Der Klageschrei

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: Rudolf Lindau
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Der Klageschrei
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 13–15, S. 212–215, 230–232, 252–256
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1896
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite
[212]

Der Klageschrei.

Eine türkische Geschichte von Rudolf Lindau.


Ali Bey war eine beliebte und gleichzeitig gefürchtete Persönlichkeit am Hofe des Sultans, wo er den Titel eines Geheimschreibers führte und die Aufgabe hatte, den Großherrn zu zerstreuen und zu erheitern. Er war klein und häßlich, mit hoher Brust, mächtigen Schultern, krummen Beinen, und er besaß die Kräfte eines Riesen. Wer sein großes flaches Gesicht, in dem alles breit war: Stirn, Nase, Mund, Kinn – einmal gesehen hatte, konnte es nicht wieder vergessen, aber nicht allein wegen seiner Häßlichkeit, sondern weil aus Ali Beys schönen dunkeln Augen Herzensgüte so unverkennbar leuchtete, daß man sich seiner gern erinnerte; selbst die Kinder kamen vertraulich zu dem unförmlichen Zwerge und ließen es sich gefallen, daß er ihnen mit seinen kurzen dicken Händen über das weiche Haar strich.

Ali Bey sah den Sultan zu jeder Stunde des Tages, häufiger als alle andern Beamten, und erfreute sich in vollem Maße der Vorrechte eines Hofnarren. Die Kunst, die er hauptsächlich übte und in der er es zu großer Meisterschaft gebracht hatte, war die, andere Personen darzustellen in Gang und Bewegungen, Haltung des Hauptes, Blick, Sprache und Stimme. Zwar waren es immer nur Zerrbilder, die er zeigen konnte, aber stets von sprechender Aehnlichkeit, so daß derjenige, der unfreiwillig dazu gesessen hatte, sogleich von allen erkannt wurde. – Eines Tages beging der sonst so kluge Ali Bey eine große Thorheit. Er wagte es, die Stimme und Gebärde des Sultans nachahmend, einem Diener einen Befehl zu erteilen. Dies wurde dem Padischah von einem geheimen Feinde Ali Beys hinterbracht, und da der Sultan an demselben Tage unerfreuliche Nachrichten vom Kriegsschauplatze empfangen hatte, infolgedessen übler Laune war und sich nicht die Mühe geben wollte, dies zu verbergen, so ließ er an Ali Bey seinen Unwillen aus. Mit harten Worten verbannte er ihn aus seiner Nähe und vom Hofe: „Geh zum Scharfrichter und laß Dir von ihm den Strick geben, an dem Du gehängt zu werden verdientest. Meinetwegen magst Du damit die toten Hunde von den Straßen in das Meer schleifen. Es ist ein ehrlicheres Handwerk als das eines elenden Spaßmachers.“

Ali Bey begab sich geradeswegs zum Henker des Palastes. „Hast Du einen Befehl erhalten, der mich betrifft?“ fragte er.

„Ich sollte Euch hängen, Bey. Alles war bereits zu Eurer Hinrichtung vorbereitet. Dann, vor einer Stunde etwa, kam ein Gegenbefehl: Effendimis hätten Euch begnadigt. – Allah schenke Euch ein langes Leben, Bey!“

„Der Sultan hat befohlen, Du sollest mir den Strick geben, der zu meiner Hinrichtung bestimmt war.“

„Hier ist er, Bey!“ sagte der Scharfrichter und überreichte dem Zwerg einen langen starken Strick aus Hanf.

Ali Bey prüfte ihn aufmerksam. „Würde das Seil nicht zerrissen sein?“ fragte er. „Ich bin ein schwerer Mann.“

„An dem Seile könnten zehn von Eurem Gewicht hängen, es würde nicht zerreißen. – Ich bin sorgfältig in der Wahl meines Handwerkszeuges.“

„Das ist gut,“ sagte der Bey. Darauf machte er dem Henker ein Geldgeschenk und entfernte sich. Er ging aber nicht nach Hause, sondern suchte seinen jüngeren Bruder Namens Nassuch Haga auf, der, wennschon er nur den Rang eines Hauptmanns bekleidete, die Seele der geheimen Polizei von Stambul war. Nassuch Haga hatte dieselben schönen treuen Augen wie Ali; im übrigen glich er diesem aber gar nicht, denn er war ein großer, stattlicher Mann, edel von Angesicht. Nassuch Haga liebte seinen Bruder und war tief betrübt, als dieser ihm erzählt hatte, er sei in Ungnade gefallen. „Was beabsichtigt Ihr fortan zu thun?“ fragte er. „Mein Haus ist das Eure, das wißt Ihr.“

„Ich werde in meinem Konak bleiben,“ antwortete Ali Bey, „ich bin mit Geldmitteln reichlich versehen … Was ich thun werde? – Vorläufig mich gedulden, bis Anzeichen vorliegen, daß der Unmut des Großherrn sich gelegt hat. – Aber ich habe Dir noch etwas Besonderes zu sagen.“

„Sprecht, Bey!“

„Sollte Dir von Deinen Leuten hinterbracht werden, daß ich mich am Seraï-burnu[1] aufhalte und mich gelegentlich damit beschäftige, ein Boot um die Spitze zu ziehen, so wundere Dich nicht darüber.“

„Weshalb wollt Ihr Euch mit so harter Arbeit quälen, um wenige Para zu verdienen?“

„Der Sultan hat mir ein Seil geschenkt. Damit sollte ich fortan meinen Lebensunterhalt verdienen. Er meinte, es würde mir gute Dienste leisten, um tote Hunde von der Straße in das Meer zu schleifen. Er hat mir aber in dieser Beziehung keinen bestimmten Befehl gegeben, und ich will es lieber benutzen, um Schiffe und Boote durch den Strom zu ziehen.“

Ali Bey sagte dies mit der ernsten Miene, die er niemals ablegte, auch wenn er scherzte. Nassuch Haga glaubte, dies sei jetzt wieder der Fall. Die Achtung vor dem ältern Bruder, die er nie beiseite setzte, nötigte ihn jedoch, sich den Anschein zu geben, als ob er Alis Worten Glauben beimesse. „Ich danke Euch für die Mitteilung, Bey,“ sagte er. „Meine Leute werden Euch bei Eurer Beschäftigung nicht stören, ja, wenn Ihr es wünscht, zu Euren Diensten sein.“

Auf dem Wege nach seiner Wohnung kaufte Ali den groben Anzug eines gemeinen Hafenarbeiters und als solcher fand er sich am nächsten Morgen am Seraï-burnu ein.

Wer diesen Punkt einmal gesehen hat, kann ihn nicht wieder vergessen, denn er ist von großer Schönheit, lieblich und erhaben zugleich. Ali Bey ließ sich auf dem grünen Rasen des Ufers nieder und lange Zeit ruhten seine Augen nachdenklich und teilnahmlos auf den sanft bewegten Wassern des schwarzblauen Meeres; [213] dann schweiften sie hinüber nach Skutari, Kadikeuy und Moda, wo bunte Häuser, weiße Moscheen und Minarets und dunkle schlanke Cypressen sich gegen den klaren Morgenhimmel abzeichneten. In der Ferne erkannte er die schönen Umrisse der dicht bewaldeten Prinzeninseln, und seine Augen folgten den zahllosen großen und kleinen Fahrzeugen, die sich in lautloser Stille kreuzten, die hohe See suchten oder, vom Schwarzen Meere kommend, den Bosporus herunter, dem „Horn“ zusteuerten. In den Lüften wiegten sich silbergraue Möwen und mächtige dunkle Weihen. Es war ein Bild erhabener Ruhe und es leuchtete Frieden in die Brust des armen Zwerges, der den Sultan uneigennützig geliebt und die strenge Behandlung, die ihm zu teil geworden war, schmerzlich empfunden hatte.

In der Nähe des Ufers schaukelte sich ein kleines Fischerboot, das Ali Bey bisher noch nicht beachtet, das aber, als er es erblickt hatte, seine Aufmerksamkeit fesselte. Der Insasse desselben war ein Jüngling von etwa achtzehn Jahren, dessen Aussehen und Wesen dafür sprachen, daß er das schwere Gewerbe der Fischerei, wennschon er dabei sachverständig zu Werke zu gehen schien, nur zu seinem Vergnügen betreiben könne. Sein Gesicht, von großer Anmut, war heller als das der gewöhnlichen Fischer, und weiß glänzten in der Sonne seine wohlgeformten nackten starken Arme. Alle Bewegungen des jugendlichen Körpers waren edel und frei.

Diesem Jüngling war vor einer Woche ein sonderbares Begebnis zugestoßen. Als er sich, gegen Sonnenuntergang, über den Bord seines kleinen Fahrzeuges beugte und mit großer Kraftanstrengung das schwere Netz heraufzog, flog ein von sechs Ruderern getriebener schmaler Kaïk an ihm vorüber, in dem vier dicht verschleierte Damen und zwei schwarze Haremswächter saßen. Der junge Fischer hob den Kopf einen Augenblick, beugte sich dann aber sogleich wieder zu seiner Arbeit, denn es war ihm zur zweiten Natur geworden, dem Gesetze zu gehorchen, das dem Gläubigen verbietet, eine fremde Frau dreisten Blickes anzuschauen. – Er hatte einen guten Fang gethan. In dem Netze, das er in das Boot gezogen, wimmelte es von silberschuppigen und roten großen und kleinen Fischen. Er packte sie sorgfältig in einen Korb, der neben ihm stand, legte das Netz kunstgerecht zusammen und ruderte sodann ans Ufer, wo er oberhalb des Sommerpalastes an einem kleinen Landungsplatze für Fischerboote anlegte und ausstieg. Er hatte soeben sein Fahrzeug an einer kurzen Kette befestigt, den schweren, mit Fischen gefüllten Korb auf die Schulter geschwungen und schickte sich an, das Ufer zu verlassen, als ein schwarzer Haremsdiener auf ihn zutrat.

„Folge mir!“ sagte der Neger. „Ich habe einen Käufer für Deine Fische.“

„Ich verkaufe meine Fische nicht,“ antwortete der junge Mann und wollte seinen Weg fortsetzen.

„So folge mir dennoch!“ sagte darauf der Schwarze. „Einer vornehmen Dame verlangt’s danach, von Deinen soeben gefangenen Fischen zu genießen. Du wirst nicht ungefällig sein wollen.“

Darauf mochte der Jüngling keinen abschlägigen Bescheid geben. Er wandte sich um und bedeutete den Neger, daß er ihn [214] begleiten werde. Dieser schritt voran und machte bald vor einer schmalen Thüre Halt, die in der Mauer angebracht war und Eingang zu dem Blumengarten des Harems gewährte. Dort verschwand der Diener, die Pforte hinter sich schließend; aber nach wenigen Minuten wurde diese ein wenig geöffnet, und der Fischer erblickte eine junge weiße, verschleierte Sklavin, deren dunkle Augen sich freundlich auf ihn richteten.

„Wir bemerkten Dich soeben, als Du Dein Netz aufzogst,“ sagte die Sklavin; „es schien viele Fische zu enthalten. Würdest Du uns einige davon überlassen?“ Und damit reichte sie dem Jüngling einen kleinen Korb aus feinem Geflecht.

„Gern thue ich das,“ antwortete der Fischer. Er wählte aus seinem Vorrat die besten und schönsten Fische, füllte das Körbchen damit und reichte es der Dienerin zurück.

