Der Berg Theches
Die im vorigen Jahrgange dieser Zeitschrift enthaltenen Untersuchungen W. Strecker’s und die von mir dazu gegebenen Erläuterungen gaben Rechenschaft über die Schwierigkeit einer den wirklichen Oertlichkeiten entsprechenden Erklärung des letzten Theiles jenes denkwürdigen Zuges durch das winterliche pontische Gebirge und namentlich der positiven Auffindung jenes Gipfels, von dem die Griechen zuerst das nach ferneren 5–6 Tagemärschen erreichte Meer erblickten. Der alte Geschichtsschreiber erzählt, wie die erfreuten Krieger dort oben zum Gedächtniß einen mächtigen Steinhaufen (κολωνὸς μέγας, IV, 7, 25) errichteten: ein solches Monument, wie formlos immer in der Eile, doch durch die vereinten Kräfte von vielen Tausenden aufgeführt, konnte selbst nach 2200 Jahren nicht völlig verschwunden, namentlich da der Punkt nicht unmittelbar an einer großen Heerstraße lag, nicht wohl durch Menschenhände wieder zerstört sein; die Wiederauffindung desselben war also nicht allein denkbar, sondern auch von historischem und geographischem Interesse. In den ziemlich weit von einander entlegenen, aber durchaus dem Küstengebirge angehörigen Regionen, wo man bisher den Theches gesucht hatte, war etwas ähnliches nicht bekannt geworden; an die im Süden der pontischen Hauptkette (des Karakapán und Kolát-Dagh) gelegenen Parallelketten hatte in der Voraussetzung, daß jene nördlicheren Ketten
[457] dort jeden Ausblick auf das Meer verdeckten, niemand gedacht[1], bis im September 1867 ein der Gegend durch seine amtliche Stellung in hohem Grade kundiger Mann, Herr P. Borit, Oberingenieur des Straßenbaues im Wilajet Trabizon, gerade in jenen, bisher nur in den hinüberführenden niederen Paßstellen besuchten Bergzügen einen Höhenpunkt aufgefunden hat, auf den ihm alle erforderlichen Merkmale zu passen schienen[2]. Dieser Gipfel, für den er leider nicht einmal einen heut üblichen Specialnamen mittheilt, liegt unweit südlich der großen Straße von Gümüschchane nach Baiburt und Erzerum, wo sie die Wasserscheide zwischen dem Charschut und Tschoruk in dem 1900 Meter (circa 6000 Fuß) hohen Wawug-Dagh (Wawer bei Strecker) auf durchaus fahrbarem Wege überschreitet; seine Meereshöhe schätzt Borit auf 2400 Meter (7600 Fuß), so daß ihm allerdings der gerade nördlich vorliegende noch 600 Meter höhere Karakapán-Dagh, über welchen die gewöhnlichste der Sommerstraßen zwischen Trapezunt und Erzerum führt, in dieser Richtung jeden Blick auf die Küstengegend völlig verdeckt; dagegen zeige sich etwas mehr rechts über das Dorf Wesernik hinweg in dem nördlichen Gebirgszuge eine tiefe spaltartige Einsenkung, die wohl einen Durchblick auf das Meer gestatten könne, wenn sie nicht, wie gerade damals, mit Nebeln erfüllt sei: nur in nordwestlicher Richtung, das lange Charschut-Thal abwärts (also in einer Entfernung von 15–16 deutschen Meilen) habe er wirklich das Meer zu erblicken geglaubt[3]. Der Gipfel, dessen nördliche und westliche Abhänge noch mit Tannenwald bedeckt sind, besteht aus hartem porphyrähnlichen Gestein; größere Bruchstücke desselben sind zu einem in der Mitte noch etwa 2½ Fuß hohen kreisförmigen Haufen von 30 Fuß Durchmesser gesammelt, umgeben von kleineren 5–6 Fuß hohen, 4–5 Fuß Durchmesser haltenden Steinkegeln; beim Abräumen einzelner Theile fanden sich darunter Bruchstücke grober rother und schwarzer Thongefäße, wie sie noch jetzt im Lande üblich sind; ähnliche kleinere Kegel, häufiger noch halbkreisförmige,
[458] meist gegen die Nordseite convexe Steinwälle finden sich auch hier und da auf den umliegenden Gipfelhöhen: diese hält Herr Borit für moderne Machwerke der auf diesen Höhen weidenden Hirten zum Schutze gegen die herrschenden Nordstürme. Wir müssen gestehen, daß auch die angegebenen Dimensionen des größesten Tumulus unsern Vorstellungen von dem Steinmal der Zehntausend wenig entsprechen und den Wunsch nach erneuter umfassenderer Nachsuchung in diesen Berggegenden berechtigt erscheinen lassen[4].
