bis achtzig Thaler gesetzt. Brinkhoff verhöhnte die Polizei; er schlug Bekanntmachungen an die Bäume des Waldes an, in denen er ebenfalls eine Belohnung von fünfzig Thalern Demjenigen versprach, der ihm einen Polizeibeamten todt oder lebendig liefere.

Das Publicum wurde nun auf die Strafe der Theilnahme an einem Verbrechen aufmerksam gemacht; Jedem wurde es eingeschärft, daß es schon eine strafbare Handlung sei, den Brinkhoff in sein Haus aufzunehmen, dem Hungernden ein Stück Brod zu schenken.

In einer dieser Publicationen heißt es wie folgt:

„Wer auf irgend eine Weise mit dem Wilhelm Brinkhoff, genannt Lemke, verkehrt, ihm Eßwaaren oder Schießbedarf bringt, ihn verbirgt, seinen Aufenthalt nicht anzeigt, oder in irgend einer Weise seinen Ungesetzlichkeiten Vorschub leistet, wird sofort zur Haft gezogen werden.“

Brinkhoff war mithin vogelfrei im vollen Sinne des Wortes.

Die Bürgermeister der Umgegend boten alle disponiblen Mannschaften auf und hielten Kesseltreiben; ein Militärcommando wurde von Wesel requirirt, das den ganzen Wald mit einem Cordon umzog; kurz man stellte eine Jagd an, welche jeden gewöhnlichen Menschen zur ruhigen Unterwerfung bewogen hätte, die indessen bei Brinkhoff nur die Folge hatte, daß er sich entschloß, sein Leben so theuer wie möglich zu verkaufen. Allen, die ihm zu Gesicht kamen, theilte er mit, daß er entschlossen sei, Jeden, der ihn angreifen wolle, zu erschießen. Daß dies keine Redensart war, geht daraus hervor, daß er sich bald ein Jagdgewehr mit Pulver und Blei zu verschaffen wußte. Am 5. December, am hellen Tage, drang er, den Revolver in der linken Hand, in die alleinstehende Wohnung eines Waldhüters, und mit den Worten: „Du bist der Kerl, der mich verfolgt hat! Jetzt müßte ich Dich niederschießen, das Gewehr nehme ich zu meiner Sicherheit mit; dann werde ich Dich kriegen; wenn Du vor die Thüre kommst, schieße ich Dich nieder,“ ergriff er mit der rechten Hand dessen an der Wand hängendes Jagdgewehr nebst Pulverhorn und Schrotbeutel und entfernte sich.

Er hatte nun eine Waffe, die in der Hand des nie Fehlenden noch Manchem das Leben gekostet hätte, wenn nicht sein Schutzengel ihm zur Seite gestanden. Als Brinkhoff’s Frau von diesen Vorgängen hörte, entschloß sie sich, sein Elend zu theilen, um ihn nur vom Verbrechen zurückzuhalten. Im December bei Kälte, Nässe und Frost ging das an allen Comfort des Lebens gewöhnte junge Weib in den Wald und suchte den armen Mann. Sie theilte sein Lager unter freiem Himmel auf zusammengescharrtem Laub, sie theilte das letzte Stück Brod mit ihm, das sie mitgebracht hatte, und hungerte dann mit ihm. Allein sie wirkte auch auf ihn, daß er die blutigen Gedanken fallen ließ. Einige Tage darauf begegnete er einem andern Förster im Walde; nachdem er anfangs demselben mit der Pistole gedroht hatte, sagte er: „Ich thue Ihnen nichts und werde auch Niemand etwas thun.“

Auf den 11. December war großes Treibjagen arrangirt. Alle Männer von sechs um den Wald herumliegenden Bürgermeistereien, die Waffen tragen konnten, besetzten die Leucht, den Wald, in dem sich Brinkhoff aufhielt. Es war eigentlich nicht mehr nöthig, denn Kälte und Hunger sind mächtiger als die Menschen, und der Anblick eines geliebten Weibes, das hungert und friert, zwingt auch den energischsten Mann, um die Geliebte zu retten, sich in das Unvermeidliche zu fügen.

Am Abend vor jenem Treibjagen schlich sich Brinkhoff an ein einsam gelegenes Gehöft. Als der Bauer desselben vor die Thür kam, hörte er leise seinen Namen rufen; es stand dort Brinkhoff mit seiner vor Kälte zitternden Frau; er bat um etwas warmes Essen und um ein Nachtlager. Der Mann, von Mitleid gerührt, konnte ihm Beides, trotzdem, daß er mit Bestimmtheit wußte, daß sein Haus revidirt werden konnte, nicht abschlagen. Ohne irgend einem Hauseinwohner etwas zu sagen, brachte er das Ehepaar in eine Stube seines Hauses, gab ihnen warmes Abendessen und räumte ihnen ein Bett ein. Ha, welch’ ein Genuß, im warmen Bett zu schlafen, nachdem man im December beinahe vierzehn Tage unter freiem Himmel zugebracht hat!

