Der Herr Oberstabsarzt

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Autor: H. v. Osten
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Titel: Der Herr Oberstabsarzt
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aus: Die Gartenlaube, Heft 39, S. 664–666
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1888
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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[664]
Der Herr Oberstabsarzt.
Von H. v. Osten.

Hier, mein lieber Werner, hier haben Sie das gewünschte Zeugniß. Gerathen Sie an einen nur halbwegs trätablen Kollegen vom Militär, so denke ich, daß Sie daraufhin freikommen werden. Ich wünsche es Ihnen von Herzen!“

Mit diesen Worten überreichte mir unser alter Hausarzt mit einem freundlichen Blick über die goldene Brille hinweg das Attest, welches meine inneren und äußere Schäden in so scharfer Weise hervorhob, daß ich jeden andern wegen Verleumdung verklagt hätte – hier drückte ich nur dankbar und verständnißinnig die weiche, fette Hand.

Es lag mir viel daran, vom Militärdienst frei zu kommen. Hatte sich doch eben Gelegenheit gefunden, meinen schönsten Traum zu verwirklichen, das heißt eine Reise um die Welt zu machen, und zwar in einer Weise, die für meinen Beruf als Naturforscher die denkbar günstigste war. Schwerlich würde eine zweite derartig günstige Gelegenheit mir sobald werden, und ich hoffte, wenn ich dieselbe ergriff, in meiner Weise dem Vaterlande einst besser dienen zu können, als wenn ich ein Jahr in Kommißstiefeln einherstolperte. Zudem waren meine Augen durch nächtliche Studien wirklich angegriffen, und mit großer Befriedigung bemerkte ich bei meiner Ankunft in D., daß die staubige Eisenbahnfahrt das Ihrige beigetragen hatte, sie noch mehr zu entzünden.

Die gerötheten Ränder und der trübe Blick, die mir aus dem fleckigen Gasthofspiegel entgegensahen, erweckten die besten Hoffnungen auf Befreiung von meinen soldatischen Pflichten in mir, und in gehobener Stimmung begab ich mich zu einem Stelldichein mit einigen Freunden.

Wir plauderten lustig und gemüthlich und die Leutchen gaben mir die merkwürdigsten Aufträge für die fernen Welttheile mit, als Freund K. mich plötzlich fragte, welcher Arzt mich untersuchen würde.

„Oberstabsarzt Römer,“ antwortete ich.

„Hui,“ machte er mit einem langen, wehmüthig verhallenden Pfiff, „dann Ade die schönen Reisepläne! Packe Deine Koffer wieder aus, mein Junge, bleibe im Lande und folge dem Kalbfell. Der Herr Oberstabsarzt Römer ist ein Herr, der nicht mit sich spaßen läßt. Seiner Ansicht nach gehören zum Militärdienst nur ein Paar tüchtige Arme und Beine, und Deine sind so, Gott sei’s geklagt, in der besten Verfassung. Aber Scherz bei Seite, mach’ Dich auf alles bereit. - Dieser Herr ist so unbeugsam, als hieße er nicht nur Römer, sondern stamme unmittelbar von den alten Quiriten ab.“

Ich blickte fragend im Kreise umher. Die meisten bestätigten durch ein stummes Kopfnicken die Worte des Freundes, und S., der lustige Blondkopf, sprang auf und rief mit Pathos: „Ein volles Glas für den dem Tode Geweihten!“

Wir lachten alle, und hell erklangen die Gläser, aber mit meiner frohen Laune war es vorbei. Ein verteufelter Spaß wäre es doch, wenn K. recht behielte.

Um den üblen Eindruck meines angegriffenen Aeußeren so viel als möglich zu verstärken, beschlossen die opfermüthigen Freunde, die kurze Sommernacht mit mir zu durchjubeln, und die Augen meiner guten Mutter hätten gewiß mit Sorge auf mir geruht, als ich am nächsten Tage bleich und übernächtig in das große, abscheulich helle Zimmer des Doktor Römer trat.