Von der Paßhöhe des Wawuk-Dagh westwärts giebt Herr Borit längs der Fahrstraße folgende genau gemessene Distanzen: 1,8 Kilom. Wawuk-Chan, 2,5 Zusammenfluß der Quellbäche des Charschut, 2,7 Getschid-Chan, 7,3 Kaledjik, Dorf, benannt nach den darüber auf hoher Felswand liegenden Ruinen eines angeblich genuesischen Schlosses. 5,5 Einfluß des Baches von Wesernik in 1290 Meter Meereshöhe, 5,8 Tekke, 13,2 Gümüschchane, zusammen 38,8 Kilometer = 5¼ deutsche Meile. Doch läßt er die Griechen nicht, wie Grote und Strecker, diesen ganzen Weg zurücklegen, sondern nur den obersten Theil desselben, während er die Stelle, wo sie vom hohen Gebirge zu Thale steigen mit Rücksicht auf die südlich abseits von der Straße liegende Aussichthöhe ebenfalls in einem der obern südlichen Nebenthäler findet, [459] wo das heutige Dorf Tarkanas ungefähr an der Stelle desjenigen liegen möchte, welches das Heer noch am Abend vom Berge Theches abwärts erreichte. Der nach Xenophon am folgenden Tage passirte von der rechten Seite kommende mit Bäumen besetzte Grenzfluß des Skythinischen und Makronischen Landes soll der Fluß von Wesernik sein, dessen über hundert Schritt breites Kiesbett nur zur Zeit der Schneeschmelze angefüllt, zu andern Jahreszeiten nur einen schmalen Wasserlauf enthält, und noch vor zwei Jahrhunderten nach dem Zeugnisse des Türkischen Geographen Hadji Chalfa über das im Namen des Murad-Chan noch fortlebende Odjak des Sultan Murad, von dichtem Wald umgeben war, der jetzt gänzlich verschwunden ist. Der den Griechen zur Linken bleibende Fluß, in den jener Grenzfluß sich ergießt, wäre dann der an Wassergehalt noch unbedeutendere, aber wegen der geraden Fortsetzung der Richtung des Hauptthales auch jetzt als Hauptquellfluß des Charschut geltende Bach von Wawug. Bei dem oben erwähnten Orte Kaledjik ist sein Bett beiderseits von Felswänden eingeschlossen, von denen die südliche hier ganz unzugänglich bleibt, während auf der rechten oder nördlichen etwa 30 Fuß hoch über dem Flußbette ein schmaler Feldpfad ausgehauen ist; in dieser, eine natürliche Grenze zweier Gebirgsgaue bildenden Thalenge sieht Herr Borit die von Xenophon im Zusammenhange mit der Skythinisch-Makronischen Grenze erwähnte (allerdings von dem eigentlichen Grenzbache noch etwa ¾ D. M. entfernte) sehr schwierige Stelle (χωρίον χαλεπώτατον, IV, 8, 1).
Für denjenigen, der immerhin unter der Voraussetzung künftiger überzeugenderer Identification des Theches-Berges, diese Bestimmungen des Herrn Borit zugiebt, würde es dann allerdings das einfachste und natürlichste sein, mit Groote und Strecker das Griechenheer auf der heutigen Tages vielbetretenen auch im Winter offenen Hauptstraße über Gümüschchane und Zigana zur Küste gelangen zu lassen, wenn eben nur die Länge dieses bequemeren Weges von wenigstens (ohne Rücksicht auf locale Umwege und Bergsteigungen) 15 Deutschen Meilen oder 20 Parasangen sich mit den im ganzen nur auf 17 Parasangen geschätzten 5 Tagemärschen des Autors vereinigen ließe. Will man also nicht bei diesem einen Irrthum in den Distanzschätzungen, oder, was wohl noch näher liegt, bei Gelegenheit der Kämpfe um den Paßübergang mit den Kolchern und der Besetzung der Kolchischen Dörfer, in welchen die Erkrankung durch den genossenen Gifthonig eine unerwartete Störung des Marsches herbeiführte, eine Auslassung einer nicht ganz unerheblichen Zwischendistanz annehmen, so bleibt nichts übrig, als nach einem kürzeren Wege sich umzusehen. Dies thut in der That Herr Borit, indem er ohne auf die winterlichen Schwierigkeiten [460] Rücksicht zu nehmen (vergl. Strecker S. 536) unter der Führung der landeskundigen Makronen selbst ein Ueberschreiten des 3000 Meter hohen Karakapán-Passes für möglich hält, doch hat er sich in Ermangelung jedes positiven Anhaltes in dem antiken Berichte nicht für eine bestimmte Linie entscheiden wollen, sondern alle nach seiner Localkenntniß als möglich anzusehenden verschiedenen Linien auf der Karte durch Punktirung angedeutet. – Wenn diese Kartenskizze selbst nur geringen Inhalt für ein wenigstens schon in den Hauptzügen, doch immer nur unvollkommen erforschtes Gebiet gewährt, so sind doch einzelne neue Angaben derselben und namentlich die den Vorgängern gegenüber leicht ersichtliche größere Schärfe und Bestimmtheit der Situationszeichnung als eine erwünschte Bereicherung unserer geographischen Kenntnisse anzusehen; doch darf nicht verschwiegen werden, daß eine Note auf der Originalzeichnung selbst einen Fehler in der Construction bezeichnet: die Distanz zwischen Ardusa und Trapezunt soll etwas zu lang ausgefallen sein und in der That, längs der gegenwärtig im Bau begriffenen Straße, nur 93 Kilometer betragen. Mit diesem Maße stimmt nun aber das in der Zeichnung ausgedrückte, nach dem beigefügten Maßstabe mit dem Zirkel gemessen, so völlig überein, daß die kleine Differenz nur etwa auf die nicht direkt meßbaren localen Umwege in den Gebirgspässen zu rechnen ist; unter diesen Umständen konnte ich natürlich keine immerhin willkürlich auf einzelne Stellen beschränkte Veränderung der Zeichnung vornehmen und habe vorgezogen, dieselbe unverändert, nur unter Reduction auf den zur leichteren Vergleichung bequemen Maßstab der Strecker’schen Karte in Band IV. wiederzugeben.