Doch die Gefahr war groß. Brinkhoff wurde bereits um drei Uhr geweckt, allein er konnte sich nicht entschließen, das langentbehrte Bett zu verlassen. Um fünf Uhr jedoch verließ er mit seiner Frau das Haus und brachte diese in ein etwa zehn Minuten entferntes leer stehendes Häuschen, das der Bauer zu einer Werkstätte benutzte. Dort machte er Feuer an und wartete den Tag ab. Es war aber auch die höchste Zeit gewesen, denn noch vor Tagesanbruch erschienen die ersten Schützen des angesagten Treibens. Zwei Polizeidiener, unkenntlich gemacht durch blaue Bauernkittel, besetzten das Haus des Bauern und legten sich hinter der halbgeöffneten Thür auf die Lauer. Gegen Tagesanbruch bat Frau Brinkhoff ihren Mann, zu versuchen, ob er vielleicht von dem Bauer ein wenig Milch erhalten könne. Brinkhoff ging nach dem Hause und rief leise den Namen des Bauern. Als er keine Antwort erhielt, entfernte er sich wiederum in der Richtung nach dem Häuschen, wo seine Frau sich befand. Da machte der eine Polizeidiener rasch die Thür auf und schoß auf eine Entfernung von vier Schritten Brinkhoff zwei Schrotladungen in Rücken und Beine. In diesem Moment bewies Brinkhoff die Geistesgegenwart, welche dem Amerikaner in der gefährlichsten Lage eigen ist. Mit dem Ausrufe: „O weh!“ drehte er sich um, und im nächsten Moment lag der Polizeidiener, der geschossen hatte, in’s Herz getroffen, todt zu seinen Füßen, und der andere, der im Anschlag lag, erhielt einen Streifschuß an den Kopf; der Menschenjäger hatte die auf Brinkhoff’s Kopf gesetzte Prämie theuer erkauft!

Brinkhoff verschwand im Dickicht des Waldes, aber durch die an den Beinen erhaltenen Verletzungen kam er nicht weit; er blieb liegen. Seine Frau kam ihm zu Hülfe; man brachte ihn in die ärmliche Hütte eines Taglöhners und legte ihn in’s Bett. Dort wollte er zuerst seinem Leben ein Ende machen, allein seine Frau faßte seine Hand mit dem gespannten Revolver und brachte ihn durch die Worte: „Wilhelm, wenn Du auch festkommst, ich werde Dich immer besuchen,“ von dem Entschluß ab. Er ergab sich nun in sein Schicksal und wollte nach Alpen gefahren werden, um sich dort den Behörden zu überliefern.

Unterdessen war auch eine Abtheilung Militär bis zu der Taglöhnerhütte gelangt, in welcher Brinkhoff lag. Als Letzterer dies hörte, sprach er den Wunsch aus, sich diesem zu ergeben. Der commandirende Lieutenant trat in die Stube. Brinkhoff überreichte ihm mit den Worten: „ich übergebe mich Ihnen,“ seine Waffen, Revolver und Jagdmesser (das verhängnißvolle Gewehr hatte er gleich nach dem Schuß fortgeworfen) und wurde sodann mit seiner Frau, die man für seine Zuhälterin hielt, über Alpen und Wesel in das Arresthaus zu Cleve geführt. Als er in Alpen ankam und ihm mitgetheilt wurde, daß der eine Polizeidiener todt sei, fing er unter den Worten: „also wirklich todt! Hätte der Mann mich nur angerufen, dann wäre das Unglück nicht geschehen!“ heftig an zu weinen.

Die Abführung Brinkhoff’s in das Arresthaus glich einem Triumphzuge; so hatte er namentlich überall die Damen auf seiner Seite, die sich herandrängten, um ihn zu sehen. Große Freude verursachte die Einbringung des Brinkhoff bei den Sicherheitsbeamten; [56] allein die Freude war von kurzer Dauer. Bereits am 23. December gelang es Brinkhoff seine Freiheit wieder zu erlangen. Von dem Krankenzimmer des Arresthauses kletterte er, nachdem er auf unerklärliche Weise die Angeln der Thüre der Krankenstube abgebrochen, über Mauern bis auf das Dach des neben dem Arresthause liegenden Landgerichtsgebäudes, deckte dort einen Theil der Dachpfannen. ab, gelangte auf diese Weise auf einen kleinen Söller, wo er sich, nachdem er die Pfannen wieder eingesetzt hatte, bis zum Abend ruhig verhielt. Als der Castellan des Landgerichts am Abend die Lichter anzünden wollte, huschte auf der Treppe ein Schatten an ihm vorbei. Es war Brinkhoff.