„Hab’ Dank!“ sagte diese. „Und hier … nimm Deinen wohlverdienten Lohn!“ Sie streckte die Hand aus und wollte dem jungen Fischer ein Goldstück geben. Der aber machte eine artig abwehrende Bewegung und sagte: „Es freut mich, Euch gefällig sein zu können; aber ich treibe keinen Handel und kann deshalb die Gabe, die Ihr mir anbietet, nicht nehmen.“

„So bist Du kein Fischer?“

„Ich bin ein Freund vom Fischfang und habe mich fleißig darin geübt, aber ich betreibe ihn nicht als Gewerbe.“

Die Sklavin dachte einige Minuten nach, dann wandte sie sich wieder zu dem Jüngling. „Es wäre unschicklich, Dir einen Lohn aufdringen zu wollen; aber Du mußt uns ermöglichen, unsere Erkenntlichkeit auszudrücken für das Geschenk, das Du uns so artig machst und das wir annehmen. Darum bitte ich Dich, sei morgen nachmittag, eine Stunde vor Sonnenuntergang, an dieser selben Stelle. Dann werden wir uns wiedersehen. Und wenn Du uns einige von Deinen schönen Fischen mitbringen willst, so sollen sie mit Dank angenommen werden … Willst Du mir Deinen Namen nennen?“

„Ich heiße Murad.“

Am nächsten Tage war der junge Fischer zur bestimmten Stunde an der kleinen Thür des Blumengartens. Nachdem er sich dem Schwarzen, der dort Wache hielt, gezeigt hatte, ging dieser davon, um bald darauf in Begleitung der Sklavin zurückzukehren. Sie begrüßte Murad wie einen guten Bekannten und nahm mit freundlichem Dank einen kleinen Korb entgegen, der zwischen frischem Gras und grünen Blättern eine Auswahl schöner Fische enthielt. Dann übergab sie Murad eine kleine Schachtel aus Silber. „Dies zum Dank für Deine Gefälligkeit,“ sagte sie dabei. „Hoffentlich ist es Dir nicht unbequem,“ fügte sie hinzu, „uns auch in Zukunft mit Deinen Fischen zu versorgen. Uns würdest Du damit eine Freude machen. Ich werde Dich morgen und während der folgenden Tage zu dieser Stunde hier erwarten.“

Die silberne Schachtel enthielt einen kostbaren Ring, dessen Wert Murad jedoch nicht zu schätzen wußte. Da er zu klein für seine Hand war, so steckte er ihn in seinen Gürtel.

Die täglichen Zusammenkünfte zwischen dem Fischer und der Sklavin dauerten seit einer Woche. Während dieser Zeit hatte Murad noch zwei andere Geschenke erhalten: eine Pfeifenspitze aus Bernstein mit Edelsteinen verziert und eine seidene Schärpe. Murad, der weder habgierig noch eitel war, beachtete diese Sachen nur wenig. – „Ihr seid zu gütig,“ sagte er der Sklavin beim Empfang des dritten Geschenkes. „Eure Freigebigkeit macht mich verlegen. Ich bitte, setzt derselben Schranken! Sie vermindert allzusehr den schon so geringen Wert der Gefälligkeit, die ich Euch erweise; diese gleicht nun beinahe einem vorteilhaften Geschäft, das ich mache; doch möchte ich, daß mein einziger Verdienst wäre, Euch Freude zu bereiten.“

Die Sklavin war erstaunt, den jungen Fischer so gewandt sprechen zu hören. „Ich wünschte,“ sagte sie, „daß meine Freundin Dich hörte. Vielleicht wird sie mich nächstens begleiten.“

Es war am Morgen nach dieser Unterhaltung, als Ali Bey die Schönheit und Gewandtheit des jungen Fischers zuerst bemerkte. Als dieser ans Land stieg, begrüßte ihn der Zwerg mit freundlichen Worten.

Wenn man Ali Bey in die Augen gesehen hatte, so vergaß man seine Häßlichkeit und erkannte, daß man es mit einem guten und traurigen Menschen zu thun hatte. Murad antwortete auf den Gruß des Zwerges mit großer Höflichkeit und ließ sich bereitwillig in eine Unterhaltung mit ihm ein. Im Verlauf derselben sagte er, es wäre seine Absicht, im Laufe des Nachmittags wiederzukommen und bis gegen Sonnenuntergang zu fischen.

„So werden wir uns wohl in einigen Stunden wieder treffen,“ antwortete Ali Bey, und damit trennten sich die beiden. Ein jeder nahm eine freundliche Erinnerung an den andern mit auf den Weg.

Ali Bey begab sich vom Seraï-burnu zu seinem Bruder Nassuch Haga, dessen Mahl er teilte. Nach dem Essen sagte Ali: „Ich habe auf der Seraïspitze einen jungen Fischer kennengelernt, über den Du mir Auskunft verschaffen sollst.“ Er beschrieb darauf Murad, dessen Aussehen und Wesen sich seinem Gedächtnis eingeprägt hatten.

Nassuch Haga lauschte ehrerbietig, bis der ältere Bruder zu Ende gesprochen hatte, dann sagte er: „Es trifft sich so, daß ich Euch die Auskunft, die Ihr verlangt, sogleich geben kann. Hättet Ihr von einem Fischer gesprochen, der seine Netze bei Topané oder Sirkédschi auswirft, so hätte ich Euch bitten müssen, mir einige Tage Zeit zu geben, um Erkundigungen über ihn einzuziehen; aber da es meine Pflicht ist, jedermann zu kennen, der sich in der Nähe des kaiserlichen Palastes zu schaffen macht, so kann ich Euch sogleich die Lebensgeschichte des jungen Fischers erzählen, nach dem Ihr fragt. – Er ist in Stambul geboren und führt den türkischen Namen Murad, aber er ist fremder Abkunft, der Sohn Timbooks, des vor zwanzig Jahren vom Throne gestoßenen und aus seiner Heimat verbannten Chans von Georgien. Timbook besitzt einiges Vermögen und hat einen Konak in der Nähe der Hagia Sofia gekauft, den er, seitdem er in Stambul weilt, bewohnt. Da nach langer und sorgfältiger Beobachtung seiner Person festgestellt worden ist, daß er keinerlei politische Verbindungen unterhält oder sucht, vielmehr ein ruhiges, zurückgezogenes Leben führt, so wird er allseitig mit der Ehrerbietung behandelt, die ein fremder Fürst, der die türkische Gastfreundschaft nicht mißbraucht, beanspruchen darf. Dies ist auch der Grund, weshalb ich Murad, den einzigen Sohn Timbooks, nicht in seinem Vergnügen störe, an der Seraïspitze zu fischen. Eigentlich soll sich, außer den Fahrzeugen des Palastes, kein Boot dort aufhalten; aber der Pascha, mein hoher Vorgesetzter, hat sich auf meinen Vortrag damit einverstanden erklärt, daß zu Gunsten des jungen Fürsten eine Ausnahme gemacht werde. – Dieser scheint übrigens nicht einmal zu wissen, daß er hoher Abkunft ist – sein Vater wird es ihm verheimlicht haben, um ihn nicht in gefährliche Unternehmen zu verwickeln und führt ein so ehrenhaftes, harmloses Leben, daß ich schon seit Monaten es aufgegeben habe, ihn überwachen zu lassen. Doch kann ich dies sogleich wieder anordnen, falls Ihr, Bey, Wert darauf legen solltet, Näheres über ihn in Erfahrung zu bringen.“

„Es ist mein Wunsch, daß Murad in keiner Weise behelligt werde,“ antwortete Ali; „ich finde Gefallen an dem jungen Mann.“

„Es wird geschehen, wie Ihr befehlt, Bey.“

Im Laufe des Nachmittags begab sich Ali wieder nach der Seraïspitze, wo er Murad bereits bei der Arbeit fand. Er selbst setzte sich am Strande nieder und schaute trübselig auf die See. Er grämte sich nicht darüber, eine einflußreiche Stellung verlören zu haben; was an seinem Herzen nagte, war die Gleichgültigkeit des Sultans, der ihn wegen einer verzeihlichen Leichtfertigkeit zum Tode verurteilt und, nachdem er ihn begnadigt, ohne einen Schatten von Bedauern aus seiner Nähe verbannt hatte. Und doch war Ali dem Großherrn jahrelang ein treuer Diener gewesen und er liebte ihn! Aber das hatte er niemand zeigen können, und der Sultan wußte es nicht.

Ali Bey und Murad hatten sich durch eine Handbewegung begrüßt. Seitdem hatte der junge Fischer den Zwerg von Zeit zu Zeit beobachtet und dessen Trübsinn bemerkt. Nun trieb er sein leichtes Boot dem Ufer zu, und als er wenige Schritte vor Ali angelangt war, sagte er: „Auf dem Wasser weht eine erfrischende Brise. Wenn Ihr mit meiner Gesellschaft fürlieb nehmen wollt, so bitte ich Euch, in meinen Kaïk zu steigen.“

Ali Bey folgte der Einladung, und auf dem Meere, während der langen Pausen zwischen dem Auswerfen und dem Einziehen des Netzes, ließ er sich in eine Unterredung mit Murad ein, die alsbald eine vertrauliche wurde. Doch erkundigte sich Ali Bey nicht nach Murads Verhältnissen, noch ließ er durchblicken, daß er bereits vieles davon kenne; er erzählte vielmehr, ohne auf Einzelheiten einzugehen, von seiner eigenen Vergangenheit: daß er den Hof kenne und während einer Reihe von Jahren in der Gunst des [215] Sultans eine gewisse Stellung eingenommen, die er durch einen von ihm selbst begangenen Fehler eingebüßt habe.

„Wenn der Wechsel in Euerm Schicksal Euch betrübt, so muß auch ich ihn bedauern,“ sagte Murad; „an Eurer Stelle würde ich aber, so glaube ich, froh sein, meine Freiheit wieder gewonnen zu haben, denn ich möchte, außer von meinem Herrn Vater, von niemand abhängig sein.“

„Dein Leben kann sich so gestalten, daß Dir Abhängigkeit auch von einer andern Person als von Deinem Herrn Vater teuer wird.“

„Ich verstehe Euch nicht.“

„Wenn Du Dich vermähltest und Deine Gemahlin lieb gewönnest, so würdest Du in einer gewissen Abhängigkeit von ihr leben müssen.“

„Ich würde ihr Herr sein, und wenn ich das nicht bleiben könnte, so würde ich mich lieber von ihr trennen.“

„Auch wenn sie Dir sehr teuer wäre?“

„Auch wenn sie mir sehr teuer wäre!“

„Dann würdest Du in meine Lage kommen, frei zu sein, ohne Deiner Freiheit froh zu werden.“

„Die Traurigkeit des Freien steht mir höher als die Zufriedenheit des Sklaven.“

„Er ist fürwahr ein Fürstensohn,“ sagte sich Ali, aber er lenkte die Unterhaltung auf einen andern Gegenstand.

Die Sonne neigte sich dem Abend zu. Wie eine feine Decke aus durchsichtigem dunkeln Purpur lagerte sich das Licht über die schwarzblauen Wasser. Murad hatte sein Netz in das Boot gezogen und zusammengelegt. Der Zwerg saß am Steuerruder und beobachtete das stille gute Arbeiten des schönen, ernsten jungen Mannes. Jetzt zog dieser einen flachen Korb aus feinem Weidengeflecht hervor, den er zunächst mit frischen Blättern und grünem Gras bedeckte und auf den er sodann in gefälliger Anordnung etwa ein Dutzend der schönsten Fische ausbreitete, die er im Laufe des Nachmittags gefangen hatte. Als er mit der zierlichen Arbeit fertig war, hob er den Kopf, und Ali Bey freundlich anblickend, sagte er: „Ihr fragt mich nicht, für wen diese Fische bestimmt sind?“

„Die Fische sind Dein Eigentum und dasselbe gilt von dem, was Du mit ihnen vorhast,“ antwortete Ali Bey.