Beim ersten Blick auf den kleinen, untersetzten Herrn mit dem grauen, kurz geschnittenen Haar, unter dem das Gesicht so frisch, beinahe jugendlich hervorsah, zog wieder Hoffnung in meine geängstigte Seele, und mit dem scharfen Blick des Naturforschers glaubte ich zu entdecken, daß die Brille dem alten Herrn nur ein Mittel sei, sich amtliche Strenge zu geben und seine freundlichen, wohlwollenden Augen möglichst zu verstecken.

Nein die Freunde hatten sich einen Spaß mit mir gemacht: dieser Mann war sicher kein militärischer Automat, er würde verstehen – begreifen – und überdies hatte er gewiß schon den Brief des Hausarztes, den ich ihm gestern gleich zuschickte, gelesen – richtig, da lag er so offen auf dem Schreibtische, ich erkannte die geschnörkelte Schrift des alten Herrn. Ich athmete auf.

Doktor Römer kam mir mit ernster Freundlichkeit entgegen, forderte mich auf, Platz zu nehmen und, nachdem er über den Brief des Arztes gesprochen und einige Fragen über meine Familie an mich gerichtet, ich ihm auch meine Pläne bezüglich der Weltreise mitgetheilt hatte, begann er eine lange, gründliche Untersuchung.

Ich fing eben an zu denken, daß der gute Mann seinen Hokuspokus etwas abkürzen könnte, als plötzlich in meine gemüthliche Sicherheit die niederschmetternden Worte fielen:

„Es thut mir leid, mein junger Freund, ich weiß, was für Hoffnungen und Wünsche ich Ihnen zerstören muß, aber ich vermag in Ihrer Konstitution nichts zu finden, was Sie vom Dienste befreien könnte. Trösten Sie sich, Sie sind noch so jung, es kommt schon wieder eine derartige Gelegenheit und Sie werden diese dann mit dem ruhigen Gefühl benutzen können, Ihrer Pflicht genügt zu haben. Das ist doch immer die Hauptsache für einen ehrlichen Menschen.“

Er sagte diese Worte so wohlwollend und sah mich, jetzt ohne Brille, aus hellen blauen Augen so freundlich an, daß ich dem Manne nicht einmal gram sein konnte, der mit einem Worte meine Karrière zerstörte – wie ich damals meinte.

Während ich mich ankleidete, murmelte ich noch einiges über meine durch Studien sehr geschwächten Augen, aber der kleine Oberstabsarzt schüttelte lächelnd den Kopf und meinte: „Nein, nein, damit kommen Sie bei mir nicht durch. Es giebt vielleicht Kollegen, bei denen Sie mit der augenblickliche Entzündung Ihr Glück hätten machen können, aber da das Schicksal Sie nun einmal zu dem alten Römer geführt hat, so müssen Sie auch die Konsequenzen tragen. Ich darf mir derartige kleine Liebenswürdigkeiten nicht erlauben, darf es nicht, wenn ich nicht die Ruhe meiner Nächte gefährde will.“

Ich muß den alten Herrn wohl mit ziemlich dummem Gesichte angesehen haben, denn er lächelte ernst und meinte: „Das scheint Ihnen seltsam, mein junger Freund. Wenn Sie für heute Nachmittag nichts Besseres vorhaben, so trinken Sie eine Tasse Kaffee in meinem Garten, dann erkläre ich Ihnen die Sache. Es liegt mir daran, gerade Ihnen gegenüber mich auszusprechen. Sie gleichen auffallend Ihrer Frau Mama, die ich einst gut kannte, und ich möchte nicht gerne, daß die freundlichen Züge derselben sich verfinsterten, wenn sie zum ersten Male wieder von dem alten Doktor Römer hört.“

Ueberrascht und gerührt von dem herzlichen Ausdruck, mit dem mein freundlicher „Henker“ mir seine Hand entgegenstreckte, ergriff ich dieselbe und sagte mein Kommen zu.

