Der Leierkasten als Volkserzieher

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Autor: R.
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Titel: Der Leierkasten als Volkserzieher
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aus: Die Gartenlaube, Heft 42, S. 672
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1865
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[672] Der Leierkasten als Volkserzieher. Dem aufmerksamen Beobachter wird, wohl in allen Theilen unseres großen deutschen Vaterlandes in gleicher Weise, eine eigenthümliche Erscheinung auffallen. Wir meinen das gleichsam epidemische Auftreten eines volksthümlichen Lieblingsliedes aller Welt. Dasselbe verbreitet sich, meistens von einer großen Stadt ausgehend, strahlenförmig über ganze Provinzen, ja Länder, bis in die entlegensten Dörfer und Flecken derselben, wird von Alt und Jung in rastlosem Eifer gesungen und verschwindet dann wieder – um von einem neuen verdrängt zu werden.

Meistens sind es klägliche, elende Gassenhauer, die zu dieser größten Popularität gelangen. „Schmeißt ihn ’raus, den Juden Itzig“, „So’n janzen, janzen kleenen, so’n janzen kleenen Mann“, oder „Uns’re hübschen, jungen Mädchen muß man auf dem Balle seh’n“ – das sind einige aus der neuern Zeit, die noch keineswegs zu den schlechtesten gehören. Oft werden sie auch gar nicht einmal gesungen, sondern blos gepfiffen; so z. B. der „Düppler Sturmmarsch“ im nordöstlichen Preußen.

Unschwer aber vermögen wir nun auch den eigentlichen Ursprung der außerordentlichen Popularität dieser Lieder zu erkennen – und zwar in dem wandernden Leierkasten. Noch ist die Zeit nicht lange vorüber, da er jene alten, gleichsam classischen Lieder zum Besten gab:

„Hier meine Herr-
en ist zu sehn,
wie eine Mord-
that ist geschehn,
im Jahre acht-
zehnhundertzehn.“

Oder: „Sie hat ihr Kind, sie hat ihr Kind mit einer Gabel umgebrungen.“ Seitdem hat der Leierkasten sich nun allerdings bedeutend civilisirt und, wie ja fast Alles und Alle, so huldigt auch er jetzt vollständig dem Zeitgeist. Wohl kein wichtiges Ereigniß geht vorüber, das nicht auf dem Leierkasten seinen Wiederhall fände. Namentlich Schleswig-Holstein mußte seiner Zeit in ganz unbeschreiblicher Weise herhalten und der Refrain: „Wir reichen Dir die Bruderhand“ wurde von früh bis spät in solchem Eifer gedudelt, daß man darüber hätte wahnsinnig werden können.

Dafür ist der Leierkasten aber in unserer Zeit auch wirklich zu einer gewissen culturgeschichtlichen Bedeutung gelangt. Man beobachte es nur: sobald seine ersten Töne auf einem Hofe oder an einer Straßenecke sich losquälen, sammelt sich sofort ein andächtiger Kreis von Zuhörern um ihn, und je nachdem er bloße Molltöne von sich giebt oder noch von menschlichen Philomelen begleitet wird, kann man, bald nach seinem Weiterrücken, das Vorgetragene sehr vielstimmig nachgrölen oder nachpfeifen hören. Ja, das, was er vorträgt, erreicht die vollständigste Popularität – und Louis Napoleon hätte in der That gescheidter daran gethan, statt in den Gleichnissen des „Leben Cäsar’s“ zu sprechen, seine hohen Ideen vom Leierkasten herab allem Volke zugänglich zu machen.

