Der Hennegraben
Unfern der Burg Windeck liegt eine Meierei, der Hennegraben genannt.[1] Zwischen den fröhlich grünenden Weinreben und den hohen dunkeln Kastanienbäumen sind noch die Spuren eines Grabens zu erkennen, welcher sich um ein Vorwerk des Schlosses herzog.
Zur Zeit, als der Dechant von der Straßburger Domkirche auf Windeck gefangen saß (1370) wohnte unten im Wolfshag, in einer aus Baumrinde und Moos verfertigten Hütte, eine hochbetagte Frau, welche von den Umwohnern nur das Waldweiblein genannt wurde. Sie kannte viele verborgene Dinge und auch die geheimen Heilkräfte der Pflanzen; die wilden Thiere des Forstes thaten ihr nichts zu Leide, sondern näherten sich ihr demüthig und gehorchten willig ihrer Stimme. Der ganze Reichthum des grauen Mütterleins bestand in einigen weißen Hühnern von ungewöhnlicher Größe, die sich selbst ihr Futter im Walde suchten.
Eines Abends saß die Alte vor ihrer Hütte, da kamen zwei wunderschöne Knaben des Weges daher. Sie waren müde und niedergeschlagen und fragten nach dem nächsten Pfade zur Burg Windeck. Die Alte hieß sie freundlich willkommen und erquickte sie mit Waldfrüchten und weißem Brode. Der Jüngere, ein Knabe von dreizehn Jahren, ließ sich’s trefflich munden, allein der Aeltere, der ohngefähr siebenzehn Sommer zählen mochte berührte keine der süßen Beeren, sondern sah traurig zu Boden, ja, nach und nach schlichen auch Thränen über seine Wangen, was er jedoch zu verbergen suchte und deßhalb an einem nahen Felsbrünnlein sich die Augen mit dem klaren frischen Wasser auswusch. Wie die vom Morgenthau beperlte Rose, so glänzten jetzt seine Wangen wieder im blühenden Jugendroth und das Waldweiblein schaute ihn wohlgefällig an und sagte: „Ei du kleiner Schalk, sicherlich bist du kein Knabe, sondern ein Mägdelein! Aber habt nur Vertrauen zu mir, ihr Kindlein Gottes, und sagt mir, wo eure Eltern wohnen und was für ein Begehren ihr auf Windeck anzubringen habt?“
[148] Nun fingen die Kinder beide zu weinen an und das ältere versetzte nach einer Weile:
„Wohl bin ich ein Mägdlein und heiße Imma von Erstein, und Dieser ist mein Bruder. – Unser Oheim, der Dechant von Straßburg, der uns bis jetzt so väterlich erzogen, liegt nunmehr gefangen dort oben auf der Windeck, und wir wollen den Burgherren bitten, daß er ihn freigebe.“
„Bringt ihr denn Lösegeld?“ frug die Alte.
„Ach!“ – erwiederte die Jungfrau, ein mit Diamanten besetztes Kreuzchen aus dem Busen ziehend – „ich besitze nichts als dieses Kleinod, eine Reliquie von meiner seligen Mutter! Aber wir wollen den Windecker bitten, daß er uns Beide als Geißeln behalte, bis der Ohm sich gelöst haben wird.“
„Seyd nur getrost, meine Lieben!“ – sagte das Waldweiblein, der Jungfrau die Locken aus dem Gesichte streichelnd – „Ich selber will den Dechant loskaufen. Hört mich, Kinder! Die Straßburger werden ehestens anrücken und die Burg Windeck belagern. Doch die vergangene Nacht hab’ ich es zweien Kundschaftern abgelauscht, die sich hier im Dickicht versteckt hielten. Sie hatten die Gelegenheit der Burg vollständig ausgespäht und besonders die schwache Seite bemerkt drüben am Tannenwald, wo das steinerne Todtenkreuz steht. Geht nur hinauf zum Junker Reinhard, dem Sohne des Windeckers, und sagt ihm, er solle dort an jener bloßgegebenen Stelle einen tiefen Graben aufwerfen lassen, und das noch heute so schnell als möglich, denn ich fürchte, die Feinde möchten schon in dieser Nacht heranziehen.“
„Aber wird der Ritter auch unsern Ohm freigeben?“ – fragten die Kinder.
„Ich geb’ euch ja ein Lösegeld mit!“ – erwiederte die Alte und klatschte dreimal in die hageren Hände. Siehe, da kamen von allen Seiten ihre weißen Hühner herbeigeflogen und getrippelt. Sie ergriff eine derselben und gab sie dem Mägdlein mit den Worten: „Diese Henne da bring’ dem Ritter Reinhard auf Windeck; dann wird er den Dechant freigeben.“
Die Kinder schauten sie verwundert an.