Um vier Uhr fand ich mich mit militärischer Pünktlichkeit ein, und nachdem mir der alte Herr seine Rosen gezeigt und ich seine Spaliere bewundert hatte, setzten wir uns in einer Weinlaube zu einer ausgezeichnete Tasse Mokka, die von einer ebenso guten Cigarre begleitet war.

In einen bequemen Gartenstuhl zurückgelehnt, blickte ich den duftenden Rauchwölkchen nach und war in der menschenfreundlichsten Stimmung, die Bekenntnisse einer Oberstabsarztseele entgegen zu nehmen, obgleich ich noch vor einer Stunde im Kreise der Freunde Rache geschworen hatte.

Doktor Römer ließ sich zuerst von den Meinigen erzählen und hörte aufmerksam zu.

Dann saß er eine Zeitlang schweigend, endlich begann er.

„Nun, man junger Freund, wenn also die Frau Mama Sie fragt, warum der alte Doktor Römer gar so unerbittlich sein müsse, so erzähle Sie ihr folgende kleine Geschichte.

Im Jahre 70 war es, bald nach der Kriegserklärung, ich hatte natürlich alle Hände voll zu thun, als an einem Sommertage wie der heutige ein eleganter älterer Herr mit seinem Sohn bei mir eintrat. An seiner Sprache merkte ich sofort, daß er Pole sei; in dem schönen, echt nationalen Gesichte war eine große Aufregung unverkennbar, so sehr er sich auch mühte, diese zu verbergen.

Der Sohn, ein hochgewachsener, schlanker Mensch, zeigte dieselbe schönen Züge. Seine dunkelblauen, von schwarzen Wimpern umrandeten Augen hatten einen Blick, der Damen wohl gefährlich werden konnte; übriges schien er, trotz seiner Jugend, das Leben schon genossen zu haben. Es lag etwas Welkes in dem schönen Gesicht.

[665] In der verbindlich gewinnenden Weise der Polen erzählte mir der Vater, er habe es vorgezogen, den Sohn sofort als Freiwilligen anzumelden, obgleich er fest überzeugt sei, daß derselbe bei einer Musterung frei kommen würde. Es sei dies der letzte von drei Söhnen, die beiden ältesten wären an der Schwindsucht gestorben, eine Tochter trage den Keim derselben Krankheit in sich, und bei diesem Jüngsten würde es wohl ebenso sein, denn er sei den verstorbenen Brüdern ganz ähnlich. Dabei schimmerten, trotz aller weltmännischen Fassung, die dunklen Augen des Vaters von Thränen, und als ich den jungen Mann sich entkleiden hieß, nahm ich mir fest vor, Milde walten zu lassen, so weit es sich mit meinem Gewissen vertrüge.

Während ich den feingebauten Körper des jungen Polen sorgsam auskultirte, fiel mir ein, wie am Tage vorher ein junger Graf Malten mich angefleht hatte, nicht zu sehr aus seine schmale Brust zu achten, er könne wirklich viel ertragen, er sei nicht schwächlich, als Kavallerist brauche man ja keine Bärenkräfte.

Dies hier war ein ganz ähnlicher Körperbau – zart, angegriffen, aber noch vermochte ich kein eigentliches Symptom von Lungenleiden aufzufinden. Den jungen Grafen hatte ich angenommen, indeß hier – die Krankheit war nun einmal in der Familie, – erblich sogar, wie der Vater versicherte, es war sein letzter Sohn, wenn er nun doch den Strapazen nicht gewachsen wäre – ja, dachte ich bei mir, ich darf es diesmal thun, ich notire ihn als zu schwächlich.

Wie ich aufblicke, das Stethoskop noch in der Hand, um dem Vater die gute Botschaft zu verkünden, sehe ich, wie der Pole mit verbindlichem Lächeln drei Hundertmarkscheine auf meinen Schreibtisch legt.