„Von den Fischen werde ich später, mit Eurer Erlaubnis, einige nach Eurer Wohnung tragen; von meinem Vorhaben aber spreche ich gern mit Euch, schon weil Ihr mir vielleicht einige Aufklärung geben könnt, die ich allein, bei meinem Mangel an Erfahrung, nicht finden kann.“ – Darauf erzählte Murad alles, was auf sein Zusammentreffen mit der Sklavin Bezug hatte.

Als Murad geendet hatte, sagte Ali Bey: „Ich möchte Dir raten, den Verkehr mit jener Sklavin abzubrechen.“

„Dazu sehe ich keinen Grund.“

„Glaube mir, dem Aelteren und Erfahreneren; der Verkehr mit dem Harem ist für jedermann, der nicht zum Harem gehört, gefährlich.“

„Ich thue nichts Unrechtes. Wenn ich alle Gefahren des Lebens fürchten wollte, so würde ich nie zur Ruhe kommen.“

„Möge Allah Dich behüten!“ sprach Ali Bey.

Als Murad bald darauf mit der Sklavin zusammentraf, sagte diese, nachdem sie den Korb mit den Fischen in Empfang genommen hatte: „Meine Freundin ist gekommen, um mit Dir zu sprechen. Sie steht hinter der Thür.“

„Ich wüßte nicht, was ich Eurer Freundin sagen könnte,“ antwortete Murad, den Ali Beys Ermahnungen nachdenklich gemacht hatten. „Es ist wohl besser, daß ich mich entferne.“

Da vernahm er eine sanfte Frauenstimme, dicht in seiner Nähe, ohne daß er jedoch die Sprecherin sehen konnte: „Ich bitte Euch, zu bleiben … Ich möchte einige Fragen an Euch richten … Wie alt seid Ihr?“

„Mein Vater sagte mir vor einigen Monaten, ich sei achtzehn Jahre alt geworden.“

„Dies sagte er ohne Zweifel, weil er daran dachte, Euch zu vermählen.“

„Das weiß ich nicht.“

„Möchtet Ihr Euch verheiraten?“

„Es ist Sache meines Vaters, das zu bestimmen. Ich habe noch nicht daran gedacht. Ich thue, was er befiehlt.“

„Wenn Ihr nun aber erführet, daß eine vornehme Dame, eine Prinzessin vielleicht, Euch zum Gemahl auserkoren hätte, würdet Ihr derselben nicht bereitwillig folgen?“

„Es ist undenkbar, daß einer Prinzessin Wahl auf mich fallen sollte.“

„Aber wenn dem so wäre?“

„Dann würde ich meinen Vater zu bewegen suchen, auf die Ehre zu verzichten, Schwiegervater einer Prinzessin zu werden.“

„Warum?“

„Weil ich Herr in meinem Harem sein will.“

„Das würdet Ihr sein.“

„Das weiß ich nicht. Ich habe gehört, daß der Gemahl einer Prinzessin nicht selten von der, die ihn verehren und ihm gehorsam sein sollte, hochmütig und herablassend behandelt wird. Sie würde mich vielleicht daran erinnern, daß ich vor meiner Verheiratung ein armer Mann war, daß ich ihrer nicht würdig wäre. Das könnte ich nicht ertragen.“

Die Stimme schwieg einige Zeit. Dann sagte sie: „Wenn eine Prinzessin Euch zum Gemahl auserwählte, so würde sie dies thun, weil sie Euch liebte. Wenn sie Euch aber liebte, so würde sie wohl achthaben, Euch nie zu kränken.“

Darauf gab Murad leise lachend zurück: „Ich glaube nicht, daß ich in die Lage kommen werde, die Hand einer Prinzessin auszuschlagen oder anzunehmen, und ich brauche darüber nicht nachzudenken … Ist es Euer Wunsch, daß ich morgen wieder einige Fische hierher bringe?“

„Darum bitte ich Euch,“ sagte die Stimme, die entmutigt und traurig klang, und dann entfernte sich Murad. Die Unterhaltung mit der Unsichtbaren erschien ihm als der Zeitvertreib einer müßigen Haremsdame. Er legte derselben keine Bedeutung bei und sprach darüber am nächsten Tage ganz unbefangen mit Ali.

Murads Besuche an der Haremspforte dauerten ununterbrochen fort. Er traf fortan nur noch mit der ihm bekannten Sklavin zusammen; aber einmal glaubte er in der schmalen Spalte zwischen den Thürangeln und der Mauer etwas Weißes zu erblicken, den Schleier einer Frau, die ihn beobachtete. Er gab jedoch nicht zu erkennen, daß er dies bemerkt hatte, und wechselte wie gewöhnlich einige unbefangene Worte mit der Sklavin, die ihm die Fische abnahm.

[230] Eines Tages, als Murad wie gewöhnlich auf dem Wasser lag und fischte, während Ali Bey am Ufer geblieben war, um ungestört seinen trübseligen Gedanken nachhängen zu können, bemerkte der Zwerg einen Kaïk, dessen Führer sich vergeblich abmühte, gegen die starke Strömung an der Seraïspitze aufzukommen. Das Boot näherte sich dem Ufer, augenscheinlich um dort Hilfe zu suchen, und als der Schiffer den müßigen Ali Bey im Anzuge eines Hafenarbeiters erblickte, rief er ihn an: „He, Bruder! Wirf mir Dein Seil herüber!“

Der Zwerg erhob sich lässig und legte das Seil, das er in einen weiten Ring geschlungen über Schulter und Brust getragen hatte, regelrecht zusammen. Wie er nun, um es dem Bootsmann zuzuwerfen, sorgfältig zielend aufblickte, erkannte er in dem Fahrgast des Kaïk den Sultan, der, als Kaufmann verkleidet, von einem der Ausflüge zurückkam, die er in seiner Hauptstadt zu machen liebte, um auf den Straßen und in Kaffeehäusern Menschen und Sitten aus unmittelbarer Nähe beobachten zu können. – Ali Bey kannte diese Liebhaberei des Sultans, auch daß dieser sich, um von einem entfernten Stadttheile nach dem Palast zurückzukommen, häufig eines gewöhnlichen Kaïk bediente. Gerade weil Ali das wußte, hatte er die Seraïspitze zum Aufenthaltsort gewählt. – Die plötzliche Erscheinung des Sultans brachte ihm keine Ueberraschung, auf die er nicht vorbereitet gewesen wäre, und er verstand es, seine Ruhe vollständig zu bewahren.

Nachdem die von Ali Bey geworfene Leine vom Schiffer aufgefangen und am Vordertheil des Kaïk befestigt worden war, legte Ali sie sich über Schulter und Brust, und mit weit vorgebeugtem Oberkörper, wie es die Art der Arbeiter ist, die ein Fahrzeug gegen den Strom schleppen, schritt er langsam vorwärts. Es war ein heißer Tag. Der laue Südwind machte die Luft drückend schwer. Dem keuchenden Zwerg, der wohl sehr stark, doch nicht an harte Arbeit gewöhnt war, lief der Schweiß von Stirn und Wangen. Aber er schritt ohne zu rasten weiter. Endlich wurde die Last, die er zog, leichter. Das Boot war in ruhiges Fahrwasser gelangt und bald hörte er den Ruf des Schiffers: „Halt, Bruder! Hier wollen wir aussteigen.“ Der Kaïk befand sich gerade gegenüber der kleinen Pforte, an der Murad seine Fische abzuliefern pflegte.

Dic Leine wurde vom Kaïk freigemacht, und während Ali sich anscheinend aufmerksam damit beschäftigte, sie wieder zusammenzulegen, schwang das kleine Fahrzeug heran und kam mit dem Hintertheil so zu liegen, daß der Fahrgast bequem landen konnte. Darauf stellte sich Ali, wie es Gebrauch ist, neben den Kaïk und hob den gebogenen Arm in die Höhe, um dem Fahrgast beim Aussteigen eine Stütze zu bieten. – Der Sultan hatte Ali Bey sofort erkannt, aber es beliebte ihm, dies nicht zu zeigen. Er legte sich mit seinem ganzen Gewicht auf den ihm dargebotenen Arm, und als dieser sich trotzdem nicht senkte, sagte der Sultan: „Dein Gewerbe scheint die Menschen stark zu machen. Treibst Du es schon seit langer Zeit?“

„Ich treibe es erst seit kurzem … auf Befehl meines zweiten Vaters.“

„Deines zweiten Vaters?“

„Ich nenne ihn so, weil er mir das Leben schenkte, als ich mein jetziges Alter erreicht hatte.“

„Und er befahl Dir, Boote um die Seraïspitze zu ziehen?“

„Er entließ mich aus seinen Diensten und schenkte mir bei der Gelegenheit eine ganz neue, schöne starke Leine aus Hanf … um tote Hunde aus den Straßen in den Bosporus zu schleppen. – Nun konnte ich aber während des ganzen Tages noch keincn toten Hund entdecken, und da bin ich hierher gekommen, in der Hoffnung, irgend etwas anderes zu finden, dem ich Schleppdienste leisten könnte.“

„Einem lebendigen Sultan zum Beispiel.“

Da hob Ali Bey die Augen, die er bis dahin zu Boden geschlagen hatte, und blickte den Sultan gerade und fest an, wie er es nie zuvor gethan hatte. – Die Güte und Traurigkeit, die aus den Augen des armen Zwerges sprachen, rührten den Sultan.

„Du hast mir sehr gefehlt,“ sagte er leise. „Tritt Deine Dienste wieder an und melde Dich in einer Stunde bei mir.“

Damit wandte sich der Sultan ab und schritt langsam der Pforte zu, die nach dem Blumengarten des Sommerpalastes führte; aber gleich darauf blieb er stehen. „Was bedeutet das?“ sagte er erstaunt und deutete auf Murad, der vor der geöffneten Pforte stand und sich augenscheinlich mit jemand im Garten unterhielt.

„Ein Fischer, Effendimis, der seinen frischen Fang an eine Sklavin abliefert. Ich kenne ihn. Wenn Ihr einen Augenblick verziehen wollt, so werdet Ihr ihn zurückkommen sehen.“

So war es in der That. Der Sultan bemerkte, wie der junge Fischer einen leeren Korb in Empfang nahm und sogleich dem Ufer wieder zuschritt. – Als er dabei an Ali Bey vorüberkam, grüßte er diesen freundlich.

„Wer ist der junge Mann?“ fragte der Sultan, von Murads Anmut überrascht.

„Ein armer Jüngling, Effendimis; aber so schön und stark und gut, daß, wenn ich eine Tochter hätte, ich keinen andern als ihn zum Schwiegersohn haben möchte.“

Der Sultan lächelte dazu und sagte: „Man sieht wohl, daß Du keine Tochter zu verheirathen hast.“ Darauf entließ er Ali Bey und trat durch die Pforte, die auf sein Klopfen von einem Schwarzen geöffnet worden war, in den Blumengarten. Dort erblickte er in einer der schattigen Alleen die Prinzessin Scheriffeh, die in Gesellschaft zweier Sklavinnen lustwandelte. Scheriffeh war die Lieblingstochter des Sultans und sie verdiente diese Auszeichnung, denn sie war von unübertrefflicher Schönheit und gleichzeitig so milde und gut, daß eine jede ihrer Dienerinnen ihr Leben für sie hingegeben haben würde. – Als sie ihren Vater erkannte, näherte sie sich ihm, während die beiden Sklavinnen in ehrfurchtsvoller Entfernung zurückblieben.

