Der Letzte seines Stammes (Temme)

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Textdaten
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Autor: J. F-e.
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Titel: Der Letzte seines Stammes
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 23–26, S. 353–356, 369–372, 385–388, 401–407
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1860
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Kurzbeschreibung:
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[353]
Der Letzte seines Stammes.
Aus den Papieren eines *schen Beamten.
Herausgegeben von J. F–e.

Am 20. September 1858, einem Montage, wurden zwei landesherrliche Jäger meiner engern Heimath, indem sie den Forst durchstreiften, auf ein eigenthümliches Gebell ihrer Hunde aufmerksam. Sie folgten ihm. Die Hunde waren in einem Dickicht von jungem Gebüsch. Die Jäger brachen sich Bahn durch die Zweige und fanden zu ihrem Grausen die Hunde vor einer Leiche, die unter den niedrigen Bäumen an der Erde lag. Der Todte war ein junger Mann, höchstens im Anfange der dreißiger Jahre. Er war wohlgekleidet, mit einem grünen Rock, grauen Beinkleidern, Alles von gutem Tuche. Ein feiner, niedriger Filzhut lag neben ihm. Eine neue lederne Jagdtasche lag halb auf ihm, auf Leib und Brust. Der Riemen, an dem er sie getragen hatte, zog sich noch um seine Schulter.

Der Todte war eines gewaltsamen Todes gestorben. Blut quoll ihm aus der linken Seite der Brust. Die Jäger untersuchten die Stelle näher und fanden eine Schußwunde. Als Sachkenner konnten sie sich nicht täuschen. Ein Gewehr war in der Nähe nicht zu entdecken. An einen Selbstmord war daher nicht zu denken. Es konnte nur ein Verbrechen, ein Mord verübt sein.

Es mußte der Polizei und von dieser weiter dem Gerichte Anzeige gemacht werden, um das Verbrechen festzustellen und den Thäter zu erforschen, zu verfolgen und zur gesetzlichen Strafe zu ziehen. Einer der Jäger übernahm die sofortige Anzeige bei der nächsten Polizeibehörde. Der Andere blieb bei dem Leichnam auf Wache, bis die Beamten eingetroffen sein würden. Mit der Leiche nahmen sie nicht die geringste Veränderung vor. Sie untersuchten, ja, sie berührten sie nicht einmal weiter, damit das Gericht Alles in dem nämlichen Zustande vorfinde, in welchem sie es zuerst aufgefunden hatten. Daß der Tod eingetreten war, und Wiederbelebungsversuche völlig fruchtlos seien, davon hatten sie sich überzeugt.

Der Ermordete war den beiden Jägern unbekannt. Sie waren freilich Beide erst seit den letzten Jahren in der Gegend. Derjenige von ihnen, der zur Polizei gegangen war, hatte unterwegs Personen, die ihm begegneten, von der Entdeckung Mittheilung gemacht. Neugierige unter diesen waren in den Forst geeilt. Sie fanden den Weg zur Leiche. Einige von ihnen meinten den Todten zu erkennen. Sie waren indeß ihrer Sache nicht ganz gewiß. Irrten sie sich nicht, so war der Ermordete der Sohn einer Schulmeisterwittwe, die in einem etwa eine halbe Meile entfernt liegenden Dorfe wohnte. Er war seit drei oder vier Jahren aus der Gegend verschwunden, man wußte nicht wohin, und man hatte seitdem nichts wieder von ihm gehört. Er war ein Thunichtgut, ein Faulenzer, ein Herumtreiber gewesen, der seiner Mutter und seinen Schwestern nur Sorge und Kummer gemacht und den letzten Rest ihres Bischen Armuth verzehrt hatte. Daher auch die Ungewißheit über seine Wiedererkennung. Man hatte ihn nur schmutzig, zerlumpt gesehen. Woher jetzt die gute, Wohlhabenheit bekundende Kleidung? Man mußte Gewißheit haben. Einzelne gingen zu dem benachbarten Dorfe, in dem die Mutter und Schwestern wohnten.

Unterdeß waren wieder Andere gekommen, und der Todte[WS 1] war mit Bestimmtheit erkannt worden. Er war der Sohn der armen Schulmeisterwittwe. Franz Bauer war sein Name. Vor drei Jahren hatte er die Seinigen verlassen und gesagt, er wolle nach Amerika gehen, dort sein Glück zu versuchen, und werde entweder reich oder gar nicht wiederkommen. Vor vierzehn Tagen habe er seiner Mutter aus Antwerpen geschrieben, daß er soeben glücklich aus dem fremden Welttheile nach Europa zurückgekommen sei. Er sei in Californien gewesen und habe dort wirklich sein Glück gemacht. Er kehre mit vielem Gelde heim. In vierzehn Tagen spätestens hoffe er in der Heimath zu sein und seiner Mutter und seinen Geschwistern hundertfach wieder gut zu machen, was er so schwer an ihnen gefehlt und verbrochen habe. Eine Banknote von hundert Gulden hatte vorläufig gleich dem Briefe beigelegen.

Die Anwesenden bei der Leiche sahen mit einer unheimlichen Ungeduld der Ankunft des Gerichts, mit einer noch unheimlicheren dem Eintreffen der Mutter und der Schwestern des Todten entgegen. Die Armen! Jahrelang hatte der einzige Sohn, der Bruder, anstatt ihre Stütze zu sein, ihnen nur Kummer und Verdruß gemacht. Jahrelang hatten sie dann nur mit Angst und Zagen an ihn denken, von ihm reden können. Seit vierzehn Tagen war er ihre Freude, ihr Trost, ihre Hoffnung, und seit drei Tagen erwarteten sie ihn täglich, stündlich. Jedes Geräusch kündigte ihn ihnen an. Bei jedem Schritte, der sich ihrer einsamen Wohnung nahete, flogen sie an das Fenster, ihn zu sehen oder Kunde von ihm zu erhalten. Schritte naheten sich wieder ihrer Wohnung jetzt, in dieser nämlichen Stunde. Sie flogen an das Fenster. Er war nicht da, wieder nicht. Aber Kunde kam von ihm: „Er liegt im Walde, todt, ermordet.“ Sie stürzten hin zu dem Walde, Alle, selbst halb entseelt. –

Der Jäger hatte der Polizei die Anzeige gemacht, und diese hatte ihn sogleich weiter an das Gericht geschickt. Ich hatte als Untersuchungsrichter die Aufgabe, so schleunig wie möglich mich an [354] Ort und Stelle zu begeben, um den Thatbestand des verübten Verbrechens gerichtlich festzustellen, und gemeinsam mit der Polizei Alles vorzunehmen und anzuordnen, was zur Ermittlung, Verfolgung und Ueberführung des Verbrechers dienen konnte. Mit den Gerichtsärzten und dem übrigen erforderlichen Gerichtspersonale verfügte ich mich unter Führung des Jägers zu dem Walde.

Wir kamen bei der Leiche an. In dem Augenblicke vorher waren die Angehörigen des Todten eingetroffen, die greise Mutter, die abgehärmten Schwestern. Man sah ihnen Allen die jahrelange Sorge und Entbehrung an. Aber was war das gegen den entsetzlichen Schmerz des Augenblicks! Ich werde nie den Anblick vergessen. Ich mußte handeln. Den Todten konnte ich ihnen nicht lebend wieder geben, aber die Genugthuung des Rechts mußte ich ihnen verschaffen, ihnen wie Allen, die nur einmal Kunde von dem Verbrechen erhielten. Ein Mord ruft mit doppelter, dreifacher Gewalt die Ahndung der Gerechtigkeit hervor. Da ist Jeder betheiligt, da muß das Recht selbst sein Recht haben.

Mein war zunächst das Amt, das Recht zu wahren. Von dem ersten Angriffe, von den ersten Schritten einer Criminaluntersuchung hängt so Vieles, in so vielen Fällen Alles ab. Ich habe jedesmal schwer die schwere Verantwortlichkeit empfunden, die auf mir als Untersuchungsrichter lastete, und fühlte sie doppelt schwer damals.

Die Besichtigung der Leiche wurde vorgenommen. Ein Raubmord war verübt worden. Der Tod war durch eine Schußwunde herbeigeführt, eine Kugel hatte die Brust und in gerader Richtung unmittelbar das Herz getroffen. Der Tod mußte augenblicklich erfolgt sein. Die Kugel wurde in der Leiche gefunden, es war eine mittelmäßig große Pistolenkugel. Die Aerzte, erklärten, daß das Verbrechen vor etwa vierundzwanzig Stunden verübt sein müsse.

Der Ermordete war fast aller seiner Habseligkeiten beraubt. Die Jagdtasche enthielt nur noch einige Wäsche, in der Rocktasche befand sich nur ein seidenes Taschentuch; in einer Hosentasche einige lose Scheidemünze. Sonst wurde nichts an und bei der Leiche gefunden. Kein Geld, kein Ring, keine andere Kostbarkeit, kein Papier, nicht einmal ein Notizbuch. Schon dieser Mangel an allen Gegenständen, von denen ein, zumal wohlhabender Reisender doch immer einen oder den anderen bei sich führt, ließ mit Sicherheit auf eine stattgehabte Beraubung schließen. Sie wurde zur völligen Gewißheit. Der Verstorbene hatte an zwei Fingern Ringe getragen, denn die Eindrücke waren ganz deutlich zu erkennen. Sie mußten vor oder nach der Tödtung abgenommen sein. Er hatte auch eine Taschenuhr getragen, in der linken Westentasche, die Rundung der Uhr zeichnete sich noch darin ab.

Ich hatte da zugleich wichtige Thatsachen für eine künftige Entdeckung des Thäters. Von den Eindrücken der Ringe an den Fingern nahm ich eine vollständig getreue, auch das Maß auf das Genaueste wiedergebende Zeichnung zu den Acten. Die Weste nahm ich, mit den übrigen Sachen des Ermordeten, in gerichtliche Verwahrung, nachdem ich, für den Fall späterer Verwischung, die von dem Tragen der Uhr zurückgebliebene Rundung sowohl an der Weste selbst als zu den Acten genau abgezeichnet hatte.

Außer Ringen und Uhr mußte dem Ermordeten auch Geld, und zwar hauptsächlich Geld geraubt sein. Er hatte den Seinigen geschrieben, daß er Geld mitbringe. Er hatte sie auf bessere Tage verwiesen, das Vermögen, das er sich erworben hatte, konnte daher kein unbedeutendes sein. Wenn auch nicht das Ganze, so hatte er doch sicher einen Theil davon, wahrscheinlich einen ansehnlichen Theil, bei sich getragen. Zweifelhaft konnte nur sein, worin es bestanden habe, ob namentlich in gemünztem Golde, oder in Goldsand, oder in Banknoten, Wechseln oder anderen Werthpapieren. Personen, die aus Californien zurückkehrten, pflegten in der Regel in allen solchen Stücken ihr Vermögen mit sich zu führen. Daß der Ermordete wirklich sein ganzes Vermögen bei sich getragen, wurde später dadurch bestätigt, daß bei den Seinigen nichts von ihm oder für ihn ankam, weder mit der Post, noch auf anderem Wege. Sein gesammtes Vermögen war ihm mithin geraubt. Auch in Betreff der Beraubung der Uhr und der Ringe wurde bald völlige Gewißheit erlangt.

Meine erste Sorge nach der Feststellung des Thatbestandes, auch der Obduction der Leiche, war zu ermitteln, wo der Ermordete zuletzt lebend gesehen sei, seine Reise zurückzuverfolgen, und zu erforschen, ob und in welcher Gesellschaft er gewesen, sowie ob in seiner Nähe oder in der Gegend sich verdächtige Personen gezeigt hätten. Ich kam zu folgenden Resultaten: Die Nachforschungen in Antwerpen, sowie weiter in Belgien und den Niederlanden, blieben ohne allen Erfolg. Weder war dort über den Namen Franz Bauer, noch über Jemanden, der dem Ermordeten geglichen hätte, irgend eine Auskunft zu erhalten. Auch in den angrenzenden deutschen Ländern nicht. Kein Paßbureau, kein Wirth, kein Anderer vermochte Auskunft zu geben. Die erste Nachricht über ihn kam erst aus der Nachbarschaft.

Am Sonnabend, den 18. September, also am zweiten Tage vor der Auffindung der Leiche, hatte in einem etwa fünf Meilen entfernten Städtchen über Mittag ein fremder Lohnkutscher angehalten. Seine Passagiere waren ausgestiegen. Es waren ihrer drei gewesen, zwei Männer und ein Frauenzimmer. Der eine der Männer war nach der Beschreibung der Ermordete gewesen: ein hagerer, blasser Mann, von mittlerer Größe, im Anfange der dreißiger Jahre, bekleidet mit einem grünen Oberrocke, über der Schulter eine Jagdtasche tragend. Daß es der Ermordete gewesen war, stand um so weniger zu bezweifeln, als die später vorgeladenen Bewohner des Wirthshauses, an welchem der Lohnkutscher angehalten hatte, die ihnen[WS 2] vorgezeigten Kleidungsstücke und Jagdtasche mit Bestimmtheit wieder erkannten. Der zweite Mann wurde beschrieben als ein großer, schöner, gleichfalls noch junger Mann, mit dunklen Augen, braunem, lockigem Haar und gleichem Vollbart. Er hatte schwarze Kleidung getragen. Eine genauere Beschreibung war über ihn nicht zu bekommen. Das Frauenzimmer war eine große, bildschöne, üppige junge Dame gewesen. Die Bezeichnung Dame wollten die Wirthsleute ihr so recht nicht geben. Die elegante Reisekleidung einer Dame, schwarzes seidenes Kleid, braunen Doppellongshawl, Strohhut mit braunem Schleier, habe sie wohl getragen, aber ihr Benehmen sei etwas gewöhnlich gewesen.

Die drei Reisenden waren unter einander bekannt gewesen. Dies war aus ihrem gegenseitigen Benehmen deutlich hervorgegangen. Ob sie sich schon längere Zeit gekannt hatten, war nicht festzustellen. Ihr Benehmen gegen einander hatte indeß einiges Eigenthümliche gehabt.