Ich sehe noch heute die feingliedrige, weiße Hand vor mir, wie sie die Bestechungssumme auf meinen ehrlichen, alten Tisch legt. Es durchfährt mich wie ein elektrischer Schlag. Denkt dieser polnische Aristokrat, daß ein bürgerlicher Doktor überall zu erkaufen ist, hier sowohl wie in Rußland, wo er vielleicht seine Erfahrungen gemacht hat? Das Blut steigt mir in den Kopf, es saust mir in den Ohren und ohne den Polen anzusehen, sage ich mit heiserer Stimme, indem ich zugleich die Notiz in das Attest eintrage: Tauglich für leichten Kavalleriedienst.

Ein Seufzer wie ein Stöhnen aus wunder Brust dringt an mein Ohr. Der Pole ist todtenblaß in einen Stuhl gesunken, aber wie ich auf ihn zueile, rafft er sich auf, tritt einen Schritt zurück und verbeugt sich Abschied nehmend mit kalter Würde.

Ich raffe die Scheine zusammen und reiche sie ihm.

‚Sie vergessen Ihr Eigenthum,‘ sage ich ruhig. Er nimmt sie und schreitet der Thür zu. Ich nähere mich dem jungen Polen und ermahne ihn, vorsichtig zu sein, er sei nicht krank, aber er sei sehr zart gebaut, ein wildes Leben könne ihn schnell an den Rand des Grabes bringen.

Ich spreche warm und dringend, er hört mich mit einem gleichgültigen Lächeln an, verbeugt sich verbindlich und folgt leichten Schrittes seinem Vater.

Ich starrte den beiden nach. Werden Sie es glauben, daß durch alle meine anstrengenden Berufsgeschäfte das schöne, ernste Gesicht des alten Polen mich verfolgte, daß ich immer wieder den tiefen, schmerzlichen Seufzer zu hören glaubte, mit dem er meinen Bescheid aufgenommen hatte?

Ich suchte mir einzureden, daß diese Polen überhaupt ungern gegen Frankreich kämpfen, daß man auf solche Gefühle keine Rücksicht nehmen dürfe – vergebens, ich konnte den Gedanken nicht los werden, daß ich den alten Mann vielleicht um den letzten Sohn gebracht haben könnte.

Der junge Pole, ein Herr v. Malaszow, war beim hiesigen Husarenregiment eingetreten. Er sah bildhübsch aus in der Uniform und schien sich auch ganz wohl zu fühlen.

Trotzdem die Geschäfte in jenen heißen Tagen schwer auf mir lasteten, fand ich immer noch Zeit, mich nach dem ‚schönen Polen‘, wie er im Regimente hieß, zu erkundigen. Bald hörte ich denn auch so mancherlei.

Er spielte die Nächte hindurch mit leichtsinnigen jungen Kaufleuten, Herren vom Lande und einigen Kameraden, trieb allerhand Tollheiten in verwegenen Ritten und hatte sich in leichtsinnige Liebeleien eingelassen.

Ich gerieth in Aufregung; mir war, als sei ich dem alten Herrn v. Malaszow verantwortlich für Leben und Gesundheit des Sohnes.

Ich suchte den jungen Leichtsinn aus, gab ihm ganz unbegehrte ärztliche Rathschläge, bemühte mich, halb im Scherz, halb im Ernst, Einfluß auf ihn zu gewinnen, ja trotzdem ich abends müde und matt war und mich nach Ruhe sehnte, besuchte ich jetzt die tollen, lustigen Kreise, nur um mein Angstkind nicht aus den Augen zu verlieren.

Aber alle meine Sorgen und Ermahnungen waren vergeblich. Es wurde weiter geliebt, getrunken, gespielt – und während ich meine Hoffnungen darauf setzte, daß der Leichtfuß nun bald nach Frankreich müßte, kam das Verhängniß über ihn!