„Bist Du krank, meine Tochter?“ fragte der Sultan, nachdem er Scheriffeh begrüßt hatte. – Das junge Mädchen war nämlich bleich und sah sehr traurig aus, als ob es geweint hätte.

„Ich habe einen großen Kummer, Herr Vater.“

„Du darfst mir davon sprechen.“

Darauf erzählte Scheriffeh erröthend und unter Thränen, wie der Zufall sie auf dem Bosporus mit Murad zusammengeführt habe und daß sie seit dieser ersten flüchtigen Begegnung nur noch an ihn denken könne.

Das Antlitz des Sultans verfinsterte sich. „So hast Du angeordnet, daß der Fischer täglich an der Pforte des Blumengartens erscheint?“ fragte er.

„Ich habe es angeordnet,“ antwortete Scheriffeh kaum hörbar.

„Es war unrecht von Dir,“ fuhr der Großherr unfreundlich fort; „Du verdientest strenge Strafe; auch die Sklavinnen, die Dir bei Ausführung Deines Vorhabens behilflich gewesen sind, haben sich eines schweren Vergehens schuldig gemacht.“

„Verzeiht ihnen, Herr Vater, ich bitte Euch darum. Sie waren meinen Wünschen gefügig, weil sie mich lieb haben. Die einzige Schuldige bin ich; laßt Euren Zorn nur mich treffen.“

Der Sultan blickte finster vor sich hin. Endlich sagte er: „Ich will verzeihen … Wenn der Fischer morgen erscheint, so sollen ihm seine Fische nicht abgenommen und es soll ihm gesagt werden, daß er sich nie wieder in der Nähe der Gartenpforte blicken lassen darf. Wäre er diesem Befehle ungehorsam, so würde er dafür mit seinem Leben büßen.“

Nachdem der Großherr diese Worte in strengem Ton gesprochen hatte, wandte er sich ab und schritt dem Palaste zu, während Scheriffeh ihr Antlitz mit den Händen bedeckte und leise weinte.

Am nächsten Tage zeigte sich Murad zur gewöhnlichen Stunde an der Gartenpforte, die ihm auch sogleich geöffnet wurde, nachdem er dort angeklopft hatte. Aber die Sklavin begrüßte ihn diesmal nicht mit freundlichem Lächeln, sondern sagte traurig: „Der Padischah hat von Eurer Artigkeit erfahren und ist erzürnt darüber. Ich darf Euch die Fische nicht abnehmen, und wir werden uns nicht wiedersehen. Nähert Euch dieser Pforte nie mehr; thätet Ihr es, so würde es Euer Tod sein … Der Himmel schenke Euch langes Leben, Glück und Segen!“

Murad antwortete ruhig: „Auf Euren Wunsch bin ich hier erschienen, auf Euern Wunsch meide ich fortan diese Stelle. Habet Dank für alle Freundlichkeit, die Ihr mir erwiesen.“

[231] Er entfernte sich sorglos, wie er gekommen war, und begab sich nach dem Konak seines Vaters. Er sah sich am Strande nach seinem Freunde Ali um; aber der war nicht zur Stelle; auch während der nächsten zehn Tage zeigte sich der Zwerg nicht. Dies betrübte Murad, denn er hatte den Mann wegen seiner verständigen Reden und guten Augen liebgewonnen. – Ali Bey hatte inzwischen seine alte Stellung am Hofe wieder eingenommen und erfreute sich in einem Maße wie nie zuvor der Gunst und des Vertrauens seines Herrn. Auf diesem schien seit einiger Zeit ein schwerer Kummer zu lasten. Ali Bey erkühnte sich nicht, nach der Ursache desselben zu forschen; aber als der Sultan eines Tages den sorgenden Blick überraschte, mit dem der Zwerg ihn beobachtete, begann er selbst von seinem Leid zu sprechen.

„Du bemerkst, daß ich traurig bin?“ fragte er.

„Ich habe es bemerkt, und es bekümmert mich. Ich möchte, es läge in meiner Macht, Euch zu helfen, Effendimis.“

„Es liegt in keines Menschen Macht. – Meine geliebte Tochter, die Prinzessin Scheriffeh, ist bedenklich erkrankt. Ihr Leben ist in Allahs Hand.“

„Möge er ihr Gesundheit verleihen!“

Der Sultan blickte längere Zeit nachdenklich vor sich hin. Dann fuhr er fort: „Du erinnerst Dich doch des jungen Mannes, der an der Pforte des Haremsgartens Fische abzuliefern pflegte?“

„Ich erinnere mich seiner wohl, denn ich habe ihn liebgewonnen.“

„Erzähle mir alles, was Du von ihm weißt.“

Der kluge Zwerg hatte sogleich verstanden, was vorgefallen war: der Sultan hatte befohlen, daß die Beziehungen Murads zum Harem abgebrochen würden, und die Prinzessin Scheriffeh war an Liebesleid erkrankt. Vielleicht war es in Alis Hand gegeben, diesen Kummer zu heilen. Er wollte es versuchen.

„Der junge Fischer Murad ist ein Fürstensohn,“ begann er. „Außerhalb der kaiserlichen Familie giebt es im Reiche keinen Jüngling vornehmerer Abkunft als ihn.“ – Und darauf erzählte er alles, was er von seinem Bruder Nassuch Haga über den vertriebenen Chan von Georgien, Timbook, und dessen Sohn erfahren hatte. Dabei legte er besonderes Gewicht auf das tadellose Benehmen des alten Fürsten, auf den bescheidenen Gebrauch, den er von seinen Rechten als Gastfreund des Sultans machte, sowie auf das tugendhafte Leben Murads.

Der Großherr hörte aufmerksam zu. Als Ali Bey seine Erzählung beendet hatte, sagte er: „Bitte meinen Gastfreund Timbook, mich heute abend eine Stunde vor Sonnenuntergang aufzusuchen.“

Timbook war durch diesen Befehl überrascht, aber er gehorchte ihm unverzagt, denn er war sich keiner Schuld bewußt. Sein Aeußeres gefiel dem Sultan. Timbook war von hoher Gestalt und edlem Antlitz, und sein ehrfurchtsvoller Gruß, wie er sich dem Großherrn näherte, war frei von Unterwürfigkeit und zeigte die ruhige Würde eines Fürsten. Als einem solchen gab ihm der Sultan den Gruß zurück. Dann, nach einigen freundlichen Worten, sagte cr: „Habt Ihr Kinder?“

„Allah hat mir einen Sohn geschenkt,“ antwortete Timbook.

„Weiß er, daß er von fürstlichem Geblüt ist?“

„Er weiß es nicht. Ich habe es ihm verschwiegen, um nicht unerfüllbare Wünsche in ihm zu erregen.“

„Sprecht mir von Eurem Sohne, ich bitte Euch.“

„Ich gehorche Euch gern, Effendimis, denn mein Herz ist voll von ihm; aber Ihr werdet wohl in meinen Worten nur den Ausdruck blinder Vaterliebe erkennen. – Mein Sohn ist fromm, stark, gut, mutig. Er ist seinem Vater gegenüber ehrfurchtsvoll, seiner Mutter bescheiden und zu Diensten; Fremde preisen seine guten Sitten, Arme seine Wohlthätigkeit.“

„Ich möchte Euren Sohn kennenlernen,“ sagte der Sultan. „Bescheidet ihn morgen zu dieser Stunde zu mir.“

Die Zusammenkunft, die darauf zwischen dem Sultan und Murad stattfand, war nur von kurzer Dauer, aber der Fürstensohn hatte während derselben einen so günstigen Eindruck auf den Großherrn gemacht, daß dieser schon am folgenden Tage seinen Vertrauten Ali Bey mit der Mitteilung an Timbook entsandte, der Sultan habe beschlossen, Murad seiner Tochter, der Prinzessin Scheriffeh, zum Gemahl zu geben. – Ali Bey war hocherfreut, Ueberbringer dieser Botschaft zu sein, und Timbook fühlte sich dadurch ebenso überrascht wie geehrt. Sehr erstaunt aber waren beide darüber, wie Murad die Nachricht aufnahm. Er zeigte keine Befriedigung, blickte nachdenklich vor sich hin und sagte endlich: „Was Ihr nur befehlt, Herr Vater, das werde ich thun, doch sei es mir gestattet, den Wunsch auszusprechen, nicht der Gemahl einer Sultana zu werden.“

„Warum willst Du diese hohe Ehre zurückweisen?“

„Weil ich oftmals von den Launen und dem Hochmut der Sultanstöchter habe sprechen hören.“

„Die Prinzessin Scheriffeh ist milde und schön. Du wirst sie lieb gewinnen.“

„Aber wenn sie mich durch Hochmut kränkte?“

„Sie wird Dich nicht kränken; thäte sie es, so würdest Du Deine Würde zu wahren wissen.“

„Dazu habe ich also Eure Erlaubnis, Herr Vater. Ich danke Euch und gehorche Euch.“

„Ungehorsam gegen den Wunsch des Großherrn wäre unmöglich,“ sagte der Chan kleinlaut, denn die Haltung seines Sohnes hatte ihn besorgt gemacht.

Die Vermählung zwischen Scheriffeh Sultana und Murad fand bald darauf statt. Die Genesung der Prinzessin hatte mit dem Augenblick begonnen, da der Großherr ihr mitgeteilt, er habe den jungen Murad zu ihrem Gemahl auserkoren, und in kurzer Zeit war die Krankheit vollständig gewichen. Während der nächsten Tage hatte die Prinzessin jedoch noch mit mancherlei kleinen Kümmernissen zu kämpfen gehabt, nämlich mit den gutgemeinten Ratschlägen der älteren Haremsdamen ihrer Umgebung. Diese waren, längere Zeit ohne Erfolg, bemüht gewesen, der jungen Sultana verständlich zu machen, wie sie sich als Neuvermählte zu benehmen haben werde. Sitte und Gebrauch erheischten, so hatte man ihr erklärt, daß sie ihren Gemahl zunächst mit Kälte und anscheinender Geringschätzung behandele und ihm nicht die geringste Vertraulichkeit, nicht einmal, daß er ihr die Hand küsse, gestatte. – Scheriffeh hatte sich aber erst geneigt gezeigt, den strengen Regeln der Etikette zu gehorchen, als es den Haremsdamen gelungen war, sie davon zu überzeugen, daß jeder Verstoß dagegen den jungen Gemahl peinlich berühren würde. – Doch war es mit Zittern und Zagen, daß sie, nach Beendigung der Hochzeitsfeier, den Ehrenplatz auf dem Diwan in ihrem Harem eingenommen hatte, um dort die Ankunft des geliebten und gefürchteten Gemahls zu erwarten. Bald darauf erschien Murad. Er verrichtete zunächst, ohne seine Gemahlin angeblickt zu haben, das vorgeschriebene Gebet, dann verbeugte er sich tief und näherte sich der Prinzessin. Als er vor ihr stand, wiederholte er seinen Gruß, wobei er den Saum ihres Gewandes an seine Lippen führte und einige artige Worte murmelte. – Scheriffeh, das Antlitz von einem mit Diamanten durchwirkten Schleier bedeckt, die Augen zu Boden geschlagen, rührte sich nicht, sagte kein Wort und that, als ob sie die Anwesenheit ihres Gemahls überhaupt nicht bemerkte.