Anmerkungen
- ↑ Vergl. diese Zeitschr. Bd. IV. S. 535, 540.
- ↑ Wir heben aus dem französisch geschriebenen Memoire, welches er der Redaction dieser Zeitschrift zu übersenden die Güte gehabt hat, nur die auf Autopsie beruhenden Thatsachen und Ansichten heraus, da manche weitere Ausführungen und namentlich die Vermuthungen des in der literarischen Abgeschiedenheit seines Wohnortes auf veraltete Hülfsmittel, wie Kinneir (1813) beschränkten Verfassers über die vorangehenden Theile des Rückzuges durch Hocharmenien jetzt, besonders nach Strecker’s Untersuchungen, für den Leser kein Interesse haben können.
- ↑ Au fond de laquelle je me semblais voir la mer. Au nord une échancrure basse des monts – couverte de brouillards. – So unbestimmte Aussagen sind wenig geeignet die Ueberzeugung auch nur von der Möglichkeit der Identität des gesuchten Punktes hervorzurufen.
- ↑ Von diesem Gipfel übersah der Entdecker gegen Süden, leider ohne die Gelegenheit zu speciellerer Messung und Skizzirung zu benutzen, eine wie er bemerkt auf älteren Karten ganz fehlende in ostwestlicher Richtung langgestreckte breite seeähnliche Thalebene, Scheilan-Dere genannt, die er zuerst zweifelhaft für das obere Thal des Kyzyl-irmak oder gar eines Euphratzuflusses halten zu müssen glaubte, während Herr Strecker, der einen wenig weiter westlich gelegenen Paß desselben Gebirges nach Süden zu überstieg, in derselben Lage vielmehr das obere, ebenfalls nach Westen sich senkende Thal des Kelkit-su fand, den Namen Scheiran aber (sprachlich wenigstens von jenem Scheilan nicht verschieden) erheblich weiter westlich für ein nördliches Nebenthal des Kelkit in Gebrauch fand. (Zeitschr. f. allgem. Erdk. N. F. Bd. XI. 1861. S. 351.) Ob sich derselbe Name an verschiedenen Stellen wiederholt, namentlich ob er auch einem nach Osten, zum Tschoruk ausgehenden Thale zukommt, scheint noch nicht mit Sicherheit zu folgen aus der, seiner oben angeführten widersprechenden Angabe des Herrn Borit, daß das von ihm von obenher gesehene Scheilan-Dere durch eine enge Schlucht etwa eine Viertelmeile (2 Kilometer) oberhalb Balahor durchbrechend, dem von diesem Orte dem Tschoruk zufließenden Bache seine große Wassermenge zuführe. Herrn Strecker’s neuere Karte, welche gleichfalls einen solchen westlichen Zufluß des Thales von Balahor verzeichnet, läßt ihn wenigstens viel weiter südlich entspringen und die Hauptrichtung SW.–NO. einhalten. – Fernere Bemerkungen unseres Autors über diese östliche Nachbarschaft betreffen einige weniger erhebliche Reste älterer Zeiten: bei Balahor findet sich ein auch in der Karte bezeichneter viereckiger Tumulus von 70 Schritt Länge und 15 Meter Höhe, aus wechselnden Lagen von Erde, Asche, Holzkohlen und groben Töpfereischerben bestehend, bei Warzahan drei verfallene Kirchen, darunter eine achteckige angeblich aus dem 15. Jahrhundert, bei Karta endlich in der Thalebene nördlich vom Tschoruk verschiedene Trümmer alter Gebäude, in welchen neuerdings Alexandermünzen in größerer Zahl gefunden sein sollen: Fingerzeige für künftige Localforschung.