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Der Fliegengott

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Textdaten
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Autor: Kurt Tucholsky
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Titel: Der Fliegengott
Untertitel:
aus: Lerne lachen ohne zu weinen, S. 267–271
Herausgeber:
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1932 (EA 1931)
Verlag: Ernst Rowohlt
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Erscheinungsort: Berlin
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Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: ULB Düsseldorf und Commons
Kurzbeschreibung:
Erstdruck in: Vossische Zeitung, 6. Juni 1929
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[267]
Der Fliegengott

Zu Pfingsten hat es geschneit. Am Wettersee hat es geschneit. Das kleine Haus liegt ganz allein, und man kann es alles sehen. Schnee!

Die Birken waren furchtbar erschrocken; die vernünftigeren Laubbäume hatten überhaupt noch nicht geflaggt, wie Gerippe steckten sie ihre Arme in die Luft. Ihre Baumseele schlief.

Kalt ist das – hätten auch sollen lieber nach Lugano gehn oder nach … ja. Ich habe heizen lassen: Senta hat die weißen Kachelöfen in Betrieb gesetzt, die bullern, und [268] jetzt spielen wir Winter. Die Öfen sind heiß. Senta, auf ihren dicken Beinen, ist dann zu Papa und Mama ins Dorf gefahren; die Schweden sind wohl Zentauren des Fahrrads. Nun bin ich allein.

Winterdunkel ist es; während sich in Schildhorn die Leute mit dem Kellner herumzanken und mit dem Mann an der Billettsperre – „Hier, der Herr hat meine Fahrkarte gehabt! Ich habe doch … sei mal still … Sie halten überhaupt den Mund!“ – ist es hier blau und winterdunkel. Spät, beinah zehn. Um diese Zeit gehen der Herr immer schlafen.

Gut, daß das keiner sieht: in der einen Hand den elektrischen Kochtopf, der Kamillentees wegen gebraucht wird, in der andern zwei dicke Bücher, zwecks Bildung, unter dem Arm die Zeitungen, im Schlafrock –: so stehn wir wohl vor der weißen Tür. Nur noch über den Flur … und dann ins Schlafzimmer. Mach die Tür nicht auf –! Mach die Tür nicht auf –!

Grotesk. Warum soll ich denn die Tür nicht aufmachen?

Weil … setz mal den Kocher ab. Weil … wenn nun … ich sage nicht, daß es so ist … wenn nun draußen auf dem Treppenflur, hinter der Tür, der Fliegengott stände?

Der wer –?

Der Fliegengott.

Was ist das? Bist du närrisch? Laß mich … ich will jetzt ins Bett, wo ist denn der Kocher?

Ich sage nicht, daß es so ist … Aber er steht da, eine schwarze, drahtige Sache, berührt nicht den Boden, hängt oder schwebt, weiß nicht. Oben hat er Käferzangen, und rechts und links, wie zwei schiefe, abgerutschte Turbane, Haarnetze von Augen. Weißt du, daß die Fliegen zweitausend Augen haben, oder viertausend –

[269] Der Kaffee kann das nicht sein. Was für wirre Ideen – ich nehme jetzt den Kocher und …

Wart mal. Da steht er also – was tust du! (lauernd) Was tust du! Ich meine: wenn er da steht –?

Na, dumm …

Nein, sag mal: was tust du –? Schreist du –? Ich schreie.

Vielleicht schreie ich. Auf alle Fälle bekäme ich einen furchtbaren Schreck, so – mit Blutandrang nach dem Kopf, oder fließt das Blut dann ab, ich weiß nicht … dann das Gefühl unter den Haarwurzeln, die Luftbeklemmung … Himmeldonnerwetter, warum soll er denn da stehn, dein Gott? Dein lächerlicher Gott? Verflucht, wenn er nun wirklich?

Na, so. Damit die Sache einen rationalistischen Grund hat: wegen der hundert Fliegen, die du hier totgemacht hast. Sage mal, Mensch: warum klappst du eigentlich alle Fliegen tot, die an den Fenstern summen? Sie haben dir doch nichts getan! Aber nein, kaum siehst du eine, kaum hörst du eine, dann mußt du hingehen, und mit dem Notizbuch mußt du sie an die Scheiben kleben … sehr ekelhaft, wie das aussieht … so eine gequetschte …

Lachhaft. Warum? Weil sie jetzt voller Eier stecken; weil ich vielleicht Lust habe, hier nachher die ganze Brut im Zimmer zu haben! Es ist ja –

Weißt du, daß tragendes Wild geschont wird?

