Der Kaiser im Flügelkleide

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Autor: Johann Marmor
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Titel: Der Kaiser im Flügelkleide
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 7, S. 103-107
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1865
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[103]
Der Kaiser im Flügelkleide.
Von J. Marmor.

Wer bleibt wohl kalt, wenn er sich an die Tage seiner Jngend erinnert, an jene rosigen Tage voll warmen Sonnenscheins und hellen Lichtes, die nur auf Augenblicke durch trübe Wolken und rauhe Lüfte getrübt wurden? Wer gedenkt nicht mit süßer Wehmuth jener Hoffnungen eines immerwährenden Glücks, jener Pläne zur Beglückung der Menschen um sich herum, die man alle für gut und gleichgesinnt hält, weil man an sie den eigenen Maßstab legt? Wie zuckt das arme Herz zusammen, wenn es später das Leben kennen lernt und die meisten schönen Träume des warmen jugendlichen Blules wie Schäume zerfließen sieht!

Trotz aller dieser Täuschungen wird es aber Keiner bereuen, wenigstens einmal von einem Glück geträumt zu haben, nach welchem man im Leben vergeblich jagt. Wie glücklich sind diejenigen, welche in ihrer Jugend die Welt wie ein lachendes Eden ansehen konnten, und wie unglücklich Jene, denen das harte prosaische Leben jede Lust und Freude schon in der Knospe durch den vergiftenden Mehlthau des Kummers und der Sorgen erstickte! Mir war im Ganzen eine glückliche Jugend beschieden. Die frühere Zeit hatte das Gute, daß man die Jugend Jugend sein ließ und von der Blüthe nicht sogleich auch schon die Frucht erwartete. Mein Stiefvater, ein braver Mann, welcher mich wie seinen eigenen Sohn liebte, ließ mich gewähren und in den Freistunten mich mit meinen Gespielen nach Herzenslust herumtummeln. Unter denselben befand sich einer, welcher jetzt wie man zu sagen pflegt, die Geschicke der Welt in seinen Händen hat – der Kaiser Napoleon III., ehemaliger Prinz von St. Leu.

Nach dem Sturze Napoleon’s des Ersten war es der ehemaligen Königin von Holland, Hortensia Fanny Beauharnais, nicht mehr ganz geheuer in dem „schönen Frankreich“, und sie wünschte dasselbe so bald als möglich zu verlassen und nach der Schweiz zu ziehen, um dort in Muße sich der Erziehung ihrer beiden Söhne, Napoleon und Carl Louis Napoleon, zu widmen. Auf ihr Verlangen erhielt sie von Ludwig dem Achtzehnten einen Paß, mit dem sie am 17. Juli 1815 Abends um neun Uhr von Paris abreiste.

Ihre Reise brachte ihr Angenehmes, aber auch mannigfach Unangenehmes, je nachdem die Bewohner der von ihr berührten Gegenden dieser oder jener politischen Anschauung huldigten. Während nur das entschlossene Benehmen der österreichischen Schutzwachen sie und die Ihrigen vor Rohheiten der bourbonisch gesinnten Soldaten und Bevölkerung in Dijon schützte, warfen ihr die Napoleon ergebenen Bauern außerhalb der letzten Vorposten der Festungsmauern dieser Stadt Blumenkränze unter dem Rufe: „Es lebe der Kaiser!“ in ihren Wagen und sprachen ihr Bedauern aus, [104] daß die Guten fortgingen und die Schlechten zurückblieben. In Genf wollte sie bleiben, allein die Behörden gestatteten ihr nicht nur keine Niederlassung im Canton, sondern verlangten, daß sie schon am nächsten Morgen abreise. Nur den gewichtigsten Vorstellungen des Grafen von Voyna, Adjutanten des Fürsten von Schwarzenberg und Kammerherrn des Kaisers von Oesterreich, welcher ihr zum Schutze von Paris aus beigegeben worden war, verdankte sie noch eine Frist von einigen Tagen.

Auch in Aix in Savoyen, wo sie ein geräumiges Gehöft miethete, fand sie nicht lange Zuflucht. Die bourbonische Reaction im Süden Frankreichs gewann bald eine große Verbreitung und äußerte sich selbst durch Meuchelmorde an den Bonapartisten, welche man einer Verschwörung gegen die jetzige Regierung bezichtigte. Der österreichische General Pochemann, welcher die verbündete Macht in Lyon und den benachbarten Provinzen befehligte, ließ die Königin warnen, weil ihr und ihrer Söhne Leben bedroht wäre. Eine solche Nachricht war an sich schon geeignet, einen noch so schönen Aufenthaltsort zu verleiden; es kam aber überdies ein Ereigniß hinzu, um einen Wechsel desselben noch wünschenswerther zu machen. Ihr Gemahl, Louis Napoleon, verlangte seinen ältesten Sohn zurück. Die Mutter, welche mit größter Zärtlichkeit an ihren Kindern hing, gab nur mit blutendem Herzen nach, weil sie um das Leben desselben besorgt war. Dem jüngern Bruder zog die Trennung eine Gelbsucht zu, welche eine bedeutende Schwäche zur Folge hatte, von der er sich nur langsam erholte.

Aber auch die Königin litt furchtbar unter dieser Trennung und begann ernstlich zu kränkeln. Der Ort war ihr verleidet. Sie faßte denn einen raschen Entschluß und verließ die Stadt, welche sie immer und immer wieder an ihren großen Verlust erinnerte, am 28. November 1815. Bei ihrem Durchzuge und kurzen Verweilen auf dem Gebiete des Cantons Genf setzte sie die kleinen Herren desselben wieder in einen panischen Schrecken und veranlaßte sie zu höchst lächerlichen kriegerischen Vorkehrungen. In der Stadt Murten im Canton Freiburg jagte sie abermals den Behörden keine kleine Furcht ein, die sogar eine kurze Verhaftung zur Folge hatte. Von dort an kam sie ohne weitere Abenteuer durch die Schweiz und langte an der Grenze derselben, in Constanz am Bodensee, am Dienstag den 5. December 1815 an. Für’s Erste nahm sie ihren Aufenthalt im Gasthaus zum Adler an der Marktstätte, demselben behaglichen Wirthshause, dessen jetzt sinnig angeordneter und reich geschmückter glasbedachter Hof so manchem unserer Leser eine freundliche Erinnerung sein wird, und wandte sich sogleich an ihre Verwandte, Stephanie Louise Adrienne Beauharnais, Großherzogin von Baden, mit der Bitte, ihren Gemahl zu veranlassen, daß ihr der Aufenthalt in Baden gestattet werde, das allerdings zu denjenigen Ländern gehörte, in welchen den Mitgliedern der bonapartischen Familie nicht zu weilen erlaubt war. Die Antwort lautete verneinend.

Hortense war aber des flüchtigen Umherirrens müde und entschloß sich daher, von dem abschlägigen Bescheide keine Notiz zu nehmen und durch eine „vollendete That“, wie die Großen unserer Erde, die Sache zu Ende zu führen und alle weitern Erörterungen darüber abzuschneiden. Sie beauftragte deshalb ihren Hausverwalter, sich nach einer Wohnung umzuschauen, welche mit einer schönen Lage zugleich auch noch die nöthigen Räumlichkeiten vereinigte. Glücklicherweise liegt ganz in der Nähe der Stadt, nur ein paar Minuten östlich von der jetzigen Eisenbahnbrücke entfernt, in der Vorstadt Petershausen, hart am Rheine, ein größeres eingefriedigtes Gut, das neben Räumlichkeiten, welche wenigstens zur Noth dem kleinen Hof der Königin entsprechen konnten, noch hinreichend Platz zu Bewegungen und Spaziergängen und zugleich eine gewisse Abgeschiedenheit von der Welt darbot, wie sie dem Gemüzhszustand der Königin zusagen konnte. Das Gut hieß damals von seinem Besitzer, dem Handelsherrn Jos. Christoph Zumstein, das Zumstein’sche, wie heutzutage das Vincentische Gut.

Diesen Zufluchtsort miethete die Königin, bezog ihn am 4. Januar und richtete sich darin ein, so gut es gehen wollte. Sie bewohnte das dreistöckige Hauptgebäude, dessen Zimmer alle nach Westen gingen. Gegen Osten läuft ein Gang oder eine hölzerne Galerie der Länge des Hauses nach, worauf sich die Zimmer durch einen verschließbaren Vorplatz mittelst zweier Thüren öffneten. Der mittlere Stock wurde von Hortense und dem Prinzen Louis bewohnt, während den dritten die Hofdamen und die höhere Dienerschaft einnahmen. Das nun abgebrochene ehemalige Fabrikgebäude gegen Norden diente zur Beherbergung der niederen Diener und zu ebener Erde war die allgemeine Küche. Dies ward also die Stätte, wo eine gefallene Größe, oder vielmehr zwei, wenn man den Prinzen auch dazu rechnen will, sich auf deutschem Boden niederließen.

Für die Stadt Constanz war das Verweilen einer Exkönigin ein wirkliches Ereigniß, das ihre Bewohner mit einem gewissen Stolz erfüllte. Schon vom materiellen Standpunkte aus war der kleine Hof geeignet, der verarmten Stadt manche bisher unbekannte Vortheile zu bieten; die Leutseligkeit der Königin aber, verbunden mit der größten Freigebigkeit gegen Arme und Hülfsbedürftige, that das Uebrige, um ihr die Herzen zu gewinnen und ihr allgemeine Liebe und Hochachtung zu erwerben. Man erzählte sich manche schöne Züge von dem guten Herzen der Königin und ihres Sohnes, den man allgemein nur den Prinzen nannte. Wenn sie daher mit ihm ausfuhr, so entblößten sich alle Häupter, und die Grüße wurden ebenso herzlich entgegengenommen, wie sie gegeben wurden. War es ein Wunder, daß ich als zwölfjähriger, leicht erregbarer Knabe von dem allgemeinen Enthusiasmus für die vornehmen Verbannten angesteckt wurde und nähere Bekanntschaft, zwar nicht mit der Königin, aber doch mit dem Prinzen anzuknüpfen suchte? War ich doch einer seiner nächsten Nachbarn und konnte von meinem Hause aus ihn im Gute herumspringen sehen! Ueberdies waren wir im Alter nicht gar weit auseinander und mein Wunsch daher nichts gar so Thörichtes.[1]

Der Ausführung desselben standen aber manche Schwierigkeiten entgegen. So viel sah ich schon damals ein, daß ich mich dem Prinzen nicht so geradezu aufdrängen konnte; es bedurfte irgend eines Anlasses, mit ihm Bekanntschaft zu machen. Zum Unglück befand sich aber am Thorpfeiler des Gutes, welches durch ein hölzernes Gitter geschlossen werden konnte, die mir Furcht einjagende Inschrift: „Es wird Jedermann ersucht, der keine Geschäfte in diesem Gute hat, der Eingang zu meiden.“

Der Verfasser dieser Warnung, welcher mit dem Nominativ weit durch die Welt gekommen und den Accusativ gar nicht gekannt, mindestens nie gebraucht zu haben scheint, mein alter Zeichenlehrer Nikolaus Hug, der viel zur Königin kam und derselben manche Zeichnung machte, hat wohl nie daran gedacht, daß er mir durch sein unorthographisches Geschreibsel wie der Engel mit dem flammenden Schwerte vor dem Eingang in’s Paradies erschien.

Mein Sinnen und Denken war lange Zeit darauf gerichtet, irgend ein Mittel aufzufinden, in einer „Geschäftssache“ mit dem Prinzen bekannt zu werden. Ich sah so viele Leute, und darunter recht arme, in’s Gut gehen; aber freilich, die letztern betrachteten das Betteln als ein Geschäft und waren also nach dem Inhalt des Verbots zum Eintritt berechtigt. Vergeblich strengte ich allen mir damals zu Gebot stehenden Scharfsinn auf, das Zauberwort: „Sesam, thue dich auf!“ zu finden, welches mir, wie in Tausend und einer Nacht, das Paradies meiner Wünsche öffnen sollte. Ich zerarbeitete aber umsonst mein armes Gehirn; denn kein Buchstabe des benöthigten Wortes fiel mir ein. Da verfiel ich endlich auf die Association, welche heut zu Tage so große Wunder im gesellschaftlichen Leben bewirkt. Was der Eine nicht weiß, das weiß vielleicht der Andere, dachte ich und handelte rasch darnach. Ich hatte einen Jugendfreund von gleichem Alter. Nikolaus Gau mit Namen, den jetzt auch schon seit manchem Jahre die Erde in ihrem Schooße birgt. Er wohnte in Petershausen, dem Prinzen noch näher als ich, und war von der gleichen Begierde durchdrungen, denselben kennen zu lernen. Gemeinschaftlich machten wir uns nun an’s Werk und spannten unsere vereinten Kräfte zur Erreichung unseres Zieles an. So wenig uns sonst aber zu Jugendstreichen die Erfindungsgabe gebrach, so ließ uns dieselbe doch diesmal im Stich. Wir konnten kein Mittel finden, das mit einem Geschäfte auch nur die entfernteste Aehnlichkeit hatte, weshalb wir uns entschlossen, den gesetzlichen Weg an dem unorthographischen Verbot vorbei zu verlassen und auf Schleichwegen in das gelobte Land unsers heißesten Begehrens zu gelangen.

Es war an einem Sonntagsnachmittag im März des Jahres [105] 1816, als wir zur Ausführung unsers Vorhabens schritten. Der blaue Himmel schaute nach langem Winter freundlich auf die Erde herab, die Sonne verbreitete eine behagliche Wärme und lockte Schneeglöckchen und süßduftende Veilchen aus dem aufgethauten Boden, der an vielen Stellen schon grün zu werden begann. Wir rückten von der Nordseite, wo das Gut nicht eingeschlossen war, in dasselbe ein. Wie vorsichtige Jäger gaben wir uns gar nicht den Anschein, als ob wir nach einem bestimmten Ziele trachteten, sondern sprangen in Kreuz und Quer den Boten des Frühlings, dem großen Fuchs und einigen anderen Schmetterlingen, nach, welche die warmen Strahlen der Märzensonne aus ihren Winterquartieren gelockt hatten.

Allmählich steuerten wir, wie absichtslos, der Stelle zu, wo die Königin mit ihrem Hofstaate sich ebenfalls sonnte. Es war dies der Platz zwischen dem Nebengebäude und dem sogenannten Hänghause. Einige saßen auf einem hölzernen Canapee, Andere schlenderten plaudernd und scherzend auf und ab, und der Prinz trieb sich mit den Kindern des kleinen Hofes lustig auf der Wiese und den Wegen herum. Alles athmete so viel Lust und Freude, als ob die wohlthätige Himmelskugel auch das Eis um die Herzen gelöst und geschmolzen hätte.

Vorsichtig näherten wir uns dem fröhlichen Kreise, immer wie erfahrene Feldherren darauf bedacht, uns den Rückweg offen zu halten, mit auf die Schnelligkeit unserer Füße vertrauend. Schüchtern, wie wir waren, suchten wir die Aufmerksamkeit der Kinder auf uns zu ziehen und uns nach und nach bescheiden in ihre Spiele zu mischen. Unsere Absicht gelang uns wider alles Erwarten ausgezeichnet gut, da Kinder noch keine selbstischen Zwecke verfolgen und nur in der Verallgemeinerung des Vergnügens ihre Freude haben. Es war noch keine Viertelstunde vergangen, so spielten wir Alle zusammen, als ob wir alte Bekannte wären. Wir waren so glücklich, wie man es in der Jugend sein kann, wenn man einen seiner kindlichen Wünsche erreicht hat, nach dessen Erfüllung das Herz sich schon lange gesehnt. Wenn aber der Mensch am glücklichsten ist, so darf er fast sicher sein, daß das Geschick ihm bald einen Streich spielen und ihn aus seinem geträumten Himmel unsanft auf die Erde herabwerfen werde. Auch uns erging es so. Plötzlich stand der Handelsherr Zumstein, ein alter, grämlicher und kränklicher Mann, wie ein vom Himmel gefallener Meteorstein, in unserm Kreise und riß ihn erbarmungslos auseinander. Er wies uns aus seinem Gute fort, und wir waren schon im Begriffe, mit einem schmerzlichen Blicke auf unsere Spielgefährten, wie Adam und Eva das Paraties zu verlassen, als sich die Scene auf einmal zu unserm Besten wendete.

Der Prinz, welcher eingesehen haben mochte, daß eine Vergrößerung der Zahl seiner Spielgefährten ihm manches Vergüngen verschaffen könnte, welches er bisher entbehren mußte, wandte sich an seine Mutter mit der Bitte, daß wir bleiben dürften. Die schöne Frau hatte Mitleiden mit unserer Gemüthsverfassung, welche sie uns aus dem Gesichte lesen konnte, und entschied nach einem prüfenden Blicke auf uns, die wir in unserm Sonntagsstaate keine üble Figur spielen mochten, zu unsern Gunsten.

Von da an waren wir die täglichen Spielcameraden des Prinzen, worauf wir uns nicht wenig zu gut thaten. Er sprach zwar damals nur noch wenige Worte Deutsch; da wir aber schon Unterricht im Französischen genommen hatten, so konnten wir uns gegenseitig verständigen, und wenn uns beiderseitig die Worte gebrachen, so mußten Pantomimen unsere Gedanken verdolmetschen. Mit der Zeit lernte aber der Prinz von uns spielend deutsch, so daß es der Zeichensprache bald nicht mehr bedurfte.

An Platz zu allen möglichen Knabenspielen fehlte es in und außer dem Hause nicht. War es gutes Wetter, so jagten wir uns im ganzen Gut umher; bei Regenwetter rumorten wir in den Zimmern des Prinzen und auf dem Gange herum und verführten oft einen so höllischen Lärmen, daß es mich schon damals oft wunderte, daß man uns so frei gewähren ließ. Nur wenn die Königin unwohl war, wurden wir aus ihrer Nähe verbannt.

Die zwei Zimmer, welche der Prinz bewohnte, lagen im nördlichen Theile des Hauses und waren von denen seiner Mutter nur durch einen schmalen Gang getrennt. Im ersten, in welches man vom Gang und der Stiege aus durch einen verschließbaren Vorplatz gelangte, befand sich an der Decke in Stuccaturarbeit ein großes Wappen, welches oftmals unsere Neugierde erregte. Erst viel später erfuhr ich, daß es das Wappen der Grafen von Königsegg-Aulendorf sei, die noch in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts den Hof besessen hatten.

Von allen Spielen gefielen dem Prinzen diejenigen am besten, welche mit tüchtigen Leibesübungen verbunden waren und etwas Kriegerisches an sich hatten. Wir folgten daher, wie jetzt noch Millionen, dem äußerst melodischen Klange der Trommel, welche unser hoher Camerad selbst meisterlich bearbeitete, während er zugleich noch nebenher seine Armee als Officier commandirte. Mit vielem Selbstgefühl und militärischem Anstande zogen wir mit Papiermützen, auf denen eine große Hahnenfeder prunkte, und mit Gewehren aus Rebstöcken, die, oben eingespalten, durch ein Hölzchen auseinander gehalten und entladen werden konnten, unserm Führer nach durch Dick und Dünn, wie es ehrlichen Soldaten geziemt. An unsern Spielen pflegte meist der Sohn der Amme des Prinzen, welche von Allen im Hause sehr geachtet und geliebt wurde, der junge Bure, Antheil zu nehmen. Louis nannte ihn seinen Milchbruder und hielt große Stücke auf ihn. Da ich um die Bedeutung des Wortes fragte, das mir ganz fremd war, so lachten Beide mich herzlich aus, erklärten es mir aber dennoch.

Bei diesen unsern kriegerischen Uebungen, die selten ohne kleinere oder größere Beulen abliefen, kam indeß einmal ein anderer Unfall vor, an welchem ich schuldlos die Schuld trug. Ich hatte nämlich das Unglück bei der Erstürmung der hölzernen Wiesenplanke, die unsere Festung vorstellle, als ich als einer der Belagerer mit meiner Waffe eben zu einem Hauptstreiche ausholen wollte, das Töchterchen der Hofdame Cochelet,[2] das sich zum Zuschauen hinter mich gestellt hatte, auf den Mund zu treffen. Das Kind, dessen Lippen arg bluteten, schrie jämmerlich und seine mit der Königin unserm Knabenspiele zuschauende Mutter kam mit den Worten „Marsch“ und „Fort“ – dem fast einzigen Deutsch, das sie verstand – in vollem Zorne auf mich losgesteuert. Weiter brauchte ich aber auch nichts mehr, um aus ihren unzweideutigen Pantomimen zu begreifen, daß es trotz der freundlichen Worte des Prinzen: „macht nix, macht nix!“ das Gerathenste sei, mich für diesmal aus dem Staube zu machen.

Fast acht Tage lang floh ich das Gut, trotz aller Bitten des Prinzen doch wieder zu kommen. Endlich erwischte mich die besänftigte Mutter, welche sich von meiner Unschuld überzeugt haben mochte, und lud mich selbst wieder ein. Das von mir angerichtete Unheil war nicht so groß, wie ich mir vorgestellt hatte, es bestand nur in einer oberflächlichen Abschieferung der Haut an den Lippen, welche durch ein etwas ungewöhnliches Mittel geheilt wurden, ein Mittel, wie es nur die Landleute bei derartigen leichten Wunden anzuwenden pflegen.

Natürlich ging es unter uns zu Zeiten nicht ohne Zank und Streit ab, und die Folge davob war, daß ich meinen vornehmen Cameraden einige Tage nicht besuchte. Gemeiniglich war er dann der erste, welcher die Hand zur Versöhnung bot. Ich durfte sicher sein, daß am zweiten oder längstens am dritten Tage nach meinem Ausbleiben der Verwalter Rousseau, ein braver Mann, welcher mit schwärmerischer Liebe und Ergebenheit an der königlichen Familie hing und das Deutsche noch am besten radebrechte, bei mir erschien und mich im Namen des Prinzen wieder zu kommen bat, was ich dann auch sogleich ausführte. Dabei fehlten nie kleine Geschenke, wodurch mich der Letztere zu ködern suchte.

An regnerischen Tagen trieben wir aber manchmal auch stillere Beschäftigungen. Der Prinz hatte schöne Bilderbücher, die wir gemeinschaftlich durchsahen und öfters theilweise durchlasen. Er war damals über acht Jahre alt und seine Schule hatte schon länger begonnen. Seine Mutter übernahm selbst einen Theil des Unterrichts; sie las ihm in den Abendstunden manches geeignete Buch vor und unterwies ihn im Zeichnen, Tanzen und andern schönen Künsten. Außerdem hatte der Prinz verschiedene Lehrer, die im Hause selbst wohnten. Schon länger leitete ein Abbé, Namens Bertrand, den Unterricht. Die ungemeine Lebhaftigkeit oder Rastlosigkeit des Prinzen machte es dem guten Manne aber sehr schwer, den Schüler zu einiger Ordnung und zum Lernen zu bringen, obgleich dessen Fassungskraft eine schnelle war. Die verständige [106] Mutter sah wohl ein, daß der Abbé nicht allein der Mann war, den feurigen Knaben zu zügeln. Sie übergab ihn daher einem strengern Lehrer, ohne Bertrand deshalb zu entlassen. Dieser neue Lehrer war ein gewisser Herr Lebas, ein Mann von vielem Verdienste und großer Gelehrsamkeit, welcher in späterer Zeit Professor der griechischen Sprache am Pariser Athenäum wurde. Sein Vater[3] war ein eifriger Republikaner aus der Schule Robespierre’s und erschoß sich nach der Hinrichtung des Letztern, weil er es für eine Schande hielt, ihn zu überleben.

Nur selten erschien dieser Herr Lebas, eine Gestalt von nicht gar großem Wuchse, schlank, mit ziemlich stark geröthetem Gesichte, das im Zorne noch röther wurde, und weißen Haaren; wenn er jedoch kam, so galt sein Erscheinen als das sicherste Anzeichen eines Gewitters, das mit Schlägen und Thränengüssen endigte. Wir kannten ihn nur unter dem Namen Abbé. So lange der Prinz Freistunden hatte, kümmerte er sich sehr wenig um dessen Treiben; nahte aber die Stunde des Unterrichts und kam der Prinz nicht sogleich, wenn ihn dessen Kammerdiener Cailloux, ein freundlich-ernster Mann, dazu aufforderie, so zeigte sich das flammend rothe Gesicht des Abbé’s, aus dem zwei feurige Augen unheimlich leuchteten. Die Worte sprudelten ihm alsdann so schnell über die Lippen, daß wir beiden Deutschen nur das öfters wiederholte „Monsieur le Prince“ verstehen konnten. Wollte der „gnädigste Prinz“ sich über sein Ausbleiben entschuldigen, so schwoll dem Zürnenden die Ader auf der Stirn so stark, daß sie zu bersten drohte, und dann fielen die Ohrfeigen fast noch schneller, als vorher die Worte. Heulend suchte Louis den Schlägen zu entrinnen, und wir machten uns unsererseits ebenfalls schnell auf die Beine, weil wir befürchteten, die Reihe möchte nun an uns kommen.

Die Soldaten- und Turnspiele beschäftigten uns aber nicht immer; wir lagen zeitweise auch den Geschäften des Friedens ob, besonders nahmen uns Fischerei und Krebserei, sowie allerhand mechanische Hantirungen öfters in Anspruch. Fast jeder Tag brachte uns denn ein neues unschuldiges Vergnügen und Abwechselung in unsere Spiele. Wir waren zu glücklich, als daß wir nicht die Tücke des neidischen Schicksals hätten gleichsam herausfordern sollen. Nur zu bald sollten wir jedoch an uns selbst erfahren, daß hier unten auf dem verkrusteten Feuerballe, den wir Erde nennen, das Glück nur wie ein Zugvogel vorübergehend erscheint.

Die Königin hatte im Sinne, mit ihrem Bruder Eugen von Beauharnais, Herzog von Leuchtenberg, das markgräfliche Schloß Petershausen sammt den dazu gehörigen Gütern, wozu der sogenannte Lorettowald gehört, zu kaufen. Sie schickte zu diesem Zwecke einen Bevollmächtigten in der Person eines hiesigen Kaufmanus Delisle an den Großherzog Ludwig nach Carlsruhe. Wie man allgemein sagt, hatte letzterer für die Herrschaft einmalhunderttausend Gulden gefordert, wogegen der Beauftragte nur neunzigtausend Gulden geben wollte. Der Großherzog soll kurz abgebrochen und seine Antwort auf den folgenden Tag versprochen haben. An diesem soll auch wirklich eine solche erfolgt sein und gelautet haben: die Herrschaft werde jetzt um keinen Preis mehr verkauft.

Als diese Nachricht in’s Publicum drang, war dasselbe sehr aufgebracht über den Bevollmächtigten, da man den Kaufpreis allgemein für nicht zu hoch hielt.[4] Es wurde dies aber noch in einem um so höhern Grade, als man bald vernahm, daß die Königin im Aerger über ihr vereiteltes Unternehmen von Constanz fortzuziehen beabsichtige. Ein solcher Entschluß war nicht geeignet, die Einwohnerschaft zu beruhigen, besonders in Jahren wie 1816 und 1817 waren, wo Überschwemmungen und hohe Preise aller Lebensmittel das Elend der an sich nicht wohlhabenden Bevölkerung noch bedeutend erhöhten. Man kannte die Wohlthätigkeit der königlichen Familie und versprach sich von derselben Minderung der Noth; auch rechnete man für die Zukunft auf vielen Verdienst bei den nöthigen Bauten im Schloß und erwartete von dem Glanze zweier kleiner Höfe keine geringe Hebung des Wohlstandes.

Zuletzt mußte man sich aber in’s Unvermeidliche fügen. Die Königin hatte Augsburg zu ihrem Aufenthaltsort gewählt, angeblich, weil die Schulen jener Stadt ausgezeichnet gewesen sein sollen. Am 6. Mai 1817 reiste sie ab. Die Trennung vom Prinzen war der zweite größte Schmerz meines Lebens; der erste war der frühe Tod meines guten Vaters gewesen. Ich hatte mit dem größten Theile des Hofstaates auf sehr freundlichem Fuße gestanden, weil man wußte, daß der Prinz mich recht gern hatte. So waren mir der Kammerdiener der Königin, Charles Tallé, welcher später in gleicher Eigenschaft zum Prinzen kam und demselben zur Flucht aus Ham vorzugsweise mit verhalf, sowie der Kutscher Florentin, welcher erst vor wenigen Jahren auf dem Schloß Arenenberg starb, sehr zugethan. Mit der Königin selbst kam ich, meines Wissens, nie in unmittelbare Berührung; denn was sollte sie auch mit einem zwölfjährigen Knaben sprechen? Ueberdies war ich damals viel zu schüchtern, als daß ich mich mit ihr zu reden getraut hätte, wenn sie selbst dies hätte thun wollen. Mit einer ehrfurchtsvollen Scheu betrachtete ich sie in ihrer vornehmen Schönheit und Anmuth nur von Weitem und war schon glücklich genug, wenn sie mir einmal zulächelte.

Ich könnte nun hiermit meine Jugenderinnerungen schließen, da mit der Abreise des Prinzen dieselben ihr Ende erreicht hatten. Zur Abrundung des Ganzen will ich aber noch kurz erzählen, was mir selbst oder Andern begegnet ist und was ich meist selbst mit angesehen habe.

Der Prinz war nur wenige Monate in Augsburg, als ich Gelegenheit hatte, ihm durch einen bekannten Mann einen von mir in französischer Sprache geschriebenen Brief zuzuschicken. Ich schilderte ihm darin in einfacher und offener Sprache meine Sehnsucht nach ihm. Er schrieb mir zwar nicht selbst, wenigstens erhielt ich keinen Brief von ihm, schickte mir aber viele freundliche Grüße und zugleich ein hübsches Geschenk. Dasselbe besteht in einem äußerst zierlich gearbeiteten kleinen goldenen Helm mit einem geflügelten Drachen oben und einem verschließbaren Visir. Mittels eines Ringelchens konnte er als Berloque an die Uhrkette gehängt werden. Glücklicherweise bin ich noch im Besitze dieses werthvollen Andenkens.

Unterdessen hatte die Königin das Schloß Arenenberg im Thurgau, zwei kleine Stunden westlich von Constanz erkauft und dasselbe herrichten lassen. Ich möchte nicht sagen, verschönern, denn das Schloß mit seinen Zinnen und seiner von vier Rundthürmen überragten Umfassungsmauer, ein Stück Mittelalter, hatte mir viel besser gefallen, als der charakterlose Neubau. Als er fertig war, bezog ihn die Königin mit dem Prinzen und ihrem Hofstaat. Ich bekam aber den Ersteren viele Jahre nicht mehr zu sehen, und als ich ihn wieder erblickte, erkannte ich ihn fast nicht mehr, so sehr hatte er sich verändert. Aus dem zarten Knaben mit dem schönen und milden Gesichtchen war ein Mann geworden, der auf nichts weniger als auf Schönheit Anspruch machen konnte. Es kam mir vor, als sei die Veränderung seiner äußern Person, wie an seinem Schloß, keine Verbesserung zu nennen.

Universitätsstudien, Reisen und Berufsgeschäfte einfernten uns räumlich und zeitlich von einander. Der Prinz hatte sich in den Jahren 1830 und 1831 in die italienische Verschwörung verwickelt, der sein Bruder zum Opfer fiel, während er selbst diesem Loose nur schwer entrann. Von dort an träumte er wohl seinen Kaisertraum und suchte mit allen Mitteln den Thron Frankreichs zu erlangen, welchen ihm der Onkel zugesagt hatte und auf den er ein vollkommenes Recht zu haben glaubte. Es ist daher begreiflich, daß er bei solchen Bestrebungen keinen Sinn mehr hatte für die glücklichen Tage seiner Kindheit, die mit all ihren Freuden schon allzuweit hinter ihm lagen. Ich muß jedoch zur Steuer der Wahrheit sagen, daß er mich als seinen Spielcameraden immer sehr freundlich und zuvorkommend behandelte, so oft wir uns trafen, was jedoch nicht häufig geschah.

Als im Jahre 1834, vorzugsweise durch meine Bemühungen, ein Bürgermuseum in Constanz erstand, wurde er auf meinen Vorschlag zum Ehrenmitglied der Gesellschaft ernannt, wofür er sich in einem Schreiben an dasselbe, sowie an mich, bedankte. Mehreren Bällen des Museums wohnte er bei und ich mußte immer an seinem Tische Platz nehmen. Seine Wohlthätigkeit war die alte, was Stadt und Land bezeugen könnte. Oft machte er sich das Vergnügen, ganzen Schaaren von Buben, die seiner schon lange auf der Stiege des Theaters warteten, den Eintrittspreis auf das sogenannte Chörle zu bezahlen. Da er meistens erst nach Beginn [107] des Stückes kam, so verkündete ein gewaltiges Jubeln und Trampeln der wilden Horde schon zum Voraus seine Ankunft.

Die spätern Schicksale des Prinzen sind aller Welt bekannt; weniger bekannt dürfte aber sein, daß dem braven Hausmeister Rousseau, einem Franzosen aus der Napoleon’schen Zeit vom Scheitel bis zur Zehe, einige Tage nach dem Empfange der Nachricht, daß der Prinz bei seiner versuchten Landung in Boulogne gefangen worden sei, das treue Herz brach.



  1. Ludwig Napolen wurde am 20. April 1808 geboren, welches Ereigniß Kanonendonner der Bevölkerung von Paris verkündete. Erst am 14. November 1810 aber ward er zu Fontainebleau von seinem Großonkel, dem Cardinal Fesch, getauft.
  2. Die Hofdame Cochelet erkaufte später das im Sommer 1834 abgebrannte Schloß Sandegg, welches sie nachher dem Herzog Eugen von Leuchtenberg wieder abtrat. Sie heirathete den ehemaligen französischen Oberest Parquin, den Besitzer des Schlosses Wolfsberg, eine der Hauptpersonen im Straßburger Drama. Ihre Tochter, der oben gedacht ist, soll in Mannheim noch verheirathet leben.
  3. Derselbe Lebas, von dem, durch ein eigenthümliches Zusammentreffen, erst in voriger Nummer der Artikel „In der Höhle des Löwen“ erzählt hat.
    Die Redaction.
  4. Die großherzoglich markgräflich badische Domänen-Kanzlei verkaufte im Jahre 1851 an’s großherzogliche Kriegsministerium das Schloß mit allen baulichen Zugehörungen, den Gärten und Wällen um dieselben herum, mit Ausschluß des Lorettowaldes, der Reben, Felder etc. um fünfundsiebzigtausend Gulden.