Franz Bauer, der Ermordete, war meist still für sich gewesen, er hatte nur gesprochen, wenn die beiden Anderen ihn anredeten. Dies war von dem schönen jungen Manne öfters geschehen. Dieser hatte ihm überhaupt viel Aufmerksamkeit bewiesen, ohne daß jener sie sonderlich erwidert. Die Dame hatte mit Bauer fast gar nicht gesprochen, sich überhaupt wenig um ihn bekümmert. Desto mehr und desto angelegentlicher hatte sie sich mit dem schönen jungen Manne unterhalten, oder vielmehr zu unterhalten gesucht. Denn der junge Mann war kalt und wortkarg gegen sie gewesen. Der Wirthin war es sogar vorgekommen, als ob er gerade darum, um den Gesprächen mit der Dame zu entgehen, sich so viel mit dem Ermordeten zu schaffen gemacht habe. Frauen haben in solchen Sachen einen scharfen Blick, oft aber auch einen zu scharfen, als daß er richtig sein sollte.

Eine weitere Auskunft über Personen, Benehmen und Verhältnisse der Drei war von den Zeugen nicht zu erhalten. Sie hatten sich im Ganzen wenig um die durchreisenden Fremden gekümmert; einen Namen hatte sie gar nicht gehört. Uebrigens sprachen die sämmtlichen vernommenen Bewohner des Wirthshauses sich dahin aus, daß sie den schönen jungen Mann des gegen den Ermordeten verübten Verbrechens kaum fähig halten könnten. Er habe ihnen zu brav, zu edel ausgesehen. Sein Betragen sei zu unbefangen gewesen, namentlich auch dem Ermordeten selbst gegenüber. Ueber die sogenannte Dame wollten sie nicht mit gleicher Entschiedenheit urtheilen. Sie konnten freilich keinen einzigen bestimmten, wenn auch noch so entfernten, thatsächlichen Verdachtsgrund angeben. Die Person war ihnen nur überhaupt etwas ordinair, zweideutig vorgekommen. Die Wirthsfrau wollte nur auch hier wieder bemerkt haben, wie die Dame einige Male so sonderbar nachdenkliche Blicke auf den Ermordeten gerichtet habe, die sie allerdings damals nicht zu deuten gewußt und jetzt nicht deuten wolle, um ihr Gewissen nicht zu belasten.

Die Reisenden waren etwa anderthalb Stunden geblieben, und dann gemeinschaftlich mit dem Lohnkutscher weiter gefahren. Ein wichtiges Moment wurde noch bekundet: der Ermordete hatte wirklich an der Hand zwei Ringe und in der Westentasche eine Uhr getragen. Er hatte diese einmal hervorgezogen. Die Leute meinten gesehen zu haben, daß sie von Gold war. Er hatte ferner [355] seine Jagdtasche mit aus dem Wagen genommen und sie immer sorgfältig in seiner Nähe bewahrt, als wenn sie besonders werthvolle Gegenstände enthalte. Sie habe auch einen ziemlich bedeutenden Umfang gehabt, und als der Ermordete sie getragen, sei es ihnen vorgekommen, daß sie schwer sein müsse.

Die Beraubung des Ermordeten, und zwar zu einem nicht unansehnlichen Betrage, wurde dadurch gewisser. Zugleich war ein erhebliches Moment für die Entdeckung des Thäters gewonnen. Es kam zunächst Alles darauf an, die beiden Begleiter des Ermordeten und den Lohnkutscher, der sie gefahren hatte, ausfindig zu machen. Der Wagen war von Nordwesten gekommen. Er war in gerader Richtung auf der breiten Landstraße weiter gefahren, nach der Gegend hin, in welcher die Leiche gefunden war. Er war nachher nur noch einmal wiedergesehen, an demselben Abende, auf der nämlichen Landstraße, ungefähr vier Meilen herwärts, noch ungefähr anderthalb Meilen von der Stelle entfernt, wo die Leiche im Walde gefunden war.

Am Montag früh war die Leiche gefunden. Etwa vierundzwanzig Stunden vorher hatte, nach dem Urtheile der Aerzte, der Mord verübt sein können, also am Sonntag Morgen, auch in der Nacht vom Sonnabend bis auf den Sonntag. Am Sonnabend Abend war der Wagen in jener Gegend auf der Landstraße gesehen, ungefähr noch anderthalb Meilen von dem Orte des Ausfindenn der Leiche entfernt. Er war weiter gefahren. Nach ungefähr einer Stunde mußte er an der Stelle vorbeigekommen sein, an welcher in die Landstraße ein nach dem Heimathdorfe des Ermordeten führender Seitenweg einmündete. Der Weg lief mitten durch den Forst. Ungefähr dreihundert Schritte davon war die Leiche gefunden. Nach dem Allen war Folgendes anzunehmen: der Ermordete war bis an jene Einmündung des in sein Heimathdorf führenden Weges im Wagen und in diesem auf der Landstraße geblieben. In der Nähe der Einmündung des Weges war er ausgestiegen, hatte denselben zu Fuße eingeschlagen und ihn durch den Wald verfolgt. Er war in diesem erschossen und beraubt.

War er allein ausgestiegen, oder in Gesellschaft, und in welcher? War er allein in den Wald gegangen, oder hatte ihn Jemand begleitet, und wer? War er von einem Begleiter, oder von sonst Jemandem überfallen worden? Auf alle diese Fragen fehlte die Antwort. Es war nicht einmal festzustellen, wo der Mord verübt war. An der Stelle, an der die Leiche gefunden wurde, war es nicht geschehen. Keine Blutlache war dort, keine Spur eines Kampfes oder Ueberfalls; Spuren an der Erde deuteten vielmehr an, daß die Leiche dorthin geschleppt sei, um sie in dem abgelegenen Versteck zu verbergen. Aber auch nirgends anderswo im Walde ließ sich eine Stelle entdecken, die Spuren, daß dort das Verbrechen verübt sei, aufgewiesen hätte. Freilich hatte es den ganzen Sonntag über stark geregnet, und sowohl Fuß- wie Blutspuren hatten dadurch größtentheils verwischt werden müssen, ganz verwischt und vertilgt werden können.

Drei Tage waren seit der Auffindung der Leiche vergangen. Der Morgen des vierten sollte plötzlich einen erheblichen neuen Umstand bringen. Der Schauplatz des Verbrechens war in dem nordöstlichen Theile des Gerichtsbezirks. Die Gegend war dort waldig, aber eben. Einen anderen Charakter hatte das Land nach Südwesten hin, also an dem entgegengesetzten Ende des Gerichtsbezirks. Auch dort war Waldung, aber tiefes, rauhes Gebirge.

Aus der Tiefe dieser Gebirgsgegend meldete sich am Morgen des vierten Tages Jemand bei mir, der mir etwas Wichtiges mitzutheilen habe. Seine Mittheilung bestand in Folgendem: Er war Krugwirth im Gebirge, an einer alten, seit Jahren durch neu angelegte Chausseen von dem Verkehr abgeschnittenen und fast gar nicht mehr besuchten Landstraße. In der Nacht zum vergangenen Sonntag gegen Morgen war er von dem ungewöhnlichen Geräusch eines Wagens erwacht, der schwerfällig in der steilen und holperigen Landstraße herangefahren kam. In der Nähe seines Hauses hielt der Wagen. Er stand auf, um zu sehen, was es sei, und ob Jemand bei ihm einkehren wolle. Es war draußen noch zu dunkel, als daß er genau etwas unterscheiden konnte. Nach einer Minute ungefähr setzte sich auch der Wagen wieder in Bewegung, und er hörte ihn weiter fahren, tiefer in das Gebirge hinein. Er glaubte trotz der Dunkelheit eine Reisekutsche erkannt zu haben und stellte noch seine Betrachtungen darüber an, wie dieselbe, zumal bei Nacht, in diese Gegend komme, als er ein Klopfen an seiner Hausthüre vernahm. Er öffnete das Fenster und sah hinaus. Er konnte nur einen dunklen Gegenstand gewahren, der sich unten an der Thür bewegte. Er rief hinunter, wer da sei.

„Kann man hier logiren?“ sprach eine weibliche Stimme hinauf.

Der Krüger zündete ein Licht an, ging hinunter und öffnete die Hausthür. Eine Dame in seidenem Kleide, in Shawl und Hut stand vor ihm. Sie trug einen kleinen Reisenachtsack am Arm. Sie war groß und schön.

„Kann ich bei Ihnen logiren?“ fragte sie wiederholt.

Der Wirth ließ sie eintreten und führte sie in die Krugstube. Sie war nicht blos elegant gekleidet, sie sah auch sonst reputirlich und ordentlich aus. Der Krüger fand kein Bedenken ihr zuzusagen, daß sie bei ihm logiren könne. Sie theilte ihm darauf mit, daß sie mehrere Tage zu bleiben wünsche. Sie erwarte hier Jemanden, einen Verwandten, der ihr wichtige Nachrichten zu bringen habe. Es sei aber ein Geheimniß dabei. Sie bat deshalb, ihr ein einzelnes Stübchen anzuweisen, wo sie von den Leuten nicht gesehen werde, und zugleich ihren Aufenthalt gegen Jedermann zu verschweigen. Sie begleitete ihre Bitte mit der Hinlegung eines Doppellouisd’ors, als Vorausbezahlung für Quartier und Verpflegung. Der Krüger sagte ihr auch das Geheimhalten zu. Und er hielt seine Zusage – bis ein Andres hinzu kam.

Am Sonnabend Morgen nach der Auffindung der Leiche war er bei mir. Am Abende vorher war durch Leute, die in der Stadt gewesen, die Nachricht in das Gebirge gekommen, daß auf der anderen Seite der Stadt, in dem Forst, ein schwerer Raubmord verübt sei, und daß dabei viel von einer fremden Dame und von einem jungen Menschen mit dunklen, krausen Haaren und einem großen Bart gesprochen werde. Als auch der Krüger das erfuhr – und er gehörte in der Gegend zu den Ersten, die es erfuhren – wurde ihm die fremde Dame in seinem Hause mit ihrem Geheimniß verdächtig, und er hielt es für seine Pflicht, dem Gerichte Anzeige zu machen. Ein anderer Umstand ließ ihm dies noch dringender erscheinen.

Gleich in der folgenden Nacht, nach der Ankunft der Fremden, also in der Nacht vom Sonntag auf Montag, war wieder an seine Hausthür geklopft worden. Er war aufgestanden und hatte durch das Fenster hinuntergefragt, wer da sei. Eine fremde männliche Stimme hatte um Einlaß gebeten.

„Zu welchem Zwecke?“

„Um ein Glas Bier zu trinken.“

„Dazu öffne er in der Nacht nicht.“

„Er habe auch noch sonst ein Anliegen,“ hatte der Fremde gesagt. „Er werde gut bezahlen.“

Der Krüger hatte wieder Licht angezündet, war hinunter gegangen und hatte geöffnet. Ein großer Mann stand vor ihm, tief in einen Mantel gehüllt, einen niedrigen, breitkrämpigen Hut tief in das Gesicht gedrückt. Von dem Gesichte war, zumal bei der trübe brennenden Lampe, im eigentlichen Sinne des Worts, nur der Bart zu sehen. Es war ein schwarzer, krauser Vollbart. Der Krüger ließ ihn ein. Im Hause erklärte der Fremde, seine Absicht sei nur, zu der Dame geführt zu werden, die seit der gestrigen Nacht hier sei. Er müsse sie dringend sprechen. Er sei der, den sie erwarte. Der Wirth führte ihn zu der Stube der Dame. Der Fremde klopfte an die Thür und rief dabei zwei Worte in einer fremden Sprache. Wenige Minuten darauf wurde die Thür von innen geöffnet.

„Ich werde den Herrn schon wieder hinauslassen,“ sagte die Dame zu dem Wirth. „Sie brauchen nicht aufzubleiben.“

Der Wirth legte sich wieder zu Bett, schlief bald ein und hatte nicht gehört, wann der Fremde sich wieder entfernt hatte. Am andern Morgen war er fort. Hinterher fiel es dem Wirlh ein und auf, daß der Fremde mit einer sonderbar gedämpften, wie absichtlich verstellten Stimme gesprochen habe. Verdächtig war ihm das Alles geworden, als er die Nachricht von dem Raubmord gehört hatte.

Der fremde Mann war nicht wieder da gewesen. Die Dame war noch da, als er in die Stadt ging, die gerichtliche Anzeige zu machen. Bei seinem Weggehen von Hause hatte er, um keinen Verdacht zu erregen, gesagt, daß er zu einem Wochenmarkte in der Nachbarschaft gehe. Er war ein ebenso gewissenhafter, wie vorsichtiger Mann. Seine Mittheilung war dem Anscheine nach von großer Wichtigkeit. Zeit und Persönlichkeiten wiesen dringend darauf hin, daß die beiden Fremden die Personen seien, die sich fast [356] unmittelbar vor dem Morde in der Begleitung des Ermordeten befunden hatten. Das Geheimnißvolle in ihrem Benehmen deutete zugleich auf eine Verbindung mit dem Morde hin.

Ein Umstand blieb unerklärlich. Warum hielt die fremde Dame sich noch immer in der Gegend auf, wenn sie zu dem Verbrechen in Beziehung stand? Sie konnte sich die Gefahr nicht verhehlen, in der sie so, trotz ihrer Verborgenheit, schwebte. Jedenfalls mußte sie wichtige Gründe haben, die Gegend nicht zu verlassen. Sie mußte schleunig und unvorbereitet wenigstens vetnommen werden. Ich fuhr mit den zuzuziehenden Gerichtsbeamten und dem Krüger sofort hin. Es war Abend, als wir ankamen.

Der Krug lag einsam an der alten Landstraße, etwas von dieser zurück, tief in waldigem Gebirge. In der Umgebung einer Viertelstunde befand sich kein anderes Wohnhaus. Ich ließ den Wagen in einiger Entfernung von dem Hause halten. Wir gingen zu Fuße weiter. Der Krüger mußte zuerst allein in das Haus treten. Er brachte die Nachricht zurück, die Dame sei da und in ihrem Zimmer. Er mußte uns zu dem Zimmer führen. Ich trat mit einem Protokollführer ein. Ich war gespannt, denn ich überfiel eine fremde Frau. Ich überfiel sie als eine Verdächtige, des schwersten Verbrechens verdächtig. Sie konnte schuldig, sie konnte aber auch unschuldig sein.