Doch allen Scherz bei Seite; der Leierkasten muß den niedrigsten Volksschichten gegenüber in aller Wahrheit als ein Lehrer, ein Erzieher betrachtet werden. Aus seinen politischen Liedern entnimmt der Bube seine ersten Begriffe und Anschauungen von der Welt: er zieht im Geiste mit hinaus nach Schleswig-Holstein und ruft, mit seinen Beinchen auftrampelnd: „Up ewig ungedeelt!“ An den Liebesliedern des Leierkastens entflammen sich die ersten heißen und süßen Gefühle im Herzen des jugendlichen Dienstmädchens und willig wird auch der so sauer erworbene Groschen noch für die „fünf neuen Lieder“ dahingegeben, um die lieblichen Worte sorgfältig nachstudiren zu können.

Leider ist aber der Leierkasten in neuerer Zeit vollständig in die Fußstapfen des Volkstheaters getreten, hat sich fast ausschließlich der Posse zugewandt und ist daher, fast überall, ebenso wie die Bühne, im Stadium des „höheren Blödsinns“ angelangt. Wenn jene alten, vorhin angeführten Räuber- und „Moritthäter“-Lieder uns auch ganz entsetzlich schauerlich und elend erscheinen mußten, so hatten sie doch Eines voraus: eine gewisse Moral, die den erschauernden Zuhörern die Strafe für die grausigen Mordthaten meistens im allerfurchtbarsten Lichte erscheinen ließ. Dagegen nun die Leierkastenlieder unserer Zeit! Bei ihnen ist das politische Gebiet noch immer das beste, denn die hierher gehörenden Witze sind dem großen Haufen entweder unverständlich, oder doch unschädlich. Was soll man aber dazu sagen, wenn der Grote’sche Mord in Berlin mit Wittwe Quinche und Genossen in einer Weise vom Leierkasten besungen wird, die in gleicher Weise frivol, frech, geradezu unsittlich, fade witzig und jammervoll gereimt ist; was können daraus die armen, lustig mitsingenden Arbeiterkinder, die leicht erregten Dienstmädchen etc. lernen? –

Unter allen Gelehrten der Welt erscheinen offenbar als die düstersten und allerkläglichsten – die Gelehrten des Leierkastens. Und doch, welchen unendlichen Einfluß haben sie auf die großen Volksmassen! In wie hohem Grade mögen die Lebensschicksale zahlloser Menschen durch die von jenen ausgesäete Moral geleitet und begründet sein! Ja, diese unheimlichen, unbekannten Poeten, die mit bewundernswerther Virtuosität kein Zeitereigniß, keine schwarze That, kein grelles Vorkommniß vorübergehen lassen – ohne davon ihren kärglichen Gewinn zu ziehen, ohne ihrem großen Auditorium „Nutz und Frommen“ davon zu bringen, sie stiften unleugbar viel Unheil und Verderben, indem sie, gleich der jetzigen modernen Posse, gleich gewissen Zeitungen das Laster und Verbrechen in lustiger Weise darzustellen und in seichter Moral nur Gelächter darüber zu erzwingen suchen.

An die Humanität und Einsicht aller wahren Volksfreunde appellirend, mache ich auf diesen argen Mißstand nicht blos aufmerksam, sondern füge auch eine dringende Mahnung hinzu. Meines Erachtens ließe sich nämlich unendlich Segensreiches stiften, wenn in jeder Stadt wohlmeinende und befähigte Männer zusammentreten und Vereine gründen möchten, welche sich die Aufgabe stellen: die volkserziehenden Leierkasten, in billigster Weise, immer mit guten und volksthümlich gedichteten Liedern, namentlich nationalen und patriotischen Inhalts, zu versehen. Sehr schwierig könnte dies Ziel wahrlich nicht zu erreichen sein – und welch reicher Segen würde daraus erblühen!

Möchte diese Anregung nicht unbeachtet vorübergehen! Die „Gartenlaube“ bietet den besten Vereinigungspunkt für diese Bestrebungen; man wolle daher nur überall baldmöglichst zusammentreten und durch häufige Mittheilungen an das allverbreitete Blatt das gewiß sehr wichtige Werk zur recht vielseitigen Erfüllung bringen.
R.