Vergeblich wurden abermals alle Polizeibehörden in Bewegung gesetzt, man konnte seiner nicht habhaft werden, und erst am 13. Februar wurde er wiederum zur Haft gebracht, nachdem er freiwillig sich den Behörden ausgeliefert hatte. Ein Vorfall während dieser Zeit belehrt uns, daß Brinkhoff es verstand, sich auch als Flüchtling den Verhältnissen nach so angenehm wie möglich einzurichten.

In der Nähe von Rüderich bei Wesel liegt ein allerliebstes Gütchen, genannt „Jägersruh“, ziemlich entfernt von andern Höfen, das einer in Köln wohnenden Familie gehört. Das Haupthaus wird nur im Sommer von den Eigenthümern bewohnt, ist deshalb mit allen zu einem längeren Aufenthalte nöthigen Mobilien versehen, im Winter abgeschlossen und wird nur zuweilen von dem in einem daneben liegenden Hause wohnenden Pächter des Guts geöffnet und nachgesehen.

Hier ließ sich Brinkhoff nach seinem Entspringen häuslich nieder. Schön möblirte Zimmer, gute Betten, ein guter Weinkeller bildeten zwar eine einsame, jedoch für einen Flüchtling gewiß beneidenswerthe Wohnung. Durch ein Fenster des zweiten Stockes wußte er sich Eingang in das Haus zu verschaffen. Er fand auch ein Jagdgewehr, Pulver und Blei. Am Tage blieb er ruhig in seinem Schlosse, Nachts aber ging er aus und verschaffte sich die nöthigen Lebensmittel. Leider dauerte dieses idyllische Leben nicht lange. Eines Tages, am 8. Januar, bekam der Pächter von Jägersruh Besuch von seinem Bruder. Dieser sprach den Wunsch aus, das Herrenhaus zu sehen, dem auch entsprochen wurde. Als man nun die Thür öffnete, stand Brinkhoff mit einem Doppelrohr in der Hand vor den Eintretenden und rief: „Zurück!“ Man verständigte sich jedoch bald. Brinkhoff bat die Pächterin, ihm eine Wurst, die er ihr überreichte, zu braten, zog sodann eine Flasche Wein hervor und lud die Gesellschaft zum Essen und zum Trinken ein. Brinkhoff aß und trank, das Gewehr mit gespanntem Hahn auf dem Schooße, entschuldigte sich sodann durch seine eigenthümliche Lage auf das Höflichste, daß er ohne Miethcontract gewohnt habe, und verschwand im Dunkel der Nacht.

Lange hörte man nichts von ihm. Er würde sicher entkommen sein, wenn er nicht das Mißgeschick gehabt hätte, sich aus Unvorsichtigkeit durch die Hand zu schießen. Heimlich ging er nach Rheinberg zu einem Arzte, und als dieser ihm erklärte, wenn die Wunde nicht sorgfältig behandelt würde, könnte der kalte Brand eintreten, entschloß er sich, freiwillig sich zu stellen. Dem armen Teufel von Besenbinder, in dessen Höhle er versteckt war, gab er den Auftrag, seinen Aufenthalt anzuzeigen, damit derselbe die ausgesetzte Belohnung verdiene. Am 13. Februar erfolgte die Wiederverhaftung. Die Frau Brinkhoff, die man unter der Beschuldigung der „Landstreicherei“ fest genommen, wurde indessen in Freiheit gesetzt, weil aus Amerika die Atteste darüber eingelaufen waren, daß sie die rechtmäßige Gattin Brinkhoff’s sei.

Mildthätige Seelen brachten die Protestantin in dem sogenannten protestantischen Stift zu Cleve unter. Das arme Weib kam hier aus dem Regen in die Traufe; sie wurde einer moralischen Folter unterworfen. Es wurden Bekehrungsversuche mit ihr angestellt; sie sollte ihren Wilhelm verlassen und sich von dem Verbrecher scheiden lassen. Man hatte sie so weit, daß sie die Ehescheidungsklage einleiten wollte. Nach der dortigen Gesetzgebung muß der Kläger die Klage durch persönliches Erscheinen vor dem Präsidenten des Landgerichts einleiten, und der Präsident soll demselben die geeigneten Vorhaltungen machen. Als sie nun zu dem alten ehrwürdigen Präsidenten kam, soll dieser sie darauf aufmerksam gemacht haben, daß Brinkhoff die ihm vorgehaltenen Verbrechen ja gerade begangen habe, um sich nicht von ihr zu trennen, daß also ihrerseits kein Grund zur Scheidung vorliege. So erzählte man; gewiß ist aber, daß seit dem Besuche bei dem Herrn Präsidenten jene Bekehrungsversuche wirkungslos blieben und von Ehescheidung nicht mehr die Rede war. Durch eine Collecte wurden die Mittel zur Reise nach Amerika aufgebracht, sie reiste dahin ab, um ihrem Wilhelm das Haus einzurichten.