An einem sonnigen Morgen holte man mich um vier Uhr aus dem Bette; der junge Herr v. Malaszow hatte einen Blutsturz.

An den Vater war telegraphirt, seine Antwort lautete, er säße am Bette der todtkranken Tochter, er könne nicht kommen.

Wie habe ich den jungen Menschen gepflegt! Nicht aus den Kleidern bin ich in der ganzen Zeit gekommen, und wie ich ihn so weit hatte, schickte ich ihn mit meinem besten Krankenpfleger nach dem Süden.

Ich selbst mußte auf den Kriegsschauplatz nach Frankreich. Die aufregende Zeit, der stete Wechsel der Umgebung, die gehobene Stimmung, in der man sich befand, verwischten die Erinnerung an die traurige Episode.

Da, es war in den ersten Tagen des Oktober, bald nach der Kapitulation von Straßburg, saß ich in der verwüsteten Stadt an einer Wirthstafel. Ich führte einen Zug Verwundeter nach Berlin und schimpfte über das ungesunde, naßkalte Wetter.

Weiter unten an der Tafel sitzt ein Herr, der mir bekannt vorkommt, doch weiß ich nicht ihn unterzubringen. Schöne, tiefleidende Züge, das volle Haar schneeweiß, sitzt er mit gesenkten Augen theilnahmlos da, kaum daß er auf die Fragen seines Begleiters antwortet.

Als fühle er meinen forschenden Blick, hebt er die Lider, unsere Augen begegnen sich. Leichenblässe überzieht sein Gesicht, er sinkt wie ohnmächtig zurück. Ich ergreife ein Glas Wasser, in welches ich rasch ein paar belebende Tropfen schütte, und eile, es an die Lippen des halb Bewußtlosen zu halten. Schon will er trinken, da trifft mich wieder sein Auge. Nie im Leben werde ich dessen Ausdruck vergessen! –

Hoch auf spritzt das Wasser aus dem Glase, welches er von sich stößt; im nächsten Augenblick ist der Fremde, auf seinen Begleiter gestützt, aus dem Saal verschwunden.

‚Der arme Herr, er ist nicht ganz bei Verstande, er hat eben seinen einzigen Sohn in Mentone begraben,‘ sagt der Oberkellner, indem er dienstbeflissen mir das verschüttete Wasser abwischt.

Es war Herr v. Malaszow und er sah in mir den Mörder seines Sohnes. –

Was war ein Menschenleben in jenen Tagen!

Zu Tausenden sanken sie hin, edle, verdienstvolle Männer, hoffnungsvollste, blühende Jugend; alles raffte die wilde Kriegsfurie dahin, tiefe Lücken wurden in den Staat, die Familien gerissen. Hier hatte ein leichtsinniges, inhaltsloses Dasein seinen Abschluß gefunden, aber die Lücke wird nie ausgefüllt werden, öde und todt liegt die Welt für den Vater, dem der Herzschlag des einzigen Sohnes verstummt ist.

Unzählige hatte ich in diesen Tagen sterben sehen, warum ließ mir dieser eine Todte keine Ruhe?

War es denn wahr? Hatte ich schuld an seinem frühen Scheiden?

Ja, mein junger Freund, furchtbar habe ich in jenen Tagen gelitten. Ich fühlte etwas von dem Fluche Kains auf mir lasten. Mein Beruf wurde mir verhaßt, denn er weckte mir immer wieder die Erinnerung, daß damals das Wort, welches der Vater ersehnte, auf meinen Lippen schwebte, als er, in unseliger Verblendung, mich beleidigte und zum Widerspruch reizte.

Endlich überwand ich es. Ich sagte mir, daß bei einem vernünftigen Leben der junge Malaszow noch ebenso frisch einherschreiten könnte wie der Graf Malten, den das Leben im Kriege wunderbar gekräftigt hatte. Selbst an der Riviera war der leichtsinnige Pole ja mehr in Monte-Carlo an der Spielbank als bei den heilkräftigen Bädern in Mentone gewesen.