Der Protokollführer und ich waren eingetreten, ohne anzuklopfen, ohne durch das geringste Geräusch unsere Ankunft zu verrathen. Wir standen völlig unerwartet in dem Zimmer, vor der Dame, die darin war. Sie saß bei einer Lampe an einem Tische und las in einem alten Buche, welches sie wohl von dem Wirthe geliehen hatte. Verwundert sah sie auf, als wir plötzlich an ihrer Seite standen, und warf einen raschen, forschenden Blick auf uns. Einen Augenblick schien etwas in ihrem Innern zu zucken, durch ihr Gesicht zu fliegen. Dann erhob sie sich, langsam, ruhig. Sie sah uns fragend an, verwundert, aber mit kalter, fast stolzer Verwunderung.

„Sie irren sich hier wohl,“ sagte sie.

Ihre Erscheinung, ihr Benehmen ließen weder auf Schuld noch auf Unschuld schließen. Um desto vorsichtiger mußte ich verfahren. War sie schuldig, so war sie jedenfalls eine gewandte Frau, die sich zu beherrschen verstand. Jene ordinaire Person, die die Wirthsleute an der Landstraße in ihr gesehen haben wollten, war sie nicht. Hätte sie sich damals so gezeigt, so konnte sie sich auch anders zeigen.

„Ich bin hier recht,“ erwiderte ich ihr. „Ich bin Commissarius des Criminalgerichts. Ich suche Sie.“

Sie verfärbte sich nicht wieder. Sie hatte sich in ihre Rolle schon hineingedacht, sie spielte sie schon, wenn sie schuldig war.

„Was wünschen Sie von mir?“ sagte sie kalt.

„Ist Ihnen der Name Franz Bauer bekannt?“

„Nein, mein Herr.“

„Seit wann sind Sie hier?“

„Seit vorigem Sonntag.“

„Wie kamen Sie hierher?“

„In einem gemietheten Wagen.“

„Allein?“

„Ganz allein.“

„Woher kamen Sie?“

Sie nannte, ohne sich zu besinnen, das Städtchen, in welchem am Sonnabend vorher der fremde Lohnkutscher mit dem Ermordeten und dessen Begleitern angehalten hatte. War sie die Dame, die zu diesen Begleitern gehörte?

„Waren Sie damals allein?“

„Ich fuhr mit zwei Herren.“

„Kannten Sie diese?“

„Nein.“

„Wie waren Sie mit ihnen zusammengekommen?“

„Zufällig.“

Sie erzählte, wie sie, aus dem Norden Deutschlands kommend, auf der Eisenbahn gereist sei. Etwa drei Meilen jenseits des Städtchens sei für ihre Weiterreise die Eisenbahn zu Ende gewesen. Sie habe auf der Station die nächste Post erwarten wollen, als sie einen auf dem Bahnhofe haltenden Lohnkutscher bemerkt, der, wie es ihr geschienen, auf Reisende gewartet habe. Sie habe sich an ihn gewandt. Er habe in der Richtung fahren wollen, die sie nehmen mußte. Er habe noch Platz im Wagen gehabt; nur zwei Herren führen noch mit. Die beiden Herren seien gleich darauf erschienen. Wenige Minuten später seien sie abgefahren. So sei sie mit den beiden Herren zusammengekommen.

„Wie sahen die beiden Herren aus?“

Sie beschrieb sie, genau wie die Wirthsleute in dem Städtchen. Sie war jene Dame. Sie war in der Gesellschaft des Ermordeten gewesen. Sie hatte sich seitdem verborgen, hier tief im Gebirge versteckt gehalten. Sie hatte in ihrem Versteck den heimlichen Besuch eines Menschen gehabt, der nach Allem der zweite Begleiter des Ermordeten gewesen war. In ihrer und dieses Mannes Gesellschaft war der Unglückliche zuletzt gesehen, so nahe, der Zeit wie dem Orte nach so nahe dem an ihm verübten Verbrechen. Wie drängten diese Umstände so sprechend zu einem dringenden Verdachte einer Schuld gegen die Fremde! Und sie war völlig ruhig, kalt, unbefangen!

„Wie lange waren Sie in der Gesellschaft der beiden Herren?“ fragte ich sie.

„Bis zum Abend des nämlichen Tages.“

„Trennten Sie sich von den Herren?“

„Sie trennten sich von mir.“

„Zu gleicher Zeit?“

„Zu gleicher Zeit.“

„Wo war das?“

„Mitten auf der Landstraße.“

„War es eine bewohnte Gegend?“

„Es war im freien Felde. Nur auf der einen Seite der Straße befand sich eine Waldung.“

„War es früh oder spät am Abende?“

„Wir hatten zu Mittag in einem Städtchen angehalten. Es konnte drei Uhr Nachmittags sein, als wir von da fort fuhren. Wir waren schon einige Zeit im Dunkeln gefahren, als ich einschlummerte. Ich erwachte von einem Anhalten des Wagens. Wie lange ich bis dahin geschlafen hatte, weiß ich nicht. Die beiden Herren stiegen gemeinschaftlich aus und verabschiedeten sich mit kurzen Worten von mir. Ich fuhr mit dem Kutscher allein weiter. Derselbe erzählte mir nachher, der eine der beiden Herren, der kleinere, habe dort, wo sie ausgestiegen, einen in ein benachbartes Dorf führenden Seitenweg einschlagen wollen. Der Andere habe zwar, nach seiner Angabe, erst etwa zehn Minuten weiter den Wagen und die Straße verlassen müssen, sich jedoch, um keinen nochmaligen Aufenthalt zu verursachen, zum gemeinschaftlichen Aussteigen mit jenem entschlossen.“

„Haben Sie später einen der beiden Herren wiedergesehen?“

„Nein.“

Sie sprach auch das Wort völlig so ruhig, unbefangen und bestimmt, wie das Andere.

Nach der Mittheilung des Krügers war gleichwohl gerade der eine der Beiden bei ihr gewesen. Ich fuhr ebenso unbefangen, wie sie war, in meinen Fragen fort:

„Wie lange gedenken Sie sich hier noch aufzuhalten?“

„Ich weiß es nicht.“

„Welches ist der Zweck Ihres hiesigen Aufenthaltes?“

Sie sah mich befremdet, vornehm an.

„Haben Sie ein Recht, danach zu fragen, mein Herr?“

„Es käme darauf an. Indeß, Ihr Name, wenn ich bitten darf?“

Sie besann sich einen Augenblick, dann sagte sie leicht und als wenn sie sich entschlossen habe, mir die kleine Gefälligkeit zu erweisen:

„Antonie Hein.“

„Aus –?“

Sie wurde wieder vornehm.

„Mein Herr, meinen Namen habe ich Ihnen genannt, ich fand kein Bedenken; von meiner Heimath. und von meinen sämmtlichen übrigen Verhältnissen jedoch erfahren Sie durch mich kein Wort. Ich habe meine Gründe dazu, und wenn Sie nach den Gründen sollten fragen wollen, so genüge Ihnen schon im Voraus meine Erklärung: ich finde es gut, es gefällt mir, Ihnen über mich nicht ein Wort weiter zu sagen.“

Sie sprach mit ihrer ganzen Ruhe, aber auch mit einer Entschiedenheit und Festigkeit, die eine große Willenskraft anzudeuten schienen.

[369] Trotz der Entschiedenheit der Dame sah ich mich dennoch genöthigt, sie weiter zu inquiriren.

„Führen Sie einen Paß bei sich?“ fragte ich sie.

„Thun die Gerichte hier Polizeidienste?“ fragte sie mich.

„Wenn Sie wünschen, kann der nächste Polizeibeamte Ihren Paß in Empfang nehmen,“ erwiderte ich.

„Nein, mein Herr, ich führe keinen Paß.“

„Auch keine sonstigen Legitimationspapiere?“

„Auch keine anderen Legitimationspapiere; nicht einmal einen Brief, nicht einmal eine Adresse, aus der Sie etwas über mich erfahren könnten.“

„Absichtlich, Madame oder mein Fräulein?“

„Nehmen Sie an, es sei absichtlich. Zwischen Madame und Fräulein haben Sie die Wahl.“

Sie sprach die letzten Worte mit einem gewissen Hohn, welcher mir in ihrer Lage wenig angebracht schien. Die ordinaire Frau der Wirthsleute fiel mir wieder ein. Sie mochte in der vornehmen Welt gelebt haben, jedoch gehörte sie derselben nicht an. Aber ich wollte mir kein voreiliges Urtheil über sie bilden, nur eins konnte ich nicht über mich gewinnen: sie für eine verheirathete Frau zu halten. Die Heiligkeit der Ehe und sie – die Verbindung widerstrebte mir; freilich, es gibt ja auch unheilige Ehen. Ich trat den entscheidenden Fragen an sie näher.

„Mein Fräulein, würden Sie mir eine Durchsuchung Ihrer Sachen gestatten?“

Sie veränderte sich auch bei dieser plötzlichen Frage nicht.

„Wenn Sie ein Recht dazu haben!“ warf sie hin.

„Es käme auch darauf an. – Fräulein, der eine Ihrer Reisebegleiter hieß Franz Bauer.“

„So?“

„Er ist ermordet!“

Ich sah sie scharf genug bei diesen Worten an. Kein Zug ihres Gesichts veränderte sich, aber sie stand von ihrem Sitze auf.

„Das Schicksal des Mannes dauert mich,“ sagte sie mit unverkennbarer Theilnahme in Stimme, wie in Blick. „Ich bin nur wenige Stunden mit ihm gereist; aber ein solches Verbrechen entsetzt uns, wenn es auch Jemanden betroffen hat, den man blos flüchtig kannte.“

Dann auf einmal veränderte sich ihr ganzes Wesen; sie trat näher vor mich, sah mich durchdringend, stolz, vorwurfsvoll an und sprach langsam, nachdrucksvoll: „Aber nun, mein Herr, eine Frage meinerseits an Sie, nur eine. Sie halten mich dieses Verbrechens verdächtig; darum inquiriren Sie seit einer Stunde gegen mich. Was berechtigt Sie hierzu?“

Sie behielt den Blick auf mich gerichtet, als sie die Frage ausgesprochen hatte. Ihre Augen blitzten, ihre Wangen waren geröthet, und so erwartete sie meine Antwort. Sie sah fast edel aus in diesem Augenblick, ihre Schönheit war eine erhabene. War das Kunst? Ich war ihr Offenheit schuldig und stand ohnehin nach dem Gange des Verhöres unmittelbar an dem entscheidenden Augenblick.

„Ja, mein Fräulein,“ antwortete ich ihr, „ein Verdacht gegen Sie hat meine Fragen geleitet, die Sie auch richtig mit Inquiriren bezeichnen; ob nun der Verdacht ein berechtigter ist, darüber mögen Sie selbst entscheiden. Franz Bauer ist in der Zeit vom Sonnabend Abend bis zum Sonntag Morgen erschossen und beraubt, und Sie sind am Sonnabend Nachmittag in seiner Gesellschaft gesehen worden; auch sind Sie geständig, noch am Sonnabend Abend in seiner Gesellschaft gewesen zu sein, und waren bei ihm in der Nähe des Ortes des Verbrechens; Sie waren bei ihm in Gesellschaft noch eines Dritten, seitdem jedoch waren Sie spurlos verschwunden und hatten sich in diese öde, verlassene Gebirgsgegend zurückgezogen. Hier endlich aufgefunden, wollen Sie keine Auskunft über sich geben, weder über Ihre Heimath und Verhältnisse, noch über den Zweck Ihres verborgenen Hierseins. Das Alles erweckt Verdacht, allerdings nur entfernten; Sie können völlig unschuldige Ursachen zu Ihrem Benehmen haben, aber nun vernehmen Sie ferner: Sie haben während Ihres Hierseins den geheimen Besuch eines fremden Mannes empfangen, welcher jenem Dritten glich, mit dem Sie zuletzt in der Gesellschaft des Ermordeten waren, und diesen Besuch haben Sie mir abgeleugnet. Entscheiden Sie.“

Ich war es jetzt wieder, der sie durchdringend ansah, und – sie schlug ihre Augen nieder; sie schlug sie nieder, als ich des Besuchs erwähnte, und es kam mir zugleich vor, als wenn etwas in ihr aufzucke, aber so unmerklich, daß ich meiner Sache nicht gewiß werden konnte. In demselben Momente hatte sie ihren Blick schon wieder erhoben; sie sah mich klar an, nur nachsinnend, als wenn sie mit sich berathe, ob sie etwas, das sie auf der Zunge, vielleicht auch tief im Herzen hatte, aussprechen solle oder nicht. Sie sprach es aus, sie sprach es mit Thränen aus, die heftig aus ihren Augen hervorstürzten.

[370] „Mein Herr,“ rief sie schmerzlich, „ich bin eine Unglückliche, eine tief Unglückliche, und nun muß auch noch dieser entsetzliche Verdacht auf mich fallen. Er muß auf mich fallen, Sie haben Recht, thun Sie Alles mit mir, was Ihre Pflicht von Ihnen fordert, nur eins verlangen Sie nicht von mir: meine Geheimnisse, die ich Ihnen vorhin nicht entdecken konnte, müssen auch ferner bei mir bleiben; sie sind nicht mein Eigenthum, sie sind mir heilig, unverletzlich. Aber daß sie nicht schuldhaft sind, daß ich keine Schuldige bin, o, mein Herr! – nein, nein, glauben Sie es nicht, Sie dürfen es nicht glauben, um Ihres Amtes willen nicht, um meinetwillen nicht; ja, auch um meinetwillen nicht. Meine Unschuld, die Grundlosigkeit Ihres Verdachtes muß völlig an den Tag kommen. Hier, mein Herr, untersuchen Sie meine Sachen, es ist nur Weniges; durchsuchen Sie Alles hier! Ich bitte jetzt selbst darum, ich verlange es.“

Sie sprach in der Leidenschaft eines großen, starken, heftigen Schmerzes und sie sah wieder edel aus; aber ich hatte jenes plötzliche Aufzucken gesehen, ich hatte es wirklich gesehen. Erst jetzt wurde es mir auf einmal klar, es trat wieder vor mich und so sonderbar. Es war plötzlich ein Gedanke in ihr aufgeschossen, wie mit Feindseligkeit; dann hatte sie nachgesonnen und den Gedanken fallen lassen, der Schmerzensausbruch war an seine Stelle getreten, und dieser konnte jenes Andere natürlich zurückgedrängt haben. Es konnte aber auch Kunst sein, daß sie auf einmal auf der Durchsuchung ihrer Sachen bestand – wie oft schon hatte ich ein solch gemachtes Pochen auf Unschuld und Herausfordern des Richters erfahren, nur nicht so geschickt, so natürlich! Sie wollen dadurch sicher machen, der Richter soll mit weniger Sorgfalt verfahren, vielleicht ganz vertrauen und Abstand nehmen.