Murad war auf diesen Empfang vorbereitet und fühlte sich dadurch nicht verletzt; aber sein Stolz gestattete es ihm nicht, irgend eine Vergünstigung von der Sultana erbitten zu wollen. Er ließ sich gelassen in der Nähe der Prinzessin nieder, ohne den ersten schwachen Versuch, ein Gespräch mit ihr anzuknüpfen, zu erneuern. – Nach einer kleinen Weile klatschte Scheriffeh in die Hände und sogleich erschienen zwei Sklavinnen, die einen mit einem einfachen Nachtmahl bedeckten Tisch herbeitrugen. Als sie sich wieder entfernt hatten, erhob sich Murad, um die Prinzessin zur Tafel zu führen; aber er war langsam in seinen Bewegungen und die Prinzessin kam ihm zuvor. Sie schritt an ihm vorüber, nahm den für sie bestimmten Platz am Tische ein, und es blieb Murad nichts weiter übrig, als sich ihr gegenüber niederzulassen. Er that das ohne Verlegenheit und ohne Verdruß, vielmehr fand er einige höfliche Worte, um zu entschuldigen, daß er mit seinen beabsichtigten Dienstleistungen zu spät gekommen sei. – Scheriffeh, der ihr gegebenen Ratschläge eingedenk und von Sorge erfüllt, daß sie etwas thun oder sagen könnte, wodurch sie das Zartgefühl Murads verletzen würde, verharrte in tiefem Schweigen.

Murad erhob die Augen und sah vor sich eine zarte weiße, tief verschleierte Gestalt und die zierlichsten Hände, die er je erblickt hatte. Das war alles. Scheriffeh hielt die Augen zu Boden geschlagen, und Murad konnte nicht einmal deren Farbe erkennen.

„Wollt Ihr nicht den Schleier lüften und etwas genießen?“ fragte er.

Keine Antwort und keine Bewegung.

Murad fing an, sich etwas unbehaglich zu fühlen, aber er [232] bemühte sich, das zu verbergen, und anscheinend unbefangen nahm er eine Kleinigkeit von den aufgetragenen Speisen zu sich.

Endlich sprach die Prinzessin. Mit silberreiner, leiser, etwas zitternder Stimme sagte sie: „Ich werde mich jetzt zu meinem Herrn Vater, dem Padischah, begeben. Es ist Euch gestattet, mir zu folgen.“

Murad wollte nicht ein zweites Mal unbeholfen und nachlässig erscheinen. Er erhob sich schnell, um der Prinzessin beim Aufstehen behilflich zu sein, und in dieser Absicht ergriff er, wie es gute Sitte erheischt, ihren rechten Arm oberhalb des Ellbogens.

Als die Prinzessin sich darauf erheben wollte, glitt ihr Fuß auf dem Teppich aus, woran ihre große Schüchternheit schuld war, und sie fiel auf den Sitz, den sie soeben eingenommen hatte, zurück.

Unwillkürlich schloß sich die starke Hand Murads um den zarten Arm, den sie stützen sollte. – Scheriffeh war in ihrem Leben nicht hart angefaßt worden, und die unsanfte Berührung hatte für sie etwas Ueberraschendes und Schmerzliches. Sie stieß einen kurzen ängstlichen Klageschrei aus, dem des Vogels ähnlich, der von seinem Neste aufgescheucht worden ist.

Murad ließ den Arm sinken, als hätte er einen Schlag darauf erhalten, und erbleichte. Scheriffeh aber, die sich sogleich von ihrem Schreck wieder erholt hatte, erhob sich und schritt in würdevoller Haltung der Thür zu. Eine günstigere Gelegenheit, die weisen Ratschläge der Haremsdamen zu befolgen, Murad mit Geringschätzung zu behandeln, konnte sich nicht bieten, und so wandte sie im Hinausschreiten noch einmal das Haupt und sagte strafend, wobei ihr jedoch das Herz zum Zerspringen pochte: „An den Arm einer Sultana darf man nicht so rauhe Hand legen wie an ein Netz, das man aus dem Wasser zieht.“ – Dann schritt sie, ohne sich umzublicken, weiter, und bald darauf trat sie in das Gemach, in dem der Sultan die ersten Begrüßungen der Neuvermählten entgegennehmen wollte.

„Wo ist Dein Gemahl?“ fragte er, nachdem Scheriffeh ihm die Hand geküßt hatte.

„Er wird sogleich erscheinen,“ antwortete die Sultana; aber ihre Augen waren ängstlich auf die Eingangsthür gerichtet, und nach einer kurzen Pause setzte sie hinzu: „Ich hatte ihm gesagt, er dürfte mir folgen; er wird mich mißverstanden haben; gestattet, daß ich ihn rufen lasse.“

Darauf gab der Sultan selbst einem Diener Befehl, Murad zu benachrichtigen, daß der Großherr ihn sogleich empfangen würde. Nach einigen Minuten kam der Diener zurück und meldete, Murad habe den Harem verlassen. – Scheriffeh war einer Ohnmachr nahe, aber sie wußte ihre Aufregung zu verbergen, bis sich der Diener wieder entfernt hatte.

„Was bedeutet dies Verschwinden Deines Gemahls?“ fragte der Sultan mit finster zusammengezogenen Brauen.

Scheriffeh warf sich vor ihrem Vater auf die Kniee und sagte unter heißen Thränen: „Ich habe ihn gekränkt und nun hat er mich verlassen.“ Darauf erzählte sie, wie sie sich, den Lehren ihrer Haremsdamen folgend, Murad gegenüber benommen hatte; auch die unfreundlichen Worte, die sie ihm zugerufen, verschwieg sie nicht.

„Du hast gehandelt, wie es einer Sultanstochter geziemt,“ sagte der Großherr. „Murad ist Deiner unwürdig und wird der verdienten Züchtigung nicht entgehen.“

Aber Scheriffeh flehte so eindringlich, es möchte Murad kein Leid zugefügt werden, sie werde ihm alles erklären und er werde sodann sein Unrecht einsehen und um Verzeihung bitten, daß der Sultan endlich den Thränen der geliebten Tochter nachgab und anordnete, Murad solle aufgesucht und in den Harem zurückgeführt werden.

Scheriffeh durchweinte eine schlaflose Nacht, der nächste Tag brachte ihr keinen Trost; Murad, den man zunächst bei seinem Vater, dann aller Orten, wo man ihn aufzufinden hoffen durfte, gesucht hatte, blieb verschwunden. Tage, Wochen vergingen. Nirgends war eine Spur des Entflohenen zu entdecken. Die Prinzessin wurde krank, Gram verzehrte sie. Der Sultan versank darüber in tiefe Traurigkeit. Am ganzen Hof herrschte eine gedrückte, düstere Stimmung.

Ali Beh hatte sich, sobald er von dem Verschwinden Murads gehört, zu seinem Bruder begeben und ihm dringend empfohlen, keine Mühe und keine Ausgaben zu scheuen, um des Entflohenen wieder habhaft zu werden. Nassuch Haga ließ in allen Teilen des großen Reichs sorgfältige Nachforschungen anstellen; aber lange Zeit blieben seine Bemühungen gänzlich erfolglos.

„Murad wird sich das Leben genommen haben,“ sagte Nassuch Haga.

„Dazu ist er zu fromm und zu stark,“ antwortete Ali. „Er lebt. Ermüde nicht in Deinen Nachforschungen, und wir werden ihn wiederfinden.“

[252] Eines Tages endlich konnte Nassuch Haga seinem Bruder Mitteilungen machen, die möglicherweise auf die Spur des Flüchtigen hindeuteten. Im Süden von Anatolien, am Hofe des mächtigen Bey von Karaman, war ein Jüngling entdeckt worden, der in allem der genauen Beschreibung, die von Murad gegeben worden war, entsprach. Auch der Zeitpunkt, zu dem der junge Mann in die Dienste des Bey getreten, war mit Murads Flucht aus Stambul in Uebereinstimmung zu bringen. Zu ernsten Bedenken jedoch gab die Mitteilung Veranlassung: der neue Diener des Bey, den dieser sehr liebgewonnen zu haben scheine, so daß er ihn bereits zu seinem Geheimschreiber ernannt habe, verstehe zwar jedes Wort, das ihm gesagt werde, aber er sei stumm und nicht ein Laut wäre bisher über seine Lippen gekommen. Er mache sich ausschließlich durch Zeichen oder durch Schrift verständlich. Uebrigens verkehre er nicht mit dem Hofgesinde und habe nur Augen und Ohren für seinen Herrn, den Bey.

Ali Bey machte dem Sultan getreuliche Meldung von dem Vorstehenden und bat schließlich um einen Urlaub, den er zu einer Reise nach Karaman benutzen würde, um Murad, falls er sich dort aufhalten sollte, nach Stambul zurückzuführen. Der Sultan, der nichts unversucht lassen wollte, um seiner geliebten Tochter die Gesundheit wiederzugeben, billigte Alis Vorhaben und versah ihn nicht nur mit reichlichen Geldmitteln, sondern auch mit einem Schreiben an den Bey, das dem Abgesandten des Sultans ehrerbietige Aufnahme am Hofe seines Vasallen sicherte. Von dem Zweck der Reise Alis war in dem Schreiben nicht die Rede.

Sobald Ali Bey in Karaman angelangt war und sich als ein Abgesandter des Sultans zu erkennen gegeben hatte, wurde er vom Bey in feierlicher Audienz empfangen. Unter den Hofbeamten des Fürsten, die dabei zugegen waren, befand sich Murad. Ali Bey erkannte seinen jungen Freund und blickte ihn lange und bedeutsam an. Aber Murads Augen gaben darauf keine Antwort; sein Blick schweifte gleichgültig im Saale umher, als hätte er Ali Bey niemals zuvor gesehen.

Nachdem der Fürst und Ali sich förmlich begrüßt und einige Worte über gleichgültige Dinge gewechselt hatten, sagte der Abgesandte des Sultans: „In dem prächtigen Hofstaate Eurer Hoheit fällt mir besonders jener Jüngling mit dem weißen Antlitz und den hellen Haaren auf. Er ist von großer Anmut des Leibes und ist wohl hier eingewandert, denn die Eingeborenen von Süd-Anatolien sind gewöhnlich von dunklerer Hautfarbe.“

„Ihr habt das Richtige getroffen,“ antwortete der Fürst. „Mein Diener Ibrahim ist erst vor kurzem nach Karaman gekommen. Er hat mir sogleich gefallen und Vertrauen eingeflößt, und ich habe deshalb seiner Bitte entsprochen, nicht nach seiner Abkunft zu forschen. Ein flüchtiger Verbrecher kann er unmöglich sein. Ich vermute, er stammt aus einer vornehmen Familie, und der Schleier, der augenblicklich seine Vergangenheit verhüllt, wird wohl später einmal gelüftet werden.“

„Habt Ihr an seiner Sprache nicht erkennen können, aus welchem Teile des Reichs er kommt?“

„Der Arme ist stumm,“ antwortete der Fürst, und dann wiederholte er alles, was Ali Bey schon durch seinen Bruder über den geheimnisvollen Diener am Hofe des Bey in Erfahrung gebracht hatte.