Aber etwas blieb mir aus jener schweren Zeit zueigen. Nie durfte ich zu Gunsten irgend eines Gefühls oder besonderer, Rücksicht heischender Umstände jemand freisprechen, der nicht wirklich gänzlich untauglich war. Bei jeder solchen Ausnahme hätte ich [666] die traurigen Augen des alten Herrn v. Malaszow gefürchtet mit der stummen Frage: ,Wenn diesen, warum nicht meinen Sohn, meinen letzten, einzigen Sohn?’“ –

Der alte Herr schwieg ergriffen. Auch mir war längst die Cigarre ausgegangen. Ueber uns im Weinlaub sang eine Drossel.

„Sehen Sie, mein junger Freund,“ sagte nach einer Pause der Doktor mit einem etwas anzüglichen Lächeln, „so wurde ich der alte Grimmbart, der keinen zehnzölligen Naturforscher mit einem Brustkasten wie ein Preiskämpfer als untauglich gelten läßt, mag er auch etwas entzündete Augen und eine bleiche Gelehrtenfarbe haben.

Donnerwetter, Sie werden sich wundern, wie Sie nach sechs Wochen aussehen werden. Wollen Sie bei der Artillerie eintreten?“

Ehe ich antworten konnte, verdunkelte ein leichter Schatten den Eingang der Laube und eine weiche Stimme sagte: „Verzeih’, Onkelchen, daß ich Dich störe, aber oben ist der Medizinalrath Scholten, der Dich gleich sprechen will.“

„Scholten! ja dann ist es vorbei mit dem Plauderstündchen, wir haben eine Konsultation zusammen. Seien Sie nicht böse, daß ich Ihnen davonlaufe, wir sehen uns ja wohl noch öfters. Liebe Erna, geleite Herrn Werner bis zur Gartenthüre, hier ist der Schlüssel. Auf Wiedersehen, lieber Werner!“

Damit eilte der kleine, kurzbeinige Herr so schnell er konnte ins Haus.

Fräulein Erna hielt den großen Schlüssel verlegen in der zierlichen Hand. Aus der wenig ceremoniösen Art der Einführung und dem kurzen Sommerkleidchen, welches allerliebste Füße frei ließ, glaubte ich den Schluß ziehen zu dürfen, daß die junge Dame noch zu der Species der Backfische gehöre, obgleich über der ganzen Erscheinung schon der Zauber holdester Jungfräulichkeit lag.

Ich machte ein paar nicht sehr geistreiche Bemerkungen über den hübschen Garten und die Rosen, aber wie ich ein schelmisches Lächeln über das reizende Gesicht huschen sah, nahm ich mich zusammen und suchte, anknüpfend an eine seltene Pflanze in unserer Nähe, ihr ein kleines botanisches Privatissimum zu halten.

Sie hörte zwar aufmerksam zu, sah aber mit einem Ausdruck zu mir empor, daß ich sofort innerlich überzeugt war, ihr Litteraturlehrer in der ersten Klasse der höheren Töchterschule sei in sie verliebt. Ich wurde auf den Mann ordentlich eifersüchtig, denn die Litteratur ist entschieden ein ergiebigeres Feld als die Botanik. Indessen hatten wir uns auch in dieses trockene Studium so vertieft, daß ich zusammenschrak, als die Equipage des Medizinalraths am Gitter vorbeirasselte und Doktor Römer verwundert zu uns herüberblickte.

Schleunigst nahm ich nun Abschied, aber noch oft konnte man an schönen Sommerabenden die lange Gestalt eines Freiwilligen in der Weinlaube sitzen sehen und auch die privatissima wurden eifrig fortgesetzt.

Jahre sind vergangen. Der Herr Oberstabsarzt ist ganz sicher vor meiner Rache, vorausgesetzt natürlich, daß er nichts dagegen hat, mein Schwiegeronkel zu werden. –