„Ich bin in meinem Rechte, mein Fräulein,“ sagte ich, „also in meiner Pflicht. Ich bitte, mich zu controliren.“

„Ich verzichte darauf,“ erwiderte sie stolz.

Sie hatte nur wenige Sachen bei sich, welche sie in einem leichten Reisenachtsack mitgebracht hatte. Diesen stellte sie jetzt geöffnet vor mich auf den Tisch. Außerdem war nur ein Schrank in der Stube, welchen sie aufschloß und hierauf auch die an dem Tische befindliche Ziehlade herauszog. Der Schrank war leer und in der Tischlade lagen nur Toilettengegenstände, auch den Reisesack durchsuchte ich, welcher jedoch nur Wäsche und Kleidungsstücke enthielt. Sie erröthete, als ich einen Blick in den leeren Schrank geworfen und mich nun zu dem Wenigen, fast Aermlichen in dem Reisesack wandte.

„Meine eigenthümliche Lage,“ sagte sie, „hat mich gezwungen, nur das Allernothwendigste bei mir zu führen.“

Es war so echt weiblich, und in diesem Augenblicke! Hatte ich mich in ihr geirrt? oder war sie auch nur sicher, daß ich nichts finden werde? Ich sah dennoch Alles genau nach, während sie in der Stube umherging und dabei nicht nach mir hinsah; aber sie ging langsam, leise, wie man unwillkürlich thut, wenn man genau auf einen Andern achtet, zumal wenn man sich zugleich das Ansehen der Unachtsamkeit geben will. Und als ich einmal unerwartet nach ihr hinsah, begegnete ich einem halben Seitenblicke, der sich schnell von mir abwendete, und – sie war nicht mehr schön. Diese Entstellung war Angst, und die Angst war Schuld, Mitschuld.

Ich setzte sorgfältiger meine Nachsuchung fort und nahm die Sachen aus dem Reisesack Stück für Stück hervor, legte sie auseinander, besah, befühlte sie genau und fand nichts Verdächtiges, nichts, was dem Ermordeten hätte angehören können. Alles war weibliche Kleidung, weibliche Wäsche, ärmlich und nicht sehr ordentlich; die Aermlichkeit hatte sie entschuldigt. Sämmtliche Wäsche war mit den Buchstaben A. H. gezeichnet, die auch zu dem Namen, den sie mir angegeben hatte, stimmten. Geld fand ich gar nicht vor, außer diesem jedoch hatte ich an Pretiosen des Ermordeten, an die Uhr und an die beiden Ringe gedacht, auch davon fand ich nichts.

Mit dem Durchsuchen des Reisesackes war ich jetzt fertig, der Schrank stand noch offen, in dem man aber nichts sah; nur unten in einer Ecke hätte sich vielleicht ein nicht umfangreicher Gegenstand verbergen können.

Ehe ich danach sah, wollte ich noch einmal in der Tischlade suchen, da ich vorher nur flüchtig hingeblickt hatte. Die Fremde ging noch immer langsam und leise in der Stube umher und war noch nicht wieder schön. Sollte ich noch etwas finden? Einzeln nahm ich die Kämme, die Bürsten, die Seife, die Haarnadeln in die Hand, faltete die zu Papilloten zusammengedrehten Papierstückchen auseinander und fand nichts.

„Sie führen Reisegeld bei sich, Fräulein?“ fragte ich sie.

„Gewiß, mein Herr.“ Sie zog aus der Tasche ihres Kleides eine Börse und ein Portemonnaie hervor und übergab mir Beides. Sie sah mich leise, versteckt triumphirend an.

In der Börse waren etwa vierzig Stück Louisd’or. Das Portemonnaie enthielt Geld für kleine Ausgaben. Ich gab ihr beide Sachen zurück. Warum hatte sie nach jener Angst triumphirt? Ich mußte noch etwas finden. Ich stand noch vor der Tischlade. Zwischen losen Haarnadeln lag ein Päckchen zusammengebundener. Ein feiner Draht war herumgewunden. Es war dem Anscheine nach noch unberührt, wie es aus dem Laden gekommen war. Ein sinnreicher, glücklicher Versteck, mußte ich bei mir denken. Ich nahm das Päckchen wie spielend in die Hand. Sie stand noch neben mir und hatte soeben Börse und Portemonnaie von mir zurückempfangen. Sie sah mein Spielen. Leise wollte sie ihre Promenade durch das Zimmer fortsetzen, sie blieb. Nach mir wollte sie nicht hinsehen, aber ihre Augen hafteten auf meinen Fingern. Ich bog den Draht zurück, mit dem das Päckchen umwunden war. Wie unbewußt abwehrend hob sie ihre Hand auf. Die Haarnadeln fielen auseinander.

„Ach, mein Herr –“ sagte sie lächelnd. Sie lächelte in der That, wie wenn ihr plötzlich etwas einfalle, und doch schmerzlich.

„Ein Ring?“ schnitt ich ihre weiteren Worte ab.

„Ein Ring, mein Herr! Ein Andenken meiner verstorbenen Mutter.“

„In diesem Versteck?“

„War er sicher vor einem Diebstahle!“

Die Worte waren nicht ganz ruhig gesprochen. Sie waren hingeworfen, kurz, heftig und doch unsicher.

Ein einfacher, schmaler Goldreif, in den aber ein schöner, sehr kostbarer Diamant eingefaßt war, war aus den aufgelösten Haarnadeln hervorgerollt. Ich mußte mich zusammennehmen. Jene Einschnitte, die von getragenen Ringen an den Fingern des Ermordeten zurückgeblieben waren, standen lebendig genug vor meinen Augen. Zu dem schmaleren paßte dieser Goldreif. Aber ich konnte mich irren. Die Untersuchungsacten, die ich mitgebracht hatte und welche mein Protokollführer trug, waren bisher noch nicht geöffnet; sie enthielten eine genaue Abbildung, Beschreibung und Vermessung der Einschnitte. Ich nahm sie dem Protokollführer ab und schlug das Blatt auf, das die Zeichnung, die Beschreibung und die Vermessung enthielt. Sie ging nicht mehr in der Stube umher und suchte nicht mehr zu verbergen, daß ihr Blick an mir hing. An Verstellung dachte sie nicht mehr. In diesem Augenblicke konnte sie nicht daran denken. Bisher hatte sie sich mit ungeheurer Gewalt, mit großer Gewandtheit, auch mit Glück verstellt. Aber die Wahrheit besiegt zuletzt Gewalt, Gewandtheit, Glück.

Ich verglich die Breite des Ringes mit der in den Acten angegebenen Breite des schmaleren Ringes. Sie paßte auf das Genaueste. Ich legte den Ring auf die Abbildung in den Acten, und er deckte sie vollständig. Ich durfte keinen Zweifel mehr haben, wenigstens nicht für dasjenige, was ich zunächst zu thun hatte.

„Antonie Hein ist Ihr Name?“ fragte ich die Fremde.

„So heiße ich.“

„Antonie Hein, Sie sind meine Gefangene.“

Sie schrak nicht zusammen. Meine Vergleichungen in den Acten hatte sie mit jener Angst der Spannung verfolgt, über die sie nicht mehr Meister werden konnte. Meine erste Bewegung hatte ihr dann das Resultat verrathen. Wenn sie schuldig war, hatte sie es ohnehin vorhergesehen. Wie sie gewiß war, wie sie keinen Zweifel mehr hatte, trat der Trieb der Selbsterhaltung wieder in sein volles Recht bei ihr ein. Mit ihm die große Gewalt, die sie über sich besaß.

„Ich darf mir die Frage ersparen, warum?“ sagte sie. Der Ton ihrer Stimme war doch fragend und noch ungewiß.

Ich antwortete ihr nicht sogleich.

„Es ist wegen jenes Mordes,“ fuhr sie fort, nicht mehr fragend und mit völliger Sicherheit der Stimme. „Aber meine Unschuld wird an den Tag kommen. Sie glauben es jetzt nicht, mein Herr. Sie können es mir nicht glauben. Der Tag wird kommen, an dem Sie überzeugt sein werden.“

Unterdeß hatte ich mich besonnen, ob ich sofort weiter gegen [371] sie inquiriren solle, und machte es von wenigen Fragen vorläufig abhängig.

„Haben Sie während Ihres Hierseins Besuch empfangen?“

„Ja, mein Herr.

„Oft?“

„Nur einmal.“

„Wann?“

„Am vorigen Montag.“

„Bei Tag oder bei Nacht?“

„Es war in der Nacht, gegen Morgen.“

„Wer war der Besuch?“

„Ich werde Ihnen den Namen nicht nennen.“

Sie sprach wieder mit jener vollen Bestimmtheit und Entschiedenheit, mit der sie jede Auskunft über ihre Verhältnisse abgelehnt hatte.

„War es eine Manns- oder eine Frauensperson?“

„Es war ein Mann.“

Ich hatte noch eine Frage.

„Woher haben Sie diesen Ring?“

„Von meiner seligen Mutter. Ich sagte es Ihnen schon.“

Ihre Entschiedenheit hatte sich mit jedem Worte, das sie sprach, befestigt. Sie hatte wirklich eine große Willenskraft. Diese war heute nicht mehr zu brechen. Ein in ihrer augenblicklichen Lage natürlicher Trotz mußte sie vielmehr erhöhen. Gebrochen konnte sie nur werden durch die Zeit oder durch irgend ein auf sie einwirkendes Ereigniß. Ich brach das Verhör ab und nahm sie mit als Gefangene. Mit einer Ruhe, die mehr als Fassung war, ergab sie sich in ihre neue Lage. Daß ein Ereigniß mir zu Hülfe kommen werde, hoffte ich. Ich rechnete sogar auf ein bestimmtes.

Noch vor meiner Rückreise von dem Kruge hatte ich sämmtlichen Gensd’armen in der Nähe das Signalement des Mannes mitgetheilt, der mit der Antonie Hein in der Gesellschaft des Ermordeten gewesen war, die Hein bald nach ihrer Ankunft im Kruge besucht hatte und sie wahrscheinlich wieder besuchen werde, und ich hatte sie aufgefordert, scharf, aber vorsichtig auf den Menschen zu achten, insbesondere auf einen erneuerten Besuch im Kruge. Von der Gerichtsstadt aus erließ ich Aehnliches an die gesammte Gensd’armerie der Gegend. Auf die Ergreifung hoffte ich doch. In dieser Hoffnung schob ich die Wiederaufnahme des Verhörs mit der Hein mehrere Tage auf. Ich besuchte sie nicht einmal sogleich in ihrer Haft. Sie sollte, wenn sie mich wiedersah, auf eine besondere, wichtige Veranlassung schließen dürfen. Drei Tage waren indeß vergangen, ohne daß irgend etwas vorfiel. Ich mußte sie mindestens in ihrer Haft besuchen, wenn ich mir nicht, auch nur bei ihr, den Vorwurf einer Vernachlässigung ihrer Untersuchung zuziehen wollte.

Ich ging in ihr Gefängniß. Ich hatte sie allein setzen lassen, aber in eine Zelle, in der sie wenigstens eben so viel Bequemlichkeiten hatte, wie in ihrem Stübchen im Kruge des Gebirges. Auch Bücher und Schreibmaterialien hatte ich ihr zur Verfügung gestellt. Ich trat unvorbereitet bei ihr ein; sie hatte sich mit Comfort eingerichtet, mit Geschmack sogar, freilich auch, so wollte es mir wenigstens scheinen, mit einer gewissen Ostentation, als wenn sie die Dame der vornehmen Welt zeigen wolle. In dieser Einrichtung saß sie sorglos da und las in einem Buche; als sich die Thüre öffnete, sah sie gleichgültig auf, und als sie mich erkannte, wurde ihre Miene fast heiter, wie man gegen Bekannte in einer und über eine augenblickliche unangenehme Lage scherzt, für die man nicht kann, deren man aber ganz gewiß und nothwendig bald Herr werden muß.

„Sie haben mir etwas anzukündigen?“ fragte sie leicht.

„Ich habe nur eine Frage an Sie,“ erwiderte ich ihr ernst.

„Die wäre?“

„Haben Sie mir nichts zu sagen?“

„Nein, mein Herr, wahrhaftig nicht.“

Sie sprach es mit der ganzen Sorglosigkeit und Offenheit der Unschuld, und schon wollte ich mich wieder entfernen.

„Ein Wort, mein Herr!“

„Was wünschen Sie?“

„Sind Sie blos zu jener Frage hierher gekommen?“

„Ja.“

„Werden Sie noch oft so zu mir kommen?“

„Ich hoffe es nicht.“

„Sie würden es also, wenn Ihre Hoffnung Sie täuscht; ich könnte folglich noch lange, wer weiß, wie lange, ungehört und unverdammt, und doch verdammt, im Voraus verdammt, in dieser Lage verbleiben müssen! Mein Herr Criminalrichter, haben Sie auch bedacht, daß ich unschuldig sein kann, ja, daß ich für Sie, wie für Jedermann unschuldig bin, bis mir eine Schuld bewiesen ist?“

Sie war sehr ernst geworden und sprach fast strenge.

„Fräulein,“ entgegnete ich ihr, „Jeder ist der Schmied seines Glücks und seines Unglücks; Sie selbst haben einen Verdacht gegen sich erweckt, dadurch, daß Sie der Obrigkeit Thatsachen vorenthalten, über die in ähnlicher Lage Jeder, namentlich ein Unbekannter, Auskunft zu ertheilen nach den Gesetzen verpflichtet ist. Geben Sie Auskunft über Ihre Verhältnisse, nennen Sie den, der in dem Gebirgskruge Sie besuchte, und Ihre Unschuld, wenn Sie unschuldig sind, muß und wird in kurzer, in kürzester Zeit an den Tag kommen.“

„Nein, mein Herr,“ antwortete sie kalt.