Ali Bey hörte aufmerksam zu. „Der Jüngling flößt mir große Teilnahme ein,“ sagte er, als der Fürst gesprochen hatte. „Der Fall, daß ein Mensch hören, aber nicht sprechen kann, ist selten. Ich habe mich mit Heilkunde beschäftigt und möchte meine Kunst an Ibrahim versuchen. Ich verspreche Eurer Hoheit, daß Eurem Diener kein Leid zugefügt werden soll – und vielleicht könnte ich ihm die Sprache wiedergeben, wenn er sie früher besessen hat. Wollt Ihr mir gestatten, ihn in Behandlung zu nehmen?“

„Das erlaube ich gern,“ antwortete der Bey, „und sollte es Euch gelingen, Ibrahim die Gabe der Rede zu verleihen, so würde ich Euch dankbar sein, denn ich habe ihn in mein Herz geschlossen.“

„So bitte ich Euch anzuordnen, daß Ibrahim sich heute abend eine Stunde nach Sonnenuntergang in mein Zimmer begebe.“

Zur anberaumten Zeit fand sich Murad in den Gemächern ein, die der Bey dem Abgesandten des Sultans während seines Aufenthaltes in Karaman als Wohnung angewiesen hatte. Ali Bey ging dem Eintretenden mit freundlicher Vertraulichkeit entgegen; aber der verharrte, nachdem er seinen früheren Genossen mit vollkommener Höflichkeit begrüßt hatte, in der strengen Zurückhaltung, die er einem gänzlich Fremden gegenüber angenommen haben würde, und alle Bemühungen des klugen und gutmütigen Zwerges, die frühere Vertraulichkeit wiederherzustellen, blieben erfolglos. Murad ließ Alis wiederholte Fragen, weshalb er Stambul verlassen habe, unbeantwortet; er schien die Aufklärungen, die sein ehemaliger Vertrauter ihm geben wollte, kaum zu vernehmen, seinen Rat, sich nicht dem Ingrimm des erzürnten Sultans auszusetzen, gänzlich zu überhören, und nur als Ali ihn aufforderte und zuletzt eindringlich bat, mit ihm nach Stambul zurückzukehren, wo die Prinzessin, die verlassene Gemahlin, seiner harre, gab er ein [254] Lebenszeichen von sich, indem er langsam mit kaltem finstern Ernst das Haupt in den Nacken zurückbeugte. Die ruhige, jeder Uebereilung und Aufregung bare Gebärde sprach bestimmter, als Worte es gekonnt hätten, von dem festen Entschlusse Murads, den Bitten und Mahnungen Alis nicht nachzugeben.

Der Abgesandte des Sultans setzte seine Bemühungen, Murad zur Nachgiebigkeit zu bewegen, noch zwei Tage fort – erfolglos! Dann entschloß er sich schweren Herzens, unverrichteter Sache nach Stambul zurückzukehren, und verabschiedete sich vom Bey, der ihn, in seinem Innern beunruhigt über den geheimnisvollen Besuch, reichlich beschenkt entließ.

Ali Bey eilte, von zwei Dienern gefolgt, auf schnellen Pferden nach Stambul zurück und wurde sogleich nach seiner Ankunft vom Sultan empfangen. Dieser nahm den Bericht des Zwerges mit verhaltenem Ingrimm entgegen.

„Der hartnäckige Rebell soll mit seinem Leben für seinen Ungehorsam büßen,“ sagte er. „Du kehrst nach Karaman zurück und bringst ihn als Gefangenen nach Stambul. Der Bey wird den Befehl von mir erhalten, Dir dabei behilflich zu sein.“

Mit großer Klugheit und Vorsicht gelang es Ali, den Sultan auf andere Gedanken zu bringen. Er sprach mit anscheinender Entrüstung von Murad, für den keine Strafe zu hart wäre. Ali hatte, so mußte man nach seinen Reden annehmen, nur das Wohl der erlauchten Prinzessin Scheriffeh im Auge, und der Sultan sagte darauf nach einigem Bedenken, er werde später noch einmal auf die Angelegenheit zurückkommen. Damit wurde der Zwerg entlassen.

Scheriffeh Sultana war von dem Zweck der Reise Alis nach Karaman unterrichtet worden und hatte während seiner Abwesenheit in Hoffen und Bangen gelebt. Als sie nun vom Sultan erfuhr, Ali Bey sei unverrichteter Sache nach Stambul zurückgekehrt, brach sie in Thränen aus; aber sobald sie die Einzelheiten der Zusammenkünfte mit Murad vernommen hatte, warf sie sich vor ihrem Vater auf die Kniee und flehte ihn an, er möchte ihr gestatten, nach Karaman zu gehen.

Der Sultan wies dies Vorhaben zunächst zurück; schließlich konnte er aber dem rührenden Flehen der geliebten Tochter nicht mehr widerstehen und gab seine Zustimmung zu dem Unternehmen. Da Scheriffeh jedoch nicht als Sultana reisen konnte, so willigte der Großherr auch darein, daß die Prinzessin, als Knabe verkleidet und von einer schwarzen Sklavin begleitet, die ebenfalls Mannskleider anzulegen haben würde, unter dem Schutze des getreuen Ali und zweier zuverlässiger Haremswächter die Reise antreten sollte. Scheriffeh war dem Sultan so dankbar für die ihr erteilte Erlaubnis und zeigte solch’ fieberhafte Hast, sich auf den Weg zu machen, daß der Sultan die dazu nötigen Vorbereitungen sofort anordnete und Scheriffeh mit ihrem Gefolge bereits am nächsten Tage Stambul verlassen konnte.

Nach schneller Reise, deren Beschwerlichkeiten die verwöhnte Prinzessin mit bewunderungswürdiger Stärke ertragen hatte, langte die kleine Karawane wohlbehalten vor Karaman an, wo sie in einem außerhalb der Stadt gelegenen wenig besuchten Han (Herberge) Halt machte. – Während der Reise hatte die Prinzessin mit Ali Bey verabredet, wie sie sich in unauffälliger Weise Zulaß zu dem Hofe des Bey verschaffen wollte. Die Prinzessin sollte unter dem Namen Sadyk Effendi dem Bey ein Schreiben Alis überbringen, das sie als einen jungen Mann aus guter Familie vorstellte, der sein Glück an einem auswärtigen Hofe zu versuchen beabsichtigte und deshalb eine Anstellung im Dienste des Bey von Karaman erwünschte. Ali bat den Fürsten, dies in Gnaden gewähren zu wollen. – Es war kaum zu bezweifeln, daß der Bey diesem Gesuche Folge geben würde. – Während Scheriffehs Anwesenheit am Hofe sollte keiner aus ihrem Gefolge nach Karaman kommen, Ali vielmehr, auch wenn Wochen darüber vergehen würden, warten, bis ihm neue Befehle der Sultana zugingen. Zunächst wollte sie ihre eigenen Kräfte allein versuchen, um zu dem von ihr angestrebten Ziele zu gelangen.

Der Bey empfing den falschen Sadyk leutselig, denn er vermutete, daß die Ankunft des bleichen schönen Knaben wohl mit der noch immer unaufgeklärten Reise Alis am Hofe von Karaman zusammenhinge. Er wies dem Angekommenen deshalb die freundliche Wohnung eines hohen Hofbeamten an und beauftragte ihn mit leichten Beschäftigungen, die ihn nötigten, sich häufig und lange in der Nähe des Fürsten aufzuhalten. Auf diese Weise traf die Prinzessin täglich stundenlang mit dem Lieblingsdiener des Bey, Murad, zusammen. Dieser konnte Scheriffeh unter ihrer Verkleidung nicht erkennen, denn er hatte sie niemals unverschleiert erblickt; aber er faßte eine große Zuneigung zu dem stillen Knaben und suchte dessen Gesellschaft auf, während er sich von allen andern Mitgliedern des Hofstaates zurückgezogen hielt. Scheriffeh erkannte die Gefühle Murads, und ihre Freude darüber war unbeschreiblich, aber das Unglück hatte sie weise und geduldig über ihre Jahre gemacht, und sie zeigte sich zunächst nur bemüht, Murads Wohlwollen für sie zu vergrößern und zu befestigen. Wenn sie mit ihm allein war, so wurde sie gesprächig: sie erzählte von Stambul, dessen schönste Punkte sie kannte, namentlich auch von der Seraïspitze, von dem blauen Bosporus, dem freundlichen Himmel, und wie schön das Leben darunter sei; dann begann sie vorsichtig vom Sultan und dessen Hof und Harem zu sprechen und daß die Rede in Konstantinopel ging, es herrsche im Palast große Traurigkeit, weil die Lieblingstochter des Großherrn, die Prinzessin Scheriffeh, sich zu Tode gräme, von ihrem Gemahl verlassen worden zu sein.

Murad hörte aufmerksam zu, aber er gab in keiner Weise zu erkennen, daß er tieferen Anteil an den Mitteilungen seines jungen Freundes nehme.

Eines Tages, als die beiden im Schloßpark lustwandelten, sagte Scheriffeh: „Verzeiht mir, Effendim, wenn ich eine Frage an Euch richte. Das Wohlwollen, das Ihr mir bezeigt, und die Dankbarkeit und Verehrung, die Ihr mir einflößt, mögen mir zur Entschuldigung dienen … Seid Ihr stumm geboren, oder habt Ihr durch einen beklagenswerten Unglücksfall die Sprache verloren?“

Murad zog ein kleines Heft, das er stets bei sich führte, aus dem Gürtel und schrieb darauf: „Durch einen Unglücksfall“.

Und als Scheriffeh weitere Fragen darüber an ihn richtete, antwortete er in seiner Weise: „Verlaßt diesen Gegenstand, falls Ihr unser Zusammensein, dessen ich mich erfreue, nicht trüben wollt.“

Scheriffeh seufzte tief und sagte leise: „Ich wollte Euch nicht kränken, noch beunruhigen: verzeiht die Weise, in der ich meine Teilnahme an Eurem Schicksal zu erkennen gegeben habe. Ich werde Euch gehorchen.“

Fortan vermied die Prinzessin, auf die verpönte Frage zurückzukommen; sie bemühte sich dagegen, in jeder Art, die sie nur erdenken konnte, Murad ihre Verehrung und Anhänglichkeit zu zeigen, und dies, gepaart mit Scheriffehs unwiderstehlicher Lieblichkeit, gewann ihr in kurzer Zeit die innige Zuneigung des Stummen, so daß die beiden bald unzertrennlich erschienen, da man sie von früh bis spät vertraulich beisammen sah.

Dem Bey konnte dies nicht entgehen, und er schien seine Freude an dem guten Einvernehmen zwischen seinen Lieblingen zu haben; als aber Scheriffeh ihn eines Tages um die Erlaubnis bat, einen Ausflug mit Murad unternehmen zu dürfen, der die beiden drei Tage lang von Karaman fernhalten würde, verweigerte er, dazu seine Zustimmung zu geben. Die ungerechtfertigte Besorgnis stieg nämlich in ihm auf, Murad und Sadyk beabsichtigten, ihn heimlich zu verlassen. Einen Grund, weshalb sie dies thun sollten, konnte er nicht erfinden, aber der Gedanke war nun einmal in seinem Herzen und ließ sich nicht daraus verscheuchen. Scheriffehs Bitten, die immer dringender wurden, bestärkten ihn nur noch darin.