„Thut nur nach meinem Geheiße!“ – fuhr die Alte fort – „der Ritter soll die Henne, so bald die Sonne heut’ untergegangen [149] ist, bei dem Kreuze niedersetzen, wo die Feinde den ersten Angriff zu machen beabsichtigen. Die Leute auf seiner Burg sind doch nicht ausreichend, den Graben in so großer Schnelligkeit tief und breit genug aufwerfen zu lassen – meine wackere Henne wird dies aber schon zu Stande bringen.“ – Bei diesen Worten streichelte sie das Thier und sang dazu in leisen, kaum vernehmlichen Tönen:
„Hör’, was ich dir sag’:
Wenn sich neigt der Tag,
Wenn das Käuzlein schreit,
Mußt du graben tief und breit,
Mußt scharren die Erd’ heraus,
Bis zu des Todten Haus,
Bis zu des Helden Schwert,
Welches kein Rost verzehrt.
Geh’, und vor Mitternacht
Sey noch dein Werk vollbracht!“
Imma blickte nicht ganz ohne unheimliches Gefühl auf die weiße Henne; die Alte war aber dabei so freundlich und treuherzig, daß die Jungfrau doch wieder Zutrauen zu ihr faßte. Ihr Bruder zeigte nicht die mindeste Furcht und freute sich sogar schon im Voraus auf das wunderbare Schauspiel, welches ihm die Henne gewähren sollte. So schieden beide Kinder von der wohlmeinenden Alten.
Sie hatten kaum die Hälfte des Berges erstiegen, auf dessen Kuppe Windeck liegt, als ihnen der junge Ritter entgegen kam. Er war von hoher edler Gestalt; ein tiefer Ernst überschattete sein wohlgebildetes Antlitz, doch der milde Ton seiner Stimme benahm den Geschwistern bald ihre Besorgniß.
„Wer seyd ihr, liebe Kinder, und was sucht ihr auf meiner Burg – denn dahin geht ja euer Weg, nicht wahr?“
„Ja, gestrenger Herr Ritter!“ – erwiederte Imma mit hochgerötheten Wangen und zu Boden geschlagenen Augen – „Wir wollen Euch geziemend bitten, unsern Oheim, der bisher an uns armen elternlosen Waisen Vaterstelle vertrat, frei zu geben und dafür uns als Geißeln zu behalten, bis er sich löst.“
Der Ritter konnte seine Rührung nicht verbergen. Er betrachtete die Kinder eins um das andere, am längsten die schöne Imma, die voll reizender Verlegenheit vor ihm stand; bis sein [150] Blick wieder auf die weiße Henne fiel, welche sie trug. Auf seine Frage, was es damit für eine Bewandtniß habe, erzählte sie, was wir bereits wissen.
Der Windecker hörte ihr aufmerksam zu. Seine Blicke wurden immer forschender und steigerten nur die Verwirrung der Jungfrau, so daß ihrer Worte Faden selbst in Verwicklung gerieth. Ihr Bruder lächelte und wollte einhelfen: „Ei, Imma, so sagte ja die alte Frau nicht!“
Imma’s Antlitz erglühte bei dieser Rede, wie mit Flammen übergossen, doch der Ritter faßte ihre Hand und sprach mit einem Tone des innigsten Gefühls: „Edle Jungfrau, in Gottes Geleite seyd ihr hierher gekommen und im Schutze meines Armes sollt ihr auf Burg Windeck weilen, so lang es euch nicht gelüstet, wieder heimzukehren. Doch kommt nun, meine Lieben, und bereitet euerm Oheim eine freudige Ueberraschung!“
Mit diesen Worten geleitete der Junker die Geschwister auf seine Burg, wo er sie sogleich zum Dechant führte, sodann unverzüglich die Vertheidigungsanstalten traf. Der Weisung des Waldweibleins zufolge trug er wirklich die Henne, sobald die ersten Sternlein am Himmel blinkten, zu dem steinernen Kreuze, welches die Ruhestätte seines im Zweikampf gefallenen Großvaters bezeichnete. Mit dem Schlage der Mitternachtstunde begab er sich abermals dahin und fand, zu seiner höchlichen Ueberraschung, einen tiefen und breiten Graben sammt fester Brustwehr, und im Sternenschein leuchtete ihm das Schwert seines Großvaters entgegen, welches man dessen Leiche mit ins Grab gegeben hatte. Die weiße Henne war verschwunden.
Als gegen Morgen die Straßburger in drei Haufen, wie die Alte vorausgesagt, zu jener sonst so schwachen Seite her anrückten und sich zum Sturm rüsteten, scheiterten all’ ihre Kräfte an der Tiefe des Hennegrabens und sie wurden von den Windeckern mit großem Verluste zurückgeschlagen.
Einige Wochen darauf legte der würdige Dechant, dessen Freilassung Imma durch Schenkung ihres Herzens an den jungen Ritter von Windeck ausgewirkt hatte, im Straßburger Münster die Hände des liebenden Pärchens ineinander.
Der Hennegraben hat bis auf heutigen Tag den Namen beibehalten.
- ↑ Siehe die vorige Sage.