Du bist ein Happen dof. Sind Fliegen vielleicht Wild? So tief hinunter reichen die ethischen Ideen nicht … jetzt stehe ich also wahrhaftig hier im Schlafrock und philosophiere … laß mich endlich –

Momang. Wo hören deine ethischen Ideen auf, junger [270] Herr? Bei den Mäusen? Darf man die noch nicht oder darf man die schon töten, wenn sie … Pst. Was war das?

Wart mal. Nichts. Manchmal knackt es so auf der Treppe.

Ja, da steht er also und rächt sie alle. Auch die, die du im Sommer an den langen Leimbändern verzappeln läßt – sag mal, wenn das nun Menschen wären, die da in deinem Zimmer … na, das pazifistische Geschrei möchte ich ja nicht hören! Und dann signalisieren sie mit den kleinen Beinchen: SOS! Neulich hast du Hund mit deiner Petroleum-Abwehr-Spritze eine angespritzt, sie fiel gleich um, winkte: Erbarmen! Aber du hast weiter gespritzt, bis sie starr da lag – er rächt sie.

Komisch, was in diesem Hause klopft. Es ist niemand da, und ich klopfe doch nicht. Er steht also da, dein Gott, und was macht er –?

Nichts. In den Sagen ist das dann so, daß du nie mehr lachen kannst. Das sind aber Störungen der Magensäfte, wenn einer nicht mehr lachen kann. Er stürzt sich auch nicht auf dich. Er hängt da – so …

Metaphysik kommt aus dem Bauch. Daran ist kein Zweifel. Etwas Natron … aber das steht drüben, im Schlafzimmer … na, vielleicht gehe ich jetzt über den Flur?

Geh doch.

Ich will nur noch … ich habe noch vergessen …

Du hast Angst.

Ich habe keine Angst! Ich will nur das Hemd fortlegen.

Du hast Furcht. Er hängt, ein klein wenig rechts, gleich hinter der Tür und wartet auf dich. Wenn du die Tür aufmachst, sieht er dich an, einen Herzschlag lang; verläßt sich ganz auf seine Erscheinung; dann verschwindet er, Gespenster haben manchmal so etwas Erwischtes … und auf einmal siehst du die zehn Gebote im Querschnitt, wie sie nicht sehr [271] tief hinunterreichen, wie das alles nur in einer schmalen Schicht gilt … etwa so breit, wie die, die wir ohne Apparate beherrschen: ein Meter achtzig über der Erde, drei Meter drunter. Das ist das Reich der zehn Gebote.

So. Jetzt habe ich das Hemd fortgelegt, nur noch die Kanten einschlagen … ich gehe jetzt. Warum soll ich nicht nach vorn gehn? Vorn hat man keine Angst – Angst hat man nur im Rücken.

Du kannst auch gehn. Er ist weg. Wie weggeputzt, so, wie die Kinovisionen …

Außerdem habe ich nicht die Spur Angst, nicht die leiseste Spur … siehst du, ich drücke mit der Kocher-Hand die Klinke herunter … ist da was im Dunkel? … Nein, da ist nichts. Licht! Deinen Fliegengott gibt es gar nicht. Morgen schlage ich sie alle tot, alle. Nicht eine soll mir an den Fenstern summen. Schmeißfliegen.

Der Herr sind etwas schnell über den Flur gegangen, wie … ? Hast du die Tür abgeriegelt?

Der Riegel ist entzwei. Ich habe keine Angst. Hier hinein kommt er nicht.

Warum nicht?

Weil es ihn nicht gibt. Weil es ihn nicht gibt. Gibt keinen Fliegengott. Jetzt laß mich lesen.

*

(Das Gefühl, im Dunkel.) In mir wachsen und wimmeln Millionen Mikroben. Jeder Herzschlag klopft dem Grabe zu. Weiter und weiter – unaufhaltsam. In mir wächst der Tod.