„Was führst Du im Schilde?“ herrschte er sie mißtrauisch an. „Der Wunsch eines Zusammenseins mit Deinem Freunde Ibrahim kann es nicht sein, da Euch das auch hier im ergiebigsten Maße gewährt ist, und das Vergnügen, das Du Dir von einem Ausflug in die unwirtlichen Gegenden des Taurus versprechen magst, ist zu gering, als daß es Dein Flehen erklärte. Ich vermute, Du hast Arges vor.“

„O, Herr, ich habe nichts Arges vor; glaubt mir!“

„Ich glaube Dir nicht, und ich erteile Dir die erbetene Erlaubnis nicht, es sei denn, daß Du mir den wahren Grund Deines Gesuches offenbarst.“

Da sagte Scheriffeh nach längerem Zaudern: „Darf ich Euch bitten, das, was ich Euch nur anvertrauen will, vor allen, namentlich aber vor Ibrahim, geheim zu halten?“

„Die Bitte sei Dir gewährt.“

„Wohlan, mich schmerzt das Gebrechen meines Freundes; ich will versuchen, ihm die Sprache wiederzugeben, und ich hoffe zuversichtlich, es wird mir gelingen.“

Der Bey erinnerte sich sogleich, daß auch Ali, der Abgesandte des Sultans, den Versuch gemacht hatte, seinen Diener zum Sprechen zu bringen, und der Gedanke kam ihm, daß dieser Ibrahim, [255] über dessen Vergangenheit ein undurchdringlicher Schleier lag, aus geheimnisvollen Gründen der Gegenstand besonderer Aufmerksamkeit des Sultans sei. Der Umstand, daß Sadyk, der Empfohlene Alis, mit demselben Ansinnen an ihn herantrat wie der Abgesandte des Großherrn, machte den Bey nachdenklich und geneigt, dem Ansinnen Scheriffehs Folge zu geben. „Vielleicht,“ so dachte er, „ist auch der junge schöne Knabe, gerade so wie der häßliche alte Zwerg, ein Abgesandter des Großherrn.“ – Da der Bey aber den Grund seiner Sinnesänderung nicht zu erkennen geben und das geheime Spiel, das an seinem Hofe getrieben wurde, unbeargwohnt beobachten wollte, so sagte er nun: „So sei Deine Bitte gewährt, und möge Dir Dein Vorhaben gelingen! Aber wisse, daß Du Dich eines Verbrechens schuldig machen würdest, solltest Du versuchen, den Bey von Karaman, in dessen Diensten Du stehst, zu hintergehen. Dafür würde ich Dich streng bestrafen.“ – Er blickte Scheriffeh, obgleich er in seinem Herzen keinen Groll gegen sie hegte, fest und finster an, so daß sie die ängstlichen Augen zu Boden schlug, und sagte: „Kehrst Du in drei Tagen nach Karaman zurück, ohne meinen Diener Ibrahim von seinem Gebrechen geheilt zu haben, so sollst Du für Deine Verwegenheit durch zwanzig Schläge auf jede Fußsohle gezüchtigt werden. – Beharrst Du bei Deiner Bitte?“

„Mit Eurer gnädigen Erlaubnis, ich beharre dabei,“ gab Scheriffeh leise zur Antwort.

„So zieh’ mit Allah, der Deinem Vorhaben günstig sei!“

Murad war sichtlich angenehm überrascht, als Scheriffeh ihm mitteilte, sie habe vom Bey die Erlaubnis erbeten und erhalten, einen dreitägigen Ausflug mit ihm machen zu dürfen. „Es ist jetzt, zur Frühlingszeit, in den Bergen und Wäldern so schön,“ sagte sie, „da wollen wir lustwandeln.“

Der Stumme gab durch ein freundliches Zeichen seine Zustimmung zu erkennen. – Nun wurden die Diener, die der Fürst den Freunden zur Verfügung gestellt hatte, beauftragt, zwei Maultiere mit Zelten und Mundvorräten zu beladen und zwei Reitpferde in Bereitschaft zu halten. Auf diesen ritten Murad und Scheriffeh am nächsten Morgen zu früher Stunde aus Karaman hinaus und wandten sich dem nahen Gebirge zu. Die Herzen gingen ihnen auf, als sie unter blauem Himmel und milde leuchtender Sonne durch das blühende grüne Land zogen, das ihnen Lebensfreude entgegenduftete. – Scheriffehs bleiche Wangen hatten sich gerötet und ihre dunkeln Augen strahlten, es war die lieblichste Erscheinung, die man sehen konnte. Murads Augen streiften sie mit bewundernder Freude.

Gegen Mittag erreichte die kleine Karawane ein dunkles Gehölz. Murad und Scheriffeh ließen sich im Schatten eines mächtigen Baumes nieder und nahmen dort ein schmackhaftes Mahl ein. Die Unterhaltung zwischen den beiden Freunden war keine lebhafte, denn Scheriffehs Herz war beunruhigt und sie konnte nicht viel reden, während Murad gar nicht sprach; doch traten niemals schwere Pausen ein. Murad wies auf einen Baum, einen Vogel, den Himmel, und seine Augen sagten: „Wie schon ist es hier!“ – Und Scheriffeh antwortete darauf: „Ja, es ist schön – wunderschön!“ Oftmals begegneten sich die Blicke der beiden, und es waren die Blicke von Menschen, die sich sehr lieb haben. – Einmal lehnte sich Scheriffeh gegen den Baumstamm, an dem sie saßen, zurück, und die dunkeln Augen in die Ferne gerichtet, sang sie mit silberreiner, sehnsüchtiger Stimme eine alte Volksweise, eines von den Keremliedern:

„Getrennt von seinem Lieb zu sein,
Ist unerträglich bittere Pein.
Weh dem, der sie erduldet!
 Schön Asli, kehre wieder!“

„Der größte ist der Liebe Schmerz.
Zerrissen ist mein junges Herz.
O kehr’ zurück, mein Leben!
 Schön Asli, kehre wieder!“

Murad blickte Scheriffeh aufmerksam an, während sie sang. Als sie geendet hatte, schlug er die Augen zu Boden und verblieb lange Zeit in Nachsinnen versunken.

Scheriffeh klopfte das Herz. Sie wollte sich zu erkennen geben, sprechen, den geliebten Gemahl um Verzeihung bitten; – aber sie fand nicht den Mut dazu. „Heute abend vor den Zelten, wenn er mich nicht sehen kann und ich mich weniger vor ihm fürchte – dann werde ich sprechen,“ sagte sie sich. Aber als die Nacht gekommen, war ihr Mut nicht größer geworden, und mit stummem Abschied von Murad zog sie sich traurig in ihr Zelt zurück.

Der zweite Tag verging wie der erste. Murad und Scheriffeh wanderten Hand in Hand wie zwei Freunde durch dunkle Wälder und über grüne Hügel – aber Scheriffeh war beinahe ebenso stumm geworden wie ihr Begleiter. Von Zeit zu Zeit seufzte sie tief. Dann sah Murad sie fragend an; sie fand keine Worte, die stille Frage zu beantworten. Die Brust war ihr wie zugeschnürt. – „Wie klein und fein doch Sadyks Hand ist,“ dachte Murad, und er hätte sie küssen mögen, so lieblich erschien sie ihm – aber er lächelte nur still vor sich hin ob des sonderbaren Gedankens, die Hand des Knaben zu liebkosen. Er fühlte sich unbeschreiblich wohl in dessen Nähe. Er wußte nicht warum.

Die Nacht verbrachte Scheriffeh, ohne Ruhe finden zu können. Morgen mußte die Rückreise nach Karaman angetreten werden, morgen mußte sie sprechen, wenn sie nicht die schwer erlangte Gelegenheit, sich mit Murad zu versöhnen, ungenutzt vorüber gehen lassen wollte. – „Was soll ich thun? Wie soll ich sprechen?“ fragte sie sich immer und immer wieder; aber sie fand keine Antwort.

Am Morgen stiegen die beiden zu Pferde, um den Rückweg nach Karaman schneller zurücklegen zu können. Gegen Mittag rasteten sie zur Mahlzeit. Als sie diese eingenommen und die Diener sich zurückgezogen hatten, erhob sich Scheriffeh plötzlich, kniete vor Murad nieder und sagte leise: „Ich bin Euer unglückliches Gemahl. O, Murad, verzeiht mir!“

Sie konnte nicht weiter sprechen. Murad war schnell aufgestanden und einen Schritt zurückgewichen. Nun wandte er sich ab und näherte sich langsam der Stelle, wo die Diener neben den Tieren lagerten. Er war bleich geworden und an seinem Herzen nagte brennender Schmerz, aber sein trotziger Stolz war stärker als alles. Noch konnte er die Kränkung nicht verzeihen, die ihn so tief verletzt hatte. Nie hätte er sich Aehnlichem wieder aussetzen wollen, und darum hatte er Vater und Mutter und seine Gemahlin verlassen, „für immer!“ – das war seine Absicht gewesen und blieb es noch. Es war ihm leicht geworden, Stambul zu fliehen, jetzt wurde es ihm innerlich schwer, Scheriffeh den Rücken zu kehren. – „Es muß sein!“ sagte er vor sich hin. Er preßte die Zähne zusammen, und sein schönes Antlitz, das kurz vorher noch in Freude geleuchtet hatte, nahm einen finstern Ausdruck an, so daß die Diener, als er an sie herantrat, erschrocken aufsprangen und sich beeilten, alles zur Weiterreise vorzubereiten.

Murad und Scheriffeh ritten stumm nebeneinander her. Der Mut des armen Mädchens war gebrochen. Sie wagte es nicht, noch ein Wort an ihren Begleiter zu richten. Alle ihre Hoffnungen waren vernichtet. Sie wünschte sich den Tod. – Die beiden langten zu später Stunde in Karaman an und trennten sich voneinander, ohne daß Murad Scheriffeh eines Blickes gewürdigt hätte. Aber er verbrachte eine schlaflose Nacht.

Am nächsten Morgen begab sich Scheriffeh zum Bey und berichtete in kurzen, verzweifelten Worten von dem gänzlichen Mißerfolg ihrer Aufgabe.

„So sei der verdienten Strafe gewärtig,“ sagte der Bey mit finsterer Miene. In seinem Herzen hatte er nie die Absicht gehegt, Sadyk züchtigen zu lassen; aber der Knabe sollte geängstigt werden, zur Strafe, gegen den Wunsch seines Herrn gehandelt zu haben, und sodann, weil der Bey annahm, die Furcht vor der Züchtigung könnte Sadyk zur Offenbarung seines Geheimnisses treiben. Er ließ deshalb, nachdem dieser ihn verlassen hatte, den am meisten gefürchteten Beamten seines Hofes, Chosref, den Nachrichter, zu sich bescheiden und sagte ihm, Sadyk sei verurteilt worden, zwanzig Schläge auf die Fußsohlen zu empfangen. Alles sei dazu vorzubereiten. – „Nun habe acht, was ich Dir im geheimen sage,“ fuhr der Bey fort. „Wenn Sadyk auf dem Richtplatz erschienen ist, so legst Du harte Hand an ihn und drückst ihn unsanft zu Boden. Dann, nachdem er gebunden worden ist, hebst Du den Stock zum Schlage; aber er darf – bei Deinem Leben – Sadyk nicht berühren. Du hast verstanden?“

„Ich habe verstanden.“

„Niemand, wer immer es sei, darf von diesem geheimen Befehl wissen. Sprächest Du davon, so wäre es Dein Tod.“

„Ich werde schweigen.“

Die Nachricht von der Verurteilung Sadyks verbreitete sich wie ein Lauffeuer im ganzen Schloß. Alle bemitleideten den armen Knaben und staunten ob der grausamen Härte des Bey.

[256] Murad, bleich von Angesicht, das Haupt gesenkt, wanderte wie ein unsteter Geist durch die langen Gänge des Palastes und die Wege des Parkes. Als er an den Richtplatz kam, auf dem die Knechte Chosrefs mit den unheimlichen Vorbereitungen zur Vollziehung der Strafe an Sadyk beschäftigt waren, durchrieselte ihn ein Grausen, das ihn erzittern machte. Es war bekannt geworden, Sadyk solle bestraft werden, weil er in leichtfertiger Weise, entgegen einer ernsten Mahnung des Bey, die Heilung Murads unternommen habe, und dieser wußte, daß Scheriffeh um seinetwegen zu leiden haben werde.

Die arme Scheriffeh saß inzwischen in ihrem Zimmer und weinte und weinte. Aber nicht Furcht vor der Züchtigung war es, die ihre Thränen rinnen machte. Daß Murad sie zurückgewiesen, sich von ihr abgewandt hatte – betrübte sie zum Tode. – Vor der Folter, die ihr bevorstand, hätte sie sich leicht retten können. Ein Wort an Ali Bey, der in der Nähe von Karaman ihrer Befehle harrte – und er würde zur Hilfe herbeigeeilt sein! – Aber Scheriffeh hatte nur den einen Gedanken: sie wollte nicht von Murad scheiden; um aber in seiner Nähe bleiben zu können, so lange er ihr nicht verziehen hatte, durfte sie sich nicht zu erkennen geben und mußte im Dienste des Bey verweilen. Im Innersten ihres Herzens war noch ein Hoffnungsschimmer: vielleicht rührten die Schmerzen, die sie nur Murads willen erdulden wollte, sein stolzes Herz! Willkommen war ihr um diesen Preis jede Pein. Der Hoffnungsschimmer war schwach, aber er erleuchtete den Pfad zum Richtplatz und unverzagt, wennschon ein Bild des Jammers, trat sie den schweren Gang dorthin an.

Der Hof war bereits in einem großen Kreise versammelt, als Scheriffeh zwischen zwei Wächtern auf dem Platze erschien, wo sie gezüchtigt werden sollte. Der Bey saß auf einem erhöhten Sessel, ihm zur Rechten und zur Linken standen die hohen Beamten seines Hofstaates; dem stummen Murad war ein Platz dem Bey gegenüber angewiesen worden. Das hatte der Fürst angeordnet, weil er Murad während des erwarteten Vorganges beobachten wollte. Murad war so bleich wie Scheriffeh und hielt die Zähne zusammengepreßt und die Augen zu Boden geschlagen.

Die Verurteilte stand jetzt in der Mitte des Richtplatzes, von vielen mitleidigen Blicken beobachtet. Ihre nackten Füßchen steckten in weiten Schuhen, die leicht abgeworfen werden konnten. Diese Füße waren schön und zierlich und glänzten, als wären sie aus blau geädertem, fein geschliffenem Marmor. Und die Peitsche des Henkers sollte sie zerfleischen!

Chosref trat vor den Bey, verbeugte sich bis zur Erde, hob dann das Haupt und blickte seinen Herrn fragend an.

„Walte Deines Amtes!“ sagte der Fürst mit fester Stimme.

Darauf wandte sich Chosref zu Scheriffeh und legte seine Hand gewaltig auf deren zarte Schulter und drückte sie zu Boden. Scheriffeh knickte zusammen wie eine von schwerem Fuß zertretene Blume. Und in demselben Augenblick drang ein jammervoller Klageschrei über ihre bleichen Lippen.

Er schnitt Murad ins Herz und machte es sterbenswund. Das war derselbe Schrei, der ihn aus Stambul vertrieben hatte. Sein trotziger Stolz schmolz unter dem kläglichen Hauch wie Wachs unter einer spitzen Flamme. – Mit einem Satz war er neben dem Nachrichter und schleuderte ihn beiseite. „Dies ist der Arm einer Sultana!“ rief er. „Hüte Dich, Deine rauhe Hand daran zu legen!“ – Scheriffeh vernahm die Worte, die sie selbst an ihrem Hochzeitsabend gesprochen und seitdem so bitter bereut hatte; nun wußte sie, daß sie ihr endlich verziehen waren! Murad umfaßte ihren zarten Leib mit der Sorgfalt einer ängstlichen Mutter, die das kranke Kind einbetten will, hob die leichte Last auf seinen Arm und trat vor den Bey.

„Dies ist meine Gemahlin,“ sagte er. „Gewährt ihr gastfreundliche Aufnahme in Eurem Harem. Sie ist dessen würdig, wie Ihr erfahren werdet, wenn Ihr mir kurzes Gehör schenken wollt.“

Scheriffeh hatte ihr Antlitz, das nunmehr, außer ihrem Gemahl und ihrem Vater, kein Mann unverschleiert wieder erblicken würde, an Murads Schulter verborgen und weinte leise vor Aufregung und Glück.

Dem Bey war es bei den Worten Murads „Dies ist der Arm einer Sultana“ wie Schuppen von den Augen gefallen. – Wie hatte ihn die Verkleidung, unter der die Prinzessin bei ihm erschienen war, nur einen Augenblick täuschen können? Er war bestürzt.

„Glaubt mir, Effendim,“ sagte er, „daß es nie in meiner Absicht lag, der erlauchten Frau schimpfliche Schmerzen zuzufügen. Auch ohne Euer Dazwischentreten war ihr jede Folter erspart. So hatte ich angeordnet, und es würde dem Nachrichter das Leben gekostet haben, hätte er meinen Befehlen nicht gehorcht. – Ich bin stolz, meinen Harem zur Verfügung Eurer erlauchten Gemahlin stellen zu dürfen. Geruht, mich zu begleiten.“ – Er raunte einem Diener, der hinter seinem Sessel stand, einen kurzen Befehl zu, worauf sich dieser schnellen Laufes entfernte. Sodann wandte sich der Bey wieder zu Murad und sagte mit höflichem Gruß: „Ich stehe zu Euren Diensten, Effendi.“ – Darauf schlugen die beiden den Weg zum Palast ein, von dem erstaunten Hofstaat in ehrerbietiger Entfernung gefolgt. Nach einigen Minuten erblickten sie eine von zwei laufenden Schwarzen getragene Sänfte, die vor ihnen Halt machte und in die Scheriffeh von Murad niedergesetzt wurde. Dann kehrte die Sänfte nach dem Harem des Bey zurück, während dieser und Murad sich gemessenen Schrittes nach dem Palast begaben. Unterwegs erzählte Murad, ohne auf Einzelheiten einzugehen, dem aufmerksam lauschenden Bey, er habe Stambul bald nach seiner Vermählung mit Scheriffeh, der Tochter des Großherrn, verlassen und es für gut befunden, sich Schweigen aufzuerlegen, um müßige Fragen über seine Vergangenheit leichter unbeantwortet lassen zu können. Er werde nun demnächst seine Gemahlin nach ihrer Heimat zurückführen.

Scheriffeh wurde im Harem des Bey mit der einer Prinzessin zukommenden Ehrerbietung aufgenommen, zahlreiche Sklavinnen und kostbare Gewande wurden zu ihrer Verfügung gestellt, und als sie Murad wenige Stunden später empfing, da war sie die Sultanstochter, die glückliche, von ihrem Auserwählten geliebte Gemahlin.

Ali Bey wurde am nächsten Morgen in den Palast gerufen und empfing dort von Murad, der ihn aufs herzlichste bewillkommnete, eine kurze Mitteilung von den letzten Vorgängen am Hofe des Bey. Die Augen des guten Ali strahlten vor Freude, als er von der Wiedervereinigung des jungen Paares hörte, an dessen Schicksalen er mit väterlicher Zuneigung Anteil genommen hatte. Er entsandte sogleich einen Eilboten nach Konstantinopel, um dem Großherrn zu melden, Scheriffeh Sultana und Murad würden sich ohne weitern Verzug auf den Weg nach Stambul machen. Wenige Tage später erfolgte die angekündigte Abreise, und zwar auf Scheriffehs ausdrücklichen Wunsch, ohne jede Aufsehen erregende Feierlichkeit und ohne das stattliche Gefolge, das der Bey zu ihrer Verfügung gestellt hatte und das den Zug durch Anatolien verlangsamt haben würde.

Das Wiedersehen der glücklichen Tochter erfreute den Großherrn so innig, daß er darüber den Groll, den er eine Zeit lang gegen Murad gehegt hatte, vergaß. Ja, im Innersten seines Herzens regte sich Bewunderung für den Jüngling, der sich so entschlossen gezeigt hatte, seinem Stolz und seiner Würde alles zu opfern, was Menschen glücklich zu machen pflegt. Nach einer Unterredung mit Murad, in der dieser den Wunsch zu erkennen gegeben hatte, in den Kriegsdienst zu treten, ernannte er ihn zum Offizier. Murad zeigte in seiner neuen Stellung so viel Eifer und Tüchtigkeit, daß er, als einige Zeit darauf der Krieg an der Grenze von neuem entbrannte, mit der Führung einer größeren Heeresabteilung betraut werden konnte. In der ersten Schlacht, an der er teilnahm, gab er Beweise unerschütterlicher Kaltblütigkeit und verwegenen Mutes und trug durch sein persönliches Eingreifen in den Kampf wesentlich zu dem für die Türkei glücklichen Ausgang des Tages bei. Er wurde noch während des Feldzuges zum Pascha ernannt, zu einer der höchsten Stellungen in der Armee befördert und kehrte nach Beendigung des Krieges, der mit einem ehrenvollen Frieden für die Türkei schloß, ruhmbedeckt nach Stambul zurück. Dort wurde er unter dem Namen Gurdschi Murad Pascha (Murad Pascha der Georgier) eine berühmte Persönlichkeit, deren Namen noch heute in der Kriegsgeschichte des osmanischen Reiches glänzt. Die eiserne Strenge, mit der er die Mannszucht unter seinen Truppen aufrecht erhielt, hatte ihm aber viele Feinde gemacht, und nachdem sein mächtiger Beschützer, der Vater Scheriffehs, gestorben war, gelang es jenen, den Georgier aus der Gunst des jungen Sultans zu verdrängen. Darauf legte Murad Pascha sein Amt nieder und zog sich mit seiner Gemahlin, die ihn bis zu ihrem Tode abgöttisch verehrte, nach Karaman zurück, wo er, auf einer großen Meierei, die er erworben hatte, fern von dem Treiben der Hauptstadt hochbetagt starb. Scheriffeh Sultana war ihm um mehrere Jahre im Tode vorangegangen.





  1. Seraï-burnu, d. h. die Seraïspitze, auch Ak Agalar Kapussi genannt, ist die äußerste Nordostspitze der zwischen dem Goldenen Horn, dem Bosporus und dem Marmarameer gelegenen Halbinsel, auf der Konstantinopel erbaut ist. In der Nähe derselben befanden sich die alten byzantinischen Paläste, später errichtete Sultan Mehmed der Eroberer dort ein Schloß, das von seinen Nachfolgern vollendet wurde und den Namen Top-Kapuseraï erhielt. In der unmittelbaren Nähe des Wassers, durch einen schmalen Strand und eine starke Mauer, einen Ueberrest der alten Stadtmauer, von demselben getrennt, lag der im Jahre 1865 abgebrannte, von Blumengärten umgebene, für den Harem des Sultans bestimmte sogenannte Sommerpalast, von dem jetzt keine Spur mehr vorhanden ist. Am Seraï-burnu, wo die Wasser des Goldenen Horns mit denen des Bosporus und des Marmarameeres zusammentreffen, herrschen starke Strömungen, die, namentlich bei südlichen Winden, von den kleinen „Kaïks“ mit nur einem Ruderer nicht ohne Hilfe überwunden werden können. Diese Fahrzeuge werden sodann an eine Leine genommen und von einem oder mehreren Schiffern am Ufer um die Seraïspitze und die nordöstliche Seite der Halbinsel gezogen.