Mit der größten Sorgfalt wurde nun Brinkhoff bewacht, die Untersuchung gegen ihn wurde mit Energie betrieben, so daß er schon am 28. März vor den königlichen Assisenhof zu Cleve gestellt werden konnte. Der Vertheidiger hatte gewünscht, daß die Frau Brinkhoff’s den Verhandlungen beiwohne, weil er es für unzweifelhaft hielt, daß der Anblick der jungen Frau einen günstigen Einfluß auf die Herren Geschworenen ausüben würde, allein die um ihr Seelenheil besorgten Freunde hielten sie davon ab; sie durfte das Verbrechen nicht unterstützen, sie durfte nicht bei der Verhandlung erscheinen.

Brinkhoff war angeklagt; in der Nacht vom 1. zum 2. December 1859 zu Alpen den Polizeidiener Husmann vorsätzlich und mit Ueberlegung zu tödten versucht; am 5. December 1859 in der in dem Walde bei Alpen belegenen Wohnung des Jagdhüters Jakob Esselborn diesem unter Drohungen ein Gewehr, in der Absicht, sich dasselbe rechtswidrig zuzueignen, weggenommen; am 11. December 1859 zu Saalhof den Tagelöhner Ingenilm vorsätzlich und mit Ueberlegung zu tödten versucht; am 11. December zu Saalhof den Polizeidiener Murmann vorsätzlich und mit Ueberlegung getödtet; endlich in der ersten Nacht des Januar 1860 zu Jägersruh, in dem Hause des Directors Götz, mittelst Einbruchs und Einsteigens ein Gewehr, ein Pulverhorn und einige Munition an sich genommen zu haben.

Wurde dieser Anklage, aus der indeß das Vergehen des eigentlichen gemeinen Diebstahls nirgends hervorgeht, entsprochen, so mußte auf die Todesstrafe erkannt werden.

Auf der Bank der Angeklagten erschien ein schlanker junger Mensch, mit blassem, länglichem Gesichte, schwarzen langen Haaren und einem dunkeln, brennenden Auge. Sein ganzes Auftreten war ruhig und gemessen, seine Haltung anständig. Nach zweitägiger Debatte bejahten die Herren Geschworenen die ihnen vorgelegten Fragen, jedoch mit der Modification, daß Brinkhoff zu der Tödtung durch den getödteten Polizeidiener selbst, der ihm eine schwere Mißhandlung zugefügt, gereizt worden sei. Der Assisenhof erkannte auf eine Zuchthausstrafe von zehn Jahren. Brinkhoff nahm das Urtheil mit großer Ruhe auf. Einige Tage darauf erkundigte er sich, wann die Abfahrt der Schiffe von Rotterdam nach Amerika stattfinde, und als man ihn auf seine Ketten und die starken Wände seines Gefängnisses aufmerksam machte, antwortete er „die würden ihn nicht belästigen, wenn er nur Reisegeld hätte.“

Er wurde wiederum nach Werden abgeführt, ließ sich dort seine durchschossene Hand gründlich curiren und – eines Tages war er wieder verschwunden. Seine glückliche Ankunft in Amerika hat er den Beamten, denen er so viele Sorge gemacht, schriftlich angezeigt. Seitdem hat man keine bestimmte Kunde mehr von ihm. Ob er dort in geordneten Verhältnissen an der Seite seines treuen Weibchens noch lebt oder ob auch ihn der große amerikanische Krieg verschlungen – Niemand weiß es. Kommt ihm die heutige Nummer der in Amerika in so vielen Tausenden von Exemplaren verbreiteten „Gartenlaube“ zu Gesicht, so liest er wohl mit Interesse die Geschichte von seiner deutschen Vergangenheit.


  1. Solche Strafe wird gewöhnlich Denjenigen dictirt, welche aus dem Zuchthause entflohen sind und wieder eingebracht werden. Zuchthaussträflinge sind der bürgerlichen Ehrenrechte verlustig erklärt und können nach den Disciplinargesetzen körperlich gezüchtigt werden.