Hiernach hielt sie mich nicht mehr auf, und ich verließ sie. Ich hatte Recht, aber auch ihr konnte ich dasselbe, nicht absprechen; trotzdem konnte ich sie der Haft nicht entlassen, solange der auf ihr haftende Verdacht nicht auf die eine oder die andere Weise beseitigt war, weshalb ich die gesetzlichen Mittel ergreifen mußte, den Verdacht zur Gewißheit zu bringen; wenn die Gewißheit nicht zu beschaffen war, so war er eben dadurch beseitigt.

Zunächst hatte ich ein Mittel: die öffentliche Bekanntmachung des Verbrechens, mit Beschreibung des Mannes, der zuletzt in der Gesellschaft des Ermordeten gesehen worden war, unter der Aufforderung, diesen anzuhalten, was ich bisher aufgeschoben hatte, weil es den Mann zur Flucht aus der Gegend drängen, jedenfalls seine Ergreifung in dem Kruge vereiteln konnte. Ich mußte und wollte jetzt dazu greifen. In zweiter Linie stand dann eine öffentliche Aufforderung um Auskunft über die Gefangene, die sich Antonie Hein nannte.

Das Ereigniß, auf das ich gerechnet hatte, machte das eine, wie das andere Mittel unnöthig, denn an demselben Abend lieferten zwei Gensd’armen einen Gefangenen an mich ab, dessen Figur genau zu dem Signalement des Mannes paßte, dessen Verhaftung ich schon vor vier Tagen ausgegeben hatte. Sie hatten ihn aber nicht in dem Gebirgskruge ergriffen, auch nicht in dessen Nähe, sondern drei, beinahe vier Meilen weiter, tiefer in dem Gebirge, in einem einsamen, mitten im Walde liegenden Köhlerhause hatten sie ihn aufgefunden, woselbst er sich seit fünf Tagen verborgen gehalten hatte; nur bei Nacht hatte er einen Ausgang gemacht, jede Nacht; wohin, hatte er den Köhlerleuten nicht gesagt. Gegen Morgen war er wieder zurückgekehrt, und auf solchem Rückwege hatten ihn einmal Leute gesehen. Er war vorsichtig, scheu in einem Pfade gegangen, der nach diesem Hause hinführte; eine andere menschliche Wohnung lag in dem Walde nicht. Die Gensd’armen hatten davon erzählen hören, worauf sie sich nach der Köhlerhütte aufgemacht und den Fremden gefunden hatten. Er hatte sich ohne jeden Widerstand verhaften lassen und nur nach der Ursache seiner Arretirung gefragt. Sie hatten ihm diese natürlich nicht mitgetheilt und sich nur seinen Namen nennen lassen. Er war ein Mann von achtundzwanzig bis neunundzwanzig Jahren und nannte sich Wilhelm Grote.

Der plötzliche Anblick der Gensd’armen hatte ihn offenbar erschreckt, und bei der Ankündigung seiner Verhaftung war er sehr niedergeschlagen geworden. Dies war er fortwährend geblieben und hatte sich dabei fast völlig schweigend verhalten. Das war der Rapport der Gensd’armen. Ein zweiter, wichtiger Abschnitt der Untersuchung war da. Sollte er mehr Licht, als der erste, in das tiefe Dunkel des Verbrechens bringen? Auch über jene Fremde, die sich Antonie Hein nannte?

Ich ließ den Gefangenen sofort vorführen, bevor er mit irgend Jemandem in den Gefängnissen hatte sprechen können. Ein großer, schöner, junger Mann trat in das Verhörzimmer. Er trug lockiges braunes Haar und einen krausen braunen Vollbart, welcher dem Gesichte etwas Imponirendes gab. Gleichwohl hatte es, wenn man schärfer hineinsah, einen gewissen Ausdruck der Weichheit, und dieser mochte zugleich von einem außerordentlich melancholischen Blicke der großen dunkelbraunen Augen herrühren. Er war schwarz gekleidet, und sein Aeußeres paßte genau zu dem Begleiter des Ermordeten, wie ihn die Wirthsleute in dem Städtchen in Uebereinstimmung [372] mit der Hein beschrieben hatten. Seine Haltung und sein Benehmen gehörte den besseren Ständen an, hatte aber etwas sehr ernst Reservirtes und, wie es mir schien, in diesem Augenblicke etwas Unsicheres. Ich begann mit ihm das vollständige, förmliche erste gerichtliche Verhör nach Namen, Alter, Heimath. Als letztere nannte er eine Stadt in einer benachbarten Provinz.

„Was war Ihr Vater?“ fragte ich ihn weiter.

„Prediger in dem Orte.“

.Ihr Stand?“

„Ich wurde zum Kaufmann ausgebildet, war dann längere Zeit Commis an mehreren deutschen Handelsplätzen, konnte mir eine selbstständige Stellung in Europa aber nicht gründen und wanderte nach Amerika aus. Dort fand ich noch größere Schwierigkeiten, und das veranlaßte mich, als Goldgräber nach Californien zu gehen. Von da bin ich seit einigen Wochen nach Europa zurückgekehrt.“

„Fanden Sie in Californien Ihr Glück?“

„Ich fand, was ich suchte.“

„Das heißt?“

„Ich hatte Glück im Goldfinden. Ich erwarb mir ein Vermögen.“

„Wo befindet sich dieses?“

„Ich trage es bei mir, in Papieren.“

„Sind die Papiere unter Ihren Sachen, die mit Ihnen abgeliefert sind?“

„Ich trage sie an meinem Körper.“

„Ich muß Sie bitten, mir dieselben zu geben; das Gesetz fordert es, und im Gefängnisse Ihre eigene Sicherheit.“

Ich hatte nicht nöthig, diese Motive meines Verlangens hinzuzufügen, Wie er mit voller Offenheit, wenn auch unter augenscheinlicher Abwägung jedes Wortes, geantwortet hatte, so langte er auch ohne Zögern aus seiner Rocktasche ein Packet hervor, das er mir übergab. Es enthielt amerikanische und englische Banknoten und andere Werthpapiere, zum Betrage von einigen vierzigtausend Thalern. Ich fuhr mit dem Verhöre fort.

„Sie sind seit einigen Wochen nach Europa zurückgekehrt?“

„Genau vor drei Wochen.“

„In welchem Hafen des Continents sind Sie gelandet?“

„In Antwerpen.“

„Bezeichnen Sie mir Ihre Reiseroute von da bis hierher.“

„Ich hielt mich einige Zeit in Antwerpen auf, dann bin ich in gerader Richtung hierher gereist.“

Er nannte die einzelnen Hauptorte und war hiernach auf der Eisenbahn gereist, bis zu demselben Stationsorte, auf dem auch die Hein die Bahn verlassen hatte.

„Sie waren danach nicht in Ihrer Heimath?“

„Nein.“

„Warum nicht?“

„Ich hatte dort nichts zu thun, und meine Eltern sind todt.“

„Hatten Sie hier in der Gegend Geschäfte?“

„Nicht eigentlich Geschäfte, eine besondere Angelegenheit rief mich hierher.“

„Welche?“

Er veränderte zum ersten Male die Farbe und erröthete leise.

„Ich muß bitten, mir die Antwort zu erlassen,“ sagte er sehr bescheiden.

„Ich habe ein Recht zu der Frage,“ erklärte ich ihm.

Wieder völlig bescheiden, aber mit einer gewissen Festigkeit erwiderte er: „Ich habe einen Paß, er legitimirt mich, und ich meine, er müsse mich auch für mein Thun legitimiren, bis mir eine gesetzwidrige Handlung nachgewiesen wird.“

„Wenn aber meine Frage in Ihrem eigenen Interesse geschähe?“

„Ich werde abwarten, daß mir das klar wird.“

Er hatte nicht Unrecht darin. Sein Paß befand sich unter den Papieren, welche die Gensd’armen an mich abgeliefert hatten.

Diesen suchte ich hervor, und er stimmte in Allem mit seinen Angaben über sich, auch über seine Reiseroute. Auf seine Reise mußte ich zunächst zurückkommen.

„Auf welchem Schiffe haben Sie die Reise von Amerika nach Europa gemacht?“

Er nannte das Dampfschiff.

„Reisten Sie in Gesellschaft von Bekannten?“

„Man macht auf einer solchen Reise viele Bekanntschaften.“

„Könnten Sie mir einige Namen nennen?“

„O ja, verschiedene, amerikanische, englische und andere.“

„Auch deutsche? Auch von näheren Landsleuten?“

„Ich wüßte kaum.“

Er schien diese paar Worte doch erst nach einigem Widerstreben zu sprechen, und dann mit einem Vorbehalte, den er sich selbst machte. Gleich darauf glaubte ich eine gewisse Unruhe an ihm zu bemerken.

[385] Das ruhige, klare und offene Benehmen des jungen Mannes hatte bisher den günstigsten Eindruck auf mich gemacht. Ich konnte trotz der andern Anzeichen, die gegen ihn sprachen, nicht den geringsten Boden zu der Annahme gewinnen, daß ich einen Verbrecher, gar einen Raubmörder vor mir habe. War nur ein Funke von Schuldbewußtsein in ihm, so mußte er auf die Frage, die ich zuletzt an ihn gerichtet hatte, und auf die ferneren, die er danach erwarten konnte, von vornherein ebenso gefaßt gewesen sein, wie auf die früheren, die er mit voller Ruhe und Klarheit beantwortet hatte. Ich hatte nur einen Erklärungsgrund: eine Schwäche, die erst erschrickt, wenn die Gefahr nahe herantritt. Ich mußte die Gefahr für ihn beschleunigen.

„Waren Sie auf der Reise von Antwerpen bis hierher mit Deutschen zusammen?“

„Allerdings.“

„Waren Bekannte aus der hiesigen Gegend unter ihnen?“

Er zögerte wieder mit der Antwort.

„Ja,“ sagte er zuletzt leise.

„Können Sie von ihnen Jemanden nennen?“

Er schwieg und wurde unruhiger. Die Stirn wurde ihm feucht.

„Ist Ihnen der Name Franz Bauer bekannt?“

„Ja.“

Er sprach das Wort schnell, bestimmt aus. Er sah mich dabei voll und offen an, und es schien ihm wohl zu thun, daß er das konnte. Ich wurde in meinem Verdachte wieder irre.

„Wo haben Sie ihn kennen gelernt?“

„In Californien.“

„Hatten Sie dort mit ihm in Verbindung gestanden?“

„Nein. Ich war nur zufällig einige Male mit ihm in Berührung gekommen.“

„Haben Sie mit ihm gemeinschaftlich jenes Land verlassen?“

„Nein.“

„Wo trafen Sie ihn wieder?“

„In Antwerpen.“

„Blieben Sie zusammen?“

„Wir reisten von da an gemeinschaftlich bis in die Nähe seiner Heimath.“

„Diese ist?“

„Einige Meilen von hier.“

„Erzählen Sie, wie Sie ihn verließen.“

„Wir waren auf der letzten Eisenbahnstation angekommen. Auch von da an war unser weiterer Weg der nämliche. Wir trafen auf dem Bahnhofe der Station einen fremden Lohnkutscher, der Passagiere suchte, gleichviel wohin. Wir mietheten ihn und fuhren zusammen, bis von der Landstraße ein Seitenweg zu dem Heimathdorfe Bauers abging. Er wollte den Weg zu Fuße machen und stieg aus. Ich hätte vielleicht noch eine Viertelstunde auf der Chaussee weiter fahren können, bis ich an einen anderen Seitenweg kam, der mich, gerade in der entgegengesetzten Richtung, zu meinem Bestimmungsorte führte, und den ich gleichfalls zu Fuße zurücklegen wollte. Ich stieg aber, da der Wagen einmal hielt, gemeinschaftlich mit ihm aus. Auf der Landstraße sprachen wir noch einige Worte miteinander. Dann nahmen wir Abschied. Er ging seinen Weg links in einen Wald hinein. Ich blieb noch eine Zeitlang auf der Landstraße und schlug mich dann rechts nach dem Gebirge zu.“

Er hatte das Alles wieder ohne Zögern, offen und unbefangen erzählt. Auffallend konnte, mußte mir nur Eins sein: er hatte der dritten Reisegefährtin, der Antonie Hein, mit keiner Sylbe erwähnt.

„An welchem Tage war das?“ fragte ich.

„Am Sonnabend vor acht Tagen.“

„Zu welcher Tageszeit?“

„Am Abend, etwa zwischen acht und neun Uhr.“

„Waren Sie bekannt in der Gegend?“

„Ja.“

„Waren Sie oft hier gewesen?“

„Nicht oft.“

„In welcher Angelegenheit?“

„Es sind Jahre seitdem verflossen. Ich wüßte nicht, zu welchem Zwecke ich jetzt noch sollte Auskunft darüber geben müssen.“

Ich ließ den Punkt fallen. „Ist Ihnen auch der Weg bekannt,“ fragte ich weiter, „den Franz Bauer zu seinem Dorfe nehmen mußte?“

„Nein. Ich war in dem Dorfe und auf dem Wege dahin nie gewesen.“

„Haben Sie Franz Bauer seit jenem Abschiede wieder gesehen?“

„Nein.“

[386] „Hatte Bauer damals Sachen bei sich ?“

„Er trug nur eine Jagdtasche.“

„Ist Ihnen bekannt, was er in dieser Jagdtasche mit sich führte?“

„Er hatte es mir offen mitgetheilt, wie ich ihm auch meine Verhältnisse offenbart hatte. Außer einigen Bekleidungsgegenständen trug er in der Jagdtasche sein ganzes Vermögen mit sich. Meist in Werthpapieren, weniges in Gold.“

„Hat er Ihnen das Nähere darüber angegeben?“

„Er hat mir im Allgemeinen den Betrag angegeben, auf ungefähr dreißigtausend Dollars.“

„Führte er außerdem Werthgegenstände bei sich?“

„Eine goldene Taschenuhr. Auch einen Diamantring und einen größeren Siegelring.“

Man konnte nicht offener sein, als Grote in diesen Mittheilungen war. Und Alles sprach er unbefangen und ruhig, in dem sicheren Gefühle, daß nichts davon ihn angehe. Die Stirn war ihm schon längst wieder trocken geworden. Auf einmal sollte Alles wieder anders werden.

„Wo blieb nach Ihrem Abschiede von Bauer der Wagen, in dem Sie mit ihm gefahren waren?“

„Er fuhr auf der Landstraße weiter, schon während wir Abschied nahmen.“

Die Antwort gab er noch ruhig, mit leichtem Herzen.

„Waren Sie Beide allein in dem Wagen gefahren?“

Da wurde er unruhig. Er mußte sich Gewalt anthun, um, allerdings ohne Zögern, zu antworten.

„Nein,“ antwortete er, und die Stimme wollte, trotz jener Gewalt, nicht recht heraus.

„Wer war noch bei Ihnen?“

„Eine Dame.“

„Kannten Sie sie?“

„Nein.“

Er sprach das Wort mit klarer, fester Stimme. Aber ich sah es seinen Mienen an, daß er sich dazu noch mehr Gewalt hatte anthun müssen. Und ich war überzeugt, daß dieses Nein eine Lüge war, die erste, die er sagte. Konnte er noch unschuldig sein? Ich durfte mir nichts anmerken lassen.

„Wo waren Sie mit der Dame zusammengetroffen?“

„Auf jener Eisenbahnstation.“

„Erzählen Sie.“

„Sie hatte denselben Weg zu machen, wie Bauer und ich. Den Lohnkutscher hatte sie zufällig gefunden, wie wir. So kamen wir zusammen.“

„Wie lange blieben Sie beisammen?“

„Bis zu jener Trennung von Bauer. Sie fuhr, nachdem wir ausgestiegen waren, mit dem Wagen weiter.“

„Sie kennen auch den Namen der Dame nicht?“

„Nein.“

Es war die zweite Lüge. Der Schweiß war ihm auf die Stirn getreten.

„Wie sah die Dame aus?“

„Sie war jung, groß, etwas stark. Sie war elegant gekleidet.“

„Würden Sie sie wiedererkennen?“

„Gewiß.“

„War die Dame mit Bauer bekannt?“

„Ich weiß es nicht.“

Es war die dritte Lüge. Er konnte mir nur ungewiß und nur mit Anstrengung in die Augen sehen. Aber wozu diese Lüge? Ich suchte vergebens es zu ergründen. Er kam von jetzt an aus der Unwahrheit nicht wieder heraus. Alles betraf die Dame. Und ich hatte für das Fernere einen Grund.

„Ist Ihnen der Name Antonie Hein bekannt?“

„Nein.“

„Haben Sie die Dame seit jener Zeit wiedergesehen?“

„Nein.“

Dieses Nein sprach er wieder offener, freier. Aber konnte ich ihm glauben?

„Haben Sie von dem Schicksale Franz Bauers seit Ihrer Trennung von ihm gehört?“

„Ja. Ich habe vor zwei Tagen in einer Zeitung gelesen, daß er ermordet und beraubt gefunden ist. In jenem Walde, auf jenem Wege zu seiner Heimath. Es ergriff mich heftig.“

Die Worte waren halb gewiß und halb ungewiß: es war, als wenn er halb die Wahrheit und halb die Unwahrheit spreche.

„Wo haben Sie die Zeitung gelesen?“

„Zufällig im Gebirge.“

„Wissen Sie, warum Sie hierher gebracht sind?“

„Ich kann nach diesem Verhöre darüber nicht in Zweifel sein. Man hofft von mir Auskunft über das Verbrechen gegen Bauer.“

„Liegt Ihnen der Gedanke nicht nahe, daß Sie selbst verdächtig sein könnten?“

Es war das wieder eine Frage, oder vielmehr ein Vorhalt, worauf er längst vorbereitet sein mußte. Gleichwohl wurde er auf das Heftigste davon ergriffen. Er wurde blaß, wie die Wand des Zimmers. Auf dem Stuhle, auf dem er saß, bewegte er sich hin und her. Er erhob die Augen zu mir, er schlug sie wieder nieder. Er hatte mir etwas zu sagen, er konnte sich nicht dazu entschließen.

„Sehe ich aus wie ein Mörder?“ sagte er zuletzt. Und er sprach die Worte mit dem vollsten Ausdrucke der Wahrheit.

Und er konnte mit Recht so sagen. Dieses schöne, melancholische Gesicht mit dem großen dunklen, in diesem Augenblicke zwar unsicheren, aber dennoch immer treuen Auge, es war kein Gesicht eines Mörders. Aber warum sprach er die Unwahrheit? Warum machte er sich verdächtig? Er war kein starker Charakter. Er wäre sonst schon jener Lügen nicht fähig gewesen. Welcher Gewalt hatte er sich gebeugt, beugte er sich noch, sogar bis zu dieser Zähigkeit im Ableugnen der Wahrheit? Zähigkeit ist keine Festigkeit. Konnte ich diese Zähigkeit nicht brechen? Ich hatte schon vorher die Antonie Hein in ein Nebenzimmer bringen lassen. Durch ein Fenster in der Mauer konnte man aus der Verhörstube in das Zimmer sehen. An das Fenster führte ich den jungen Mann. Einen Vorhang, der es verdeckte, zog ich zurück. Die Dame saß in dem Zimmer so, daß ihr Blick in eine andere Richtung fiel, ihr Profil aber voll zu sehen war.

„Wen sehen Sie dort?“ fragte ich den jungen Mann.

Der Anblick der Dame machte einen erschütternden Eindruck auf ihn. Er brach fast zusammen.

„Meine Reisebegleiterin!“ preßte er hervor.

Ich verdeckte das Fenster wieder. „Antonie Hein!“ sagte ich.

Er schwieg und rang nach Fassung.

„Gefangener,“ sagte ich mit Nachdruck zu ihm, „Sie kennen die Dame.“

Er war noch wie erstarrt.

„Sie haben sie wiedergesehen. In der Nacht, an dem Morgen nach dem Morde.“

Auf einmal kehrte Leben in ihn zurück. Er richtete sich auf, wie im siegreichsten Gefühle der Wahrheit, stolz, vorwurfsvoll.

„Nein, Herr Criminalrichter, ich habe die Frau nicht wieder gesehen. Bei dem ewigen Gotte nicht. Bei meiner, bei Ihrer Seligkeit nicht!“

Was war das? War es Wahrheit? Ich wurde irre, denn ich hatte keinen festen Plan mehr und mußte mich selbst sammeln.

Das Verhör brach ich ab, da ich es erst wieder beginnen konnte, wenn ich Gewißheit darüber hatte, ob er in der Sonntagsnacht bei der Hein in dem Gebirgskruge gewesen war. Darüber mußte ich vorab den Krüger vernehmen und Antonie Hein selbst. Ich ließ sofort den Krüger vorladen, stellte ihm den Gefangenen Grote vor und legte diesem in seiner Gegenwart mehrere gleichgültige Fragen vor, damit er auch seine Stimme hören solle. Nach der Zurückführung des Gefangenen befragte ich ihn dann. Er war seiner Sache nicht vollkommen sicher. Er hatte den Fremden, der die Hein besuchte, nur bei einer trüben, ungewissen Beleuchtung und nur in jener tiefen Vermummung gesehen und hatte ihn nur mit gedämpfter, absichtlich verstellter Stimme sprechen hören. Aber die Größe und Gestalt schien ihm ganz die nämliche zu sein, ebenso das Haar und der Bart. Sei ihm jener Fremde auch rascher, beinahe stürmisch in seinen Bewegungen vorgekommen, so sei dieser Unterschied durch die Eigenthümlichkeit der damaligen und der heutigen Verhältnisse hinreichend erklärlich. Sei ihm ferner damals Haar und Bart des Mannes schwärzer und glänzender erschienen, so erkläre sich auch dies aus der Beleuchtung einer Nachtlampe gegenüber der heutigen Tageshelle. In Betreff der Stimme aber sei es ihm bei jener absichtlichen Verstellung genug, daß ihm in der Stimme des Grote heute kein Ton und kein Laut [387] begegnet sei, der sich mit jener verstellten Stimme nicht in Einklang bringen lasse. So glaubte der Zeuge, unbeschadet seines Gewissens, mindestens mit hohem Grade von Wahrscheinlichkeit versichern zu können, daß der ihm vorgestellte Grote jener nächtliche Besuch der Hein sei.

Ich ließ darauf zuerst die Hein vorführen. Jener ungewisse Blick des schuldigen Verbrechers, der einem neuen Zeugen zu begegnen fürchtet und ihn doch sucht, flog durch das Zimmer und dann in mein Auge.

„Fräulein,“ sagte ich zu ihr, „wenn ich Ihnen den Mann vorstelle, der Sie im Gebirgskruge besuchte, werden Sie ferner beim Leugnen bleiben?“

Eine fürchterliche Blässe zog durch ihr Gesicht.

„Er ist hier,“ fuhr ich fort. Ich konnte es sagen, mit der Ueberzeugung des Krügers.

Sie zitterte. Sie hatte keine Antwort.

„Sie antworten mir nicht? Sie zwingen mich dadurch, ihn in Ihre Gegenwart zu bringen.“

„Um Gotteswillen nicht!“ rief sie, wie entsetzt. Alle Kraft und Kunst der Verstellung war von ihr gewichen.

Ich glaubte den Augenblick gekommen zu sehen, ihr dringende Vorstellungen machen zu können. „Ihr Reisegefährte ist in meiner Hand,“ sagte ich, „derselbe Mann, der mit Ihnen zuletzt in der Gesellschaft des Ermordeten war. Glauben Sie, daß es mir jetzt noch schwer sein werde, von Ihnen die Wahrheit zu erfahren?“

Einen Augenblick noch hatte sie mich ängstlich durchbohrend angesehen, als wenn sie in die letzte Tiefe meines Innern blicken müsse; dann auf einmal athmete sie auf, ihr Blick wurde plötzlich frei, sicher.

„Er wird Ihnen bestätigt haben, was ich aussagte,“ erwiderte sie. „Wäre es anders, so haben Sie die Güte, ihn mir gegenüber zu stellen. Ich bin gefaßt darauf und wünsche es.“

„Und soeben erschraken Sie davor?“

„Es war im ersten Augenblick. Ich bin ein schwaches Weib.“

Sie sprach diese Worte beinahe mit Hohn, so sicher war sie auf einmal, und kaum eine Minute vorher jenes Entsetzen! Durch Grote konnte ich also nichts weiter erfahren, oder wußte er nichts? Aber warum dann seine eigene Angst und seine Unwahrheiten? War sie seiner Verschwiegenheit und Festigkeit gewiß? Ich hatte ihn im Gegentheil für keinen festen Charakter gehalten, und immer fehlte noch die Erklärung für den plötzlichen Uebergang vom höchsten Schreck zu der sicheren Ruhe. Dafür war nur eins anzunehmen: Grote war ihr Reisegefährte, nicht aber der Mann, der sie im Kruge besucht hatte. Nur diesen fürchtete sie; den Anderen jedoch, ihren Reisegefährten Grote, fürchtete sie nicht, trug vielmehr ein Verlangen, ihn zu sehen, mit ihm zusammengestellt zu werden; denselben Grote, der vor Schreck beinahe zusammenbrach, als er sie sah. Auf einmal glaubte ich es zu haben: sie war Mitschuldige, wenigstens schuldige Mitwisserin des Mordes; Grote war unschuldig, er konnte aber sie und den eigentlichen Mörder verrathen. Der Unbekannte, der sie in dem Gebirgskruge besucht hatte, war der Mörder, und wer war er? Er mußte in seinem Aeußeren Aehnlichkeit mit Grote haben, nur Haare und Bart waren schwärzer, glänzender, und das war die bis jetzt anzunehmende, bisher nicht beachtete Unähnlichkeit.

Grote aber mußte ihn kennen, und von ihm mußte ich also dennoch Auskunft erhalten; darum wünschte sie mit ihm zusammengestellt zu werden, denn auch sie kannte ihn als einen nicht festen Menschen. Sie mußte eine Gelegenheit haben, ihn zu kräftigen, ihn vor Verrath zu warnen, und dies ist gerade die gefährlichste Seite der gerichtlichen Confrontationen, weshalb ich Grote um so schleuniger vernehmen mußte. Ich schickte die Hein in das Gefängniß zurück und ließ Grote wieder vorführen, dessen Charakter mir jetzt noch klarer geworden war. Er dachte nicht an die noch entferntere, er erschrak vor der nahen Gefahr. Ich legte ihm den bei der Hein gefundenen Ring vor.

„Kennen Sie diesen Ring?“

Er wurde sofort wieder unruhig. „Ich glaube,“ sagte er, „wenn ich nicht irre, so habe ich ihn an der Hand des unglücklichen Bauer gesehen.“

„Er ist im Besitz der Antonie Hein gefunden worden.“

Er starrte mich ungewiß an, denn er hatte den Namen nicht kennen wollen.

„Im Besitz Ihrer Reisegefährtin wurde er gefunden,“ fuhr ich fort.

Der Angstschweiß brach ihm schon jetzt aus.

„Erklären Sie sich den Umstand?“ fragte ich.

Er schwieg noch immer.

„Oder können Sie gar bestimmte Auskunft darüber geben?“

„Nein,“ antwortete er hastig.

„Also eine Erklärung hätten Sie?“

„Nein, ich weiß nichts davon,“ sagte er zögernder.

„Herr Grote,“ ermahnte ich ihn, „bedenken Sie Ihre Lage, bevor Sie mir weiter antworten. Sie und die Hein, jenes Frauenzimmer, das Sie hier sahen, sind die letzten Personen, die in der Gesellschaft des Ermordeten gesehen worden sind.“

„Ich weiß das nicht.“

„Sie sind in der Nähe seiner Ermordung bei ihm gewesen. Geben Sie das zu?“

„Ich kann es nicht leugnen.“

„Wenige Stunden vor dem Verbrechen.“

„Auch das ist wahr.“

„Der Ermordete ist seines ganzen Vermögens beraubt worden.“

„Ich kann nichts darauf entgegnen.“

„Sie wußten, daß er dieses bei sich trug.“

„Er hatte es mir gesagt.“

„Sie sind seitdem im Besitze eines bedeutenden Vermögens gefunden worden.“

„Ich hatte es schon früher und habe es mir redlich erworben.“

„Haben Sie Beweise dafür?“

Er verstummte.

„Aber weiter. Die Hein ist im Besitze des Ringes des Ermordeten; hat auch sie ihn ehrlich erworben?“

„Ich weiß es nicht.“

„Sie haben seit dem Verbrechen die Hein geheimnißvoll besucht?“

„Nein, nein.“

„Der Krüger hat Sie mit der größten Wahrscheinlichkeit wiedererkannt?“

„Ich war es nicht, er hat sich geirrt.“

„Er ist bereit, es zu beschwören, und wird es Ihnen in das Gesicht sagen.“

„Er schwört falsch.“

„Es war in der Sonntagsnacht vor acht Tagen; können Sie beweisen, wo Sie damals waren?“

Er starrte in einer unbeschreiblichen Unruhe und Angst vor sich hin; noch zwei oder drei Schläge, und ich mußte ihn haben. Es waren grausame Schläge, die ich nach ihm führte, Schläge einer entsetzlichen moralischen Tortur; aber rief er sie, indem er dem Rechte sein Recht nicht werden lassen wollte, nicht selber als Acte der Gerschtigkeit hervor?

„Wo waren Sie in jener Nacht?“ wiederholte ich.

„Ich habe keine Beweise darüber.“

„Ah, Sie können also das Zeugniß des Mannes nicht falsch machen; es wird aber auch anderweit bestätigt, durch Sie selbst.“

„Durch mich?“

„Als ich Ihnen vor einigen Tagen durch jenes Fenster die Hein zeigte, erschraken Sie, wie vor einem Blutzeugen.“

Er mußte wieder verstummen, und ich kam zum Schlusse.

„Erwägen Sie alle diese Momente und fällen Sie dann selbst Ihr Urtheil. Welcher Richter, welcher Geschworene wird und kann Sie für unschuldig halten?“

Der Schweiß floß ihm von der Stirn, und ich hörte fast die Tropfen auf die Erde fallen.

„Nehmen Sie dazu noch Ihr verborgenes, geheimnißvolles Herumschweifen in dieser Gegend, über das Sie keinem Menschen Auskunft geben können, und jetzt antworten Sie mir.“

Er wollte mir eine Antwort geben, aber es war kein Geständniß, ich sah es ihm an und kam ihm deshalb zuvor.

„Es gibt in der Welt nur ein Mittel, das Sie retten kann, und Sie haben es in Ihrer Gewalt.“

„Ich?“ rief er.

„Legen Sie ein offenes Geständniß ab.“

Er blickte heftig zu mir auf, denn ich hatte die richtige Seite getroffen.

„Sind Sie unschuldig, so können Sie es nur noch dadurch [388] beweisen, daß Sie durch Angabe der Wahrheit den eigentlichen Schuldigen erkennen lassen. Sie wissen die Wahrheit; ist es so?“

Seine Augen waren wieder auf mich gerichtet.

„Es ist so!“ sagten sie. Aber seine Lippen konnten es nicht aussprechen. Er war unschuldig, ich konnte nicht mehr daran zweifeln; aber er kannte den Thäter, woran ich ebenfalls nicht mehr zweifeln konnte. Welche furchtbare Gewalt aber hielt ihn zurück, den Mörder zu nennen?

„Unglücklicher, wollen Sie sich dem Beile des Henkers überliefern?“

„Ich kann nicht! Ich kann nicht!“ rief er in Todesangst.

Er bedeckte sein Gesicht mit beiden Händen; dann sah er mich wieder an, und ich glaubte in das Gesicht eines Sterbenden zu blicken.

„Sein Sie barmherzig,“ bat er, „und lassen Sie mich abführen, es ist mir, als gehe es mit mir zu Ende, lassen Sie mich in Ruhe sterben.“

„Und Sie wollen nicht durch die Wahrheit Ihre Ehre, Ihr Gewissen retten?“

„Sein Sie barmherzig.“

Ich mußte es sein, denn er war unschuldig; aber wer war der Thäter? Durch wen sollte ich ihn entdecken? Vielleicht noch durch Grote? Er war nicht blos zähe, er hatte mehr Festigkeit, weit mehr moralische Festigkeit, als ich ihm jemals zugetraut hatte. Und es mußten sittlich anzuerkennende, vielleicht an sich gar edle Motive sein, die sie ihm gaben. Durch die Hein? Ich konnte, namentlich seitdem sie dem jungen Manne gegenübergestellt werden wollte, in ihr nur immer mehr eine moralisch verdorbene, geriebene Person finden. Was war von ihr zu erwarten? Was vermag alle Kunst des Inquirenten, wenn ihm nicht Glück und Zufall zu Hülfe kommen?

Ich hatte Signalement und Reiseroute der Hein durch die öffentlichen Blätter bekannt machen lassen und zur Auskunft über sie aufgefordert; ich erwartete Nachricht über sie, und erst wenn eine solche einging, konnte ich weiter verfahren. Es kam keine; statt ihrer aber kam am vierten Tage nach den letzten Verhören der Inspector des Gefängnißhauses zu mir.

„Die Antonie Hein ist heute Nacht entwichen,“ sagte er.

„Wie war das möglich? –“

Zu Gefangenwärtern wurden vorzugsweise Unterofficiere genommen, Unterofficiere, die sich ausgezeichnet hatten; manche wurden vom Regiment – weggelobt, und man konnte sich dann, wenn sie einmal da waren, ihrer nur wieder entledigen, wenn man sie ebenfalls hätte wegloben wollen, oder wenn sie einen dummen oder schlechten Streich gemacht hatten, und es also zu spät war. Auch unter den Gefangenwärtern des Criminalgerichts war ein weggelobter Unterofficier, ein hübscher Mensch, der gern hübsche Frauen sah. Seine Station aber war in einem ganz anderen Revier, als das, in dem die Hein saß. Sein Dienst konnte ihn gar nicht mit ihr zusammenführen, und Niemand wußte, daß er sie auch sonst gesehen hätte. Dennoch fiel mein Verdacht auf ihn, wie auch der des Inspectors. Wir forschten nach, combinirten, ermittelten Einzelnes und hatten zuletzt das Ganze: er hatte sie entfliehen lassen. Sie war wirklich eine eben so verworfene, wie geriebene Person, welcher er in seinem Leichtsinn nicht hatte widerstehen können; auch hatte er ihr außerdem vor ihrer Flucht ein Billet an den Gefangenen Grote bestellt. Er wurde für die Zukunft unschädlich gemacht, aber für die Untersuchung war der Schade einmal da. Und doch nicht. Auch ein „zwölf Jahre gedienter“ Unterofficier sollte einmal durch ein Verbrechen etwas Gutes stiften.

Schon wenige Stunden nach der Entdeckung der Flucht der Hein hatte ich Alles heraus, auch das eigene Geständniß des Schuldigen. Wohin aber war sie entflohen? Darauf kam mir zunächst Alles an. Der Gefangenwärter hatte ihr einen Wagen verschafft. Sie hatte ihm nur allgemein gesagt, daß sie zur nächsten Grenze wolle, weshalb ich nach allen Richtungen dem Wagen nachsetzen ließ; dann vernahm ich Grote über das Billet. Er leugnete den Empfang desselben nicht, hatte es aber sofort verbrannt; aber er theilte, mit allem Anschein von Offenheit, dessen Inhalt mit. Sie hatte ihn ermahnt, standhaft zu sein; Niemand könne ihm etwas anhaben. Weiter hatte in dem Zettel nichts gestanden.

„Ein neuer Beweis gegen Sie,“ hielt ich ihm vor, „daß Sie freventlich die Wahrheit verschweigen.“

„Ich kann nicht anders, so wahr ich unschuldig bin und Gott mir helfen möge,“ war seine einzige Antwort.

Die Gensd’armen und Polizeibeamten, die den Wagen verfolgt hatten, kamen zurück. Den Wagen hatte Keiner angetroffen, seine Spur aber ein Einziger, ein Gensd’arm, und zwar ein Gensd’arm, der sich klug benommen hatte, und ferner klug benahm. Er ließ sich sofort nach seiner Rückkehr bei mir melden und rapportirte Folgendes:

Er hatte die Verfolgung des Wagens in der Richtung nach dem Kruge gehabt, in dem ich die Entflohene verhaftet hatte. Erst fünf Meilen von der Stadt, erst weit jenseits des Kruges, hatte er die erste Kunde von ihm erhalten. Die Flucht hatte um Mitternacht stattgefunden; gegen Morgen war der Wagen auf dem Wege zur Landesgrenze hin gesehen worden, und er folgte dem bezeichneten Wege. Eine Meile weiter erhielt er die zweite Nachricht, nach welcher der Wagen weiter zur Grenze gefahren war, jedoch leer; nur der Kutscher hatte auf dem Bocke gesessen, im Wagen aber Niemand. Eine dritte Nachricht gab ihm den Schlüssel, indem eine Köhlerfrau ein einzelnes Frauenzimmer von jener Landstraße her quer durch Wald und Gebirge hatte eilen sehen.

Ohne einen Schritt weiter hinter dem leeren Wagen herzureiten, oder mit einem einzigen Menschen weiter ein Wort zu sprechen, war der Gensd’arm eilends zurückgekehrt, um mir das Erfahrene, aber auch Folgendes mitzutheilen, das er schon vor einiger Zeit erfahren, das aber jetzt erst auf einmal eine Bedeutung für ihn gewonnen hatte: In dem benachbarten Kreise, nicht weit von der Grenze des Gerichtsbezirks, lag ein adliges Gut, die Diburg genannt, welches einer alten freiherrlichen Familie des Landes gehörte, die aber schon seit vielen Jahren verarmt war und sich nur noch dadurch zu erhalten vermocht hatte, daß von Jahr zu Jahr mehr Stücke von dem Gute verkauft wurden. Zuletzt war nur noch das Schloß Diburg mit einem Garten, einer kleinen Holzung und einigen Morgen Ackerland da, und das so Uebriggebliebene war verfallen genug. Es war seit ungefähr zehn Jahren in dem Besitze zweier Geschwister, der letzten Sprößlinge der alten freiherrlichen Familie von Lengnau. Der Sohn hatte das Gut – wenn jene wenigen Stücke noch den Namen verdienten – von seinem Vater übernommen und die Schwester wohnte bei ihm auf dem Schlosse. Der Sohn war bei dem Tode des Vaters einige zwanzig, die Tochter dreizehn bis vierzehn Jahre alt gewesen. Beide hatten nichts als den ärmlichen Gutsrest. Der Sohn hatte auch nichts gelernt, denn dem Vater hatte es an Mitteln gefehlt, ihn einer standesmäßigen Bestimmung zu widmen. Er selbst hatte zu keiner ernsten Beschäftigung Lust gehabt, und so war er unter Jägern auf der Jagd, unter Knechten auf dem Felde, unter Rohheiten überall aufgewachsen. Er war bald der Roheste von Allen geworden, und eine Bösartigkeit des Charakters wurde ihm allgemein nachgesagt.

Der jüngeren Schwester hatte, trotz ihres sanften, weichen Gemüthes, das Unglück gedroht, nicht viel anders als ihr Bruder zu werden, eine entfernte Verwandte jedoch hatte sich ihrer angenommen und sie zu sich in eine größere Stadt gebracht, in der sie lebte. Das Fräulein hatte hier eine vortreffliche Erziehung genossen. Aber auf einmal hatte ihr Bruder sie aus der Stadt zurückgeholt und nach Schloß Diburg geführt; dort hatte sie bleiben müssen, eine Veranlassung dazu kannte Niemand. Das Fräulein war weinend und traurig zurückgekehrt, und man hatte sie in der ersten Zeit fast nur in Thränen gesehen, dann hatte sie in einem stillen Grame sich mehr und mehr abgezehrt. Sie war zur Zeit ihrer Rückkehr ungefähr neunzehn Jahre alt gewesen. Wenige Monate nach ihrer Rückkehr in das Schloß war ihr Bruder, der Freiherr, plötzlich verschwunden; Niemand wußte wohin, Niemand auch warum. Man konnte sich nur in ungewissen Conjecturen verlieren, die in seinem wilden, wüsten Sinn und in seinen öfteren Versicherungen, er werde sein Glück in der weiten Welt suchen, ihren Grund hatten. Seine Schwester war auch nach seiner Entfernung in dem alten, einsamen Schlosse geblieben, und es hieß, der Bruder habe ihr unter Drohungen verboten, das Schloß zu verlassen. Von ihm hatte man nie wieder etwas vernommen, auch hatte er seiner Schwester nicht die geringste Nachricht von sich gegeben.

[401] So waren fünf Jahre seit der Entfernung des Freiherrn verflossen. Auf einmal, seit etwa acht Tagen, hieß es, der Freiherr Dietrich von Lengnau sei zurückgekehrt und habe ungeheure Reichthümer mitgebracht. Er gehe damit um, Alles, was seine Vorfahren von dem Gute Diburg veräußert hätten, zurückzukaufen, das Schloß prachtvoll auszubauen, und so das Gut Diburg in einem Glanze wieder herzustellen, wie es des alten, stolzen freiherrlichen Geschlechts würdig sei. Wo er in den fünf Jahren gewesen, darüber hatte er mit keiner Sylbe sich ausgelassen. Geändert hatte er sich in der Zeit nicht; sein Benehmen war vielmehr noch roher und wüster als vorher, und sein Aussehen, obwohl er ein hübscher Mann war, so abschreckend, daß die Leute sagten, er müsse ganz besondere Dinge in der Welt getrieben haben und zu Allem in der Welt fähig sein. Er war ganz allein zurückgekehrt; aber schon am zweiten Tage nach seiner Ankunft hatte er befohlen, einige Gemächer im Schlosse zur Aufnahme einer Dame, die er in den nächsten Tagen erwarte, in Stand zu setzen.

Das waren die Nachrichten, die der Gensd’arm mir mittheilte. Er hatte sie theils aus früherer Erinnerung, er war längere Zeit in dem Nachbarkreise stationirt gewesen, und die neueren hatten ihm Gensd’armen jenes Kreises erzählt, mit denen er aus der früheren Zeit noch in Verbindung stand. Wenige Tage nach der Ermordung Bauers war der Freiherr von Lengnau nach Schloß Diburg zurückgekehrt. Er erwartete eine Dame. Drei Meilen von Diburg hatte Antonie Hein, in dem einsamen Gebirgskruge, sich versteckt aufgehalten. Nach Schloß Diburg hin war die Entflohene, nach Verlassung des Wagens, quer durch den Wald geeilt.

Der brave und eben so umsichtige Gensd’arm überließ es mir, die Schlußfolgerung, die er aus dem Allem nur unbestimmt gezogen, genauer und klarer festzustellen. Ich glaubte es zu können. Er vermuthete, daß der Freiherr von Lengnau der Mitschuldige der bereits in Untersuchung befangenen Personen sei. Ich wußte, daß Grote nicht schuldig sein könne, und mir war es klar, daß der eigentliche Schuldige noch im Bereich der Gerichte sein müsse; auch wußte ich, daß Antonie Hein in dem Gebirgskruge den heimlichen Besuch gehabt hatte, und daß Grote dies nicht gewesen sei. Die Hein war im Besitze eines Ringes des Ermordeten.

„Kennen Sie den Freiherrn von Person?“ fragte ich den Gensd’armen.

„Er ist ein großer, wohlgewachsener Mann.“

„Wahrscheinlich rasch in seinen Bewegungen?“

„Gewiß.“

„Sein Haar?“

„Lockig und glänzend schwarz.“

„Und sein Bart?“

„Er trug früher keinen; ob jetzt, weiß ich nicht.“

Aber ich glaubte genug zu haben, um die Merkmale jenes nächtlichen Besuchs, die auf Grote nicht völlig hatten passen wollen, in dem Freiherrn von Lengnau wiederzufinden. Daß Antonie Hein in vornehmer Gesellschaft gelebt habe, ohne zu ihr zu gehören, konnte man ihr wohl ansehen. Konnte, mußte sie nicht in solcher Weise dem Freiherrn angehören? Dann durchflog mich noch eine sonderbare Ahnung in Betreff der Beziehung Grote’s zu dem Freiherrn von Lengnau; aber darüber konnte der Gensd’arm mir keine Auskunft geben. Grote selbst sollte es; auch über Anderes. Vor allen Dingen that die größte Eile noth.

Waren die gemachten Conjecturen richtig, so war Folgendes klar: Die Hein war zu dem Freiherrn geflohen, um einerseits ihn von der Lage der Untersuchung und seiner eigenen Gefahr zu unterrichten, und um andererseits mit seiner Hülfe sicherer aus dem Bereiche der deutschen und überhaupt europäischen Gerichte zu entkommen, als sie ohne den Beistand eines solchen erfahrenen und verwegenen Mannes hoffen durfte. Es war vorauszusehen, daß er sie sobald wie möglich wegschaffen werde. Anzunehmen war, daß er sich zugleich mit ihr entfernen, jedenfalls, daß er auf Grund ihrer Mittheilungen jede noch etwa vorhandene und in seinem Besitz befindliche Spur, die ihn verdächtigen konnte, vernichten oder sonst beseitigen werde. Ich dachte an die Uhr des Ermordeten, den zweiten Ring, etwaige Papiere. Ich traf sofort Anstalten zu der Abreise nach Schloß Diburg.

Das Schloß lag zwar in einem fremden Gerichtsbezirk, und nur der zuständige Richter hätte Durchsuchungen, Verhaftungen und Vernehmungen dort bewirken können. Aber Rücksichten auf Formverstöße wies die Dringlichkeit des Falles zurück. Im Uebrigen hatte ich ausreichenden Grund zu einer gerichtlichen Recherche in dem Schlosse: den dringenden Verdacht, daß die aus den Gerichtsgefängnissen Entflohene Aufnahme dort gefunden habe. Ein Verhör Grote’s sollte mir hoffentlich zu Weiterem Veranlassung geben. Ich ließ ihn wieder vorführen, denn ich mußte ihn sofort fassen.

„Kennen Sie den Freiherrn Dietrich von Lengnau?“

Er erschrak auf den Tod und konnte nicht antworten. Aber leugnen konnte er nach diesem Erschrecken nicht mehr.

[402] „Kennen Sie ihn?“ wiederholte ich.

„Ja,“ stöhnte er hervor.

„Auch seine Schwester?“

Es war, als wenn der Tod ihm an das Herz trete. Er mußte sich auf einen Stuhl niederlassen.

„Ja,“ zitterte es dann über seine bleichen Lippen.

Meine Ahnung war gerechtfertigt; ich kannte das Motiv seines bisherigen Leugnens, warum er selbst unter dem Verdachte, unter der Beschuldigung des schwersten Verbrechens stehen und den wahren Verbrecher nicht verrathen wollte. Sollte die Kenntniß des Motivs mich zu weiteren Entdeckungen führen?

„Wo hatten Sie das Fräulein kennen gelernt?“ fragte ich ihn weiter.

Er hatte sich wieder etwas gesammelt und sann nach, ob er, wie früher, meinen Fragen ein Schweigen entgegensetzen solle.

„Bedenken Sie,“ ermahnte ich ihn, „daß ich Sie hier nach einem Umstande frage, der jeden Augenblick durch Nachfrage an dem Orte, wo das Fräulein war, festgestellt werden kann.“

Er überzeugte sich und nannte einen deutschen Handelsplatz, an dem er früher Commis gewesen war.

„Wie lernten Sie sie kennen?“

„Sie lebte dort bei einer Verwandten.“

„Standen Sie in näherer Beziehung zu ihr?“

Er mußte sich lange besinnen, ob er auch darauf antworten solle.

„Wir liebten uns,“ sagte er dann leise und erröthend.

Die Antwort konnte mich nicht überraschen.

„Wann war das?“

„Vor etwa fünf Jahren.“

„Mußten Sie sich von ihr trennen?“

„Ihr Bruder holte sie ab. Er wollte nie eine Verbindung zwischen uns zugeben, wegen der Standesverschiedenheit.“

„Haben Sie sie seitdem wiedergesehen?“

„Zu jener Zeit nicht; sie war auf dem Schlosse Diburg wie eine Gefangene gehalten.“

„Sie waren also dort?“

„Ich suchte vergebens in das Schloß zu kommen; ihr Bruder drohte mich zu erschießen, wenn er mich treffe. So hatte er auch seinem Jäger befohlen.“

„Trauten Sie ihm eine Verwirklichung seiner Drohung zu?“

„Ich mußte es nach seinem heftigen und gewaltthätigen Charakter.“

„Sie haben sich jetzt wieder in der Gegend aufgehalten und wollten mir bisher Ihren Zweck nicht angeben?“

„Ich kann es nun. Der eigentliche Grund meiner Auswanderung nach Amerika war, mir schnell ein Vermögen zu erwerben, um dann dennoch Sophien von Lengnau meine Hand anbieten zu können. Ich eilte nach meiner Rückkehr zu ihr. Da war auch ihr Bruder nach langer Abwesenheit zurückgekommen und brachte seinen ganzen unbeugsamen Familienstolz mit. Sophie liebte mich noch. Ich suchte sie zu einer Flucht mit mir zu bereden. Darüber wurde ich verhaftet.“

„Wo haben Sie zuerst den Freiherrn kennen gelernt?“

„Schon in jener Handelsstadt, als er die Schwester abholte.“

„Haben Sie ihn seitdem oft wiedergesehen?“

„Bei meinen Versuchen, Sophie in Diburg zu sprechen.“

„Außerdem nicht?“

„Nein,“ antwortete er, aber wieder mit jenen untrüglichen Zeichen, daß er die Unwahrheit spreche. Sie waren für mich ein neuer Beweis für die Schuld des Freiherrn. Ich sagte ihm das, und er schwieg; aber sein Blick sagte mir desto deutlicher, warum er schwieg, warum er schweigen mußte, konnte er den Bruder der Geliebten unter das Beil des Henkers liefern? Das war das Räthsel seines ganzen Benehmens und der Schlüssel der Auflösung. – Ich hatte Grund und Pflicht zu jedem Einschreiten auf Schloß Diburg und reiste dahin ab. Es war am zweiten Tage nach der Flucht der Hein. Der Gensd’arm war mit seinen Nachrichten erst gegen Mittag des Tages zurückgekommen, und erst nach Mittag konnte ich abreisen. Das Schloß Diburg war an sechs Meilen entfernt. Der Weg ging durch das Gebirge und war schlecht. Vor dem späten Abend konnte ich das Schloß nicht erreichen; freilich auch nur bei Nacht durfte ich dort ankommen, wenn ich einen Erfolg erzielen wollte.

Waren der Freiherr und die Hein noch da, so mußte ich schon mitten im Schlosse sein, ehe sie nur den Versuch machen konnten, durch den geheimen Ausgang des Schlosses zu entfliehen. Daß sie noch da seien, davon mußte ich ausgehen. Es war auch Wahrscheinlichkeit vorhanden. Der Freiherr wußte durch die Hein, daß in der Untersuchung bisher nicht einmal sein Name genannt war. Die Hein mußte in den ersten Tagen nach ihrer Flucht auf allen Wegen Steckbriefe und Gensd’armen in ihrer Verfolgung wissen.

Es war längst dunkler Abend, als ich unter Führung des Gensd’armen an einem einzelnen Hause anlangte, das noch etwa eine halbe Meile von Diburg entfernt lag. Es lag schon in dem jenseitigen Kreise. Ein ehemaliger Schulze wohnte darin, ein zuverlässiger, mit allen Persönlichkeiten und Verhältnissen der Gegend vertrauter Mann, ein alter Bekannter des Gensd’armen. Er sollte die noch erforderliche Auskunft geben; bei ihm und mit ihm sollte das Weitere berathen werden. Ich war auf Umwegen hingefahren, und die Gensd’armen und Executoren, die ich noch mitgenommen, hatten auf anderen Wegen hinreiten müssen, alle so einzeln und still und verborgen wie möglich, alle bewaffnet, aber nicht in Uniform.

Bei dem alten Schulze, welchen wir zu Hause antrafen, kamen wir zusammen. Er war ein erfahrener und kluger, schon bejahrter, aber noch außerordentlich rüstiger und kräftiger Mann. Er hatte früher als Schulze sich für Alles interessirt und mußte jetzt noch Alles wissen. Mit ihm beriethen wir, aber er stellte meine Aufgabe fast als verzweiflungsvoll dar.

Das Schloß Diburg hing wie ein Krähennest an einem steilen Bergabhange und war nach allen Seiten mit Mauern umgeben; selbst durch eine Belagerung war es nur von einer Seite zu nehmen, und während es dort genommen wurde, gingen die Belagerten von der anderen Seite ruhig und sicher an dem jähen Abgrunde auf verdeckten Schleichwegen hinunter, die nur ihnen bekannt und nur ihnen nicht gefährlich waren. Dazu die Persönlichkeit des Besitzers. Er war schon vor seiner Auswanderung in der ganzen Gegend als einer der verwegensten und gewaltthätigsten Menschen gefürchtet. Es steckte der echte, nichts achtende und nichts schonende Raubritter des Mittelalters in ihm. Seit seiner Rückkehr sollte er noch wilder und unbändiger geworden sein; er hätte zugleich den rohesten Uebermuth des Geldes mitgebracht. In Schloß Diburg hatte er seine alten Genossen um sich versammelt, den Auswurf der unteren Stände der Gegend: verkommene Jäger, bestrafte Wilddiebe, verliederlichte Bauerbursche. Mit ihnen führte er ein Leben, so roh und gemein, wie die Menschen selbst, mit denen er es führte. Wie sie mit ihm roh und gemein waren, so waren sie auch mit ihm verwegen und gewaltthätig. Große Hunde dienten ihnen zur Jagd, zu ihren rohen Späßen, zur Sicherheit. War jetzt die entflohene Hein da, war sie die Genossin des Freiherrn, so war die wüste Gesellschaft des Schlosses nicht nur möglichst auf der Hut vor einem Ueberfalle, sie mußte auch immer bereit sein, ihren Herrn und Meister gegen jeden Angriff auf das Aeußerste zu vertheidigen. Daß die Hein angekommen sei, davon wußte der alte Schulze nichts. Nach der Schwester des Freiherrn mußte ich noch fragen.

Der alte Mann schüttelte traurig den Kopf. „O, das ist eine unglückliche Geschichte. Das Fräulein ist ein Engel mitten in der Höllenwirthschaft da. Sie hat nur noch eine Hoffnung, daß der Himmel sie bald erlösen werde, Sie hatte sich vor vielen Jahren mit einem braven jungen Manne verlobt; aber er war ein Bürgerlicher, und der Freiherr wollte die Verbindung nicht zugeben. Sie fürchtete den Zorn des Bruders und unterwarf sich seinem Willen. Seitdem zehrt sie da oben ab, still und leidend, und ohne andere Hoffnung, als auf den Himmel.“

Bruder und Schwester waren die letzten Sprossen des alten und einst stolzen und mächtigen freiherrlichen Geschlechts von Lengnau auf Schloß Diburg.

„Ist Dienerschaft im Schlosse?“ erkundigte ich mich noch.

„Das Fräulein lebte früher mit einer alten Magd da. Ob der Bruder sie als Zeugin seines wüsten Treibens da gelassen hat, weiß ich nicht. Ein alter Diener ist sicher geblieben,“ antwortete mir der Schulze.

„Woher entnehmen Sie diese Sicherheit?“

„Der Mann ist ein altes Familienstück des Hauses; er ist uralt und war schon ein Greis, als ich noch ein Knabe war. Er ist der einzige ehrliche Mann im Schlosse. Der Freiherr haßt ihn, weil er ehrlich ist und ihn von früh her zum Bessern ermahnt hat, aber ihn aus dem Schlosse zu werfen, hat er nie gewagt. Er ist der Schutzengel des armen Fräuleins.“

[403] Die Berathungen mußten zu einem Entschlusse führen, vielmehr zu der Ausführung eines Entschlusses. Denn daß ich in das Schloß hinein mußte, um dort weiter für die Zwecke der Untersuchung zu handeln, war für meine Pflicht keine Frage. Es kam nur darauf an, wann und wie vorangegangen werden sollte. Ein sofortiger, nächtlicher Ueberfall erschien nach Allem das Rathsamste. Er allein bot die Chance einer Ueberraschung, auf die Alles ankam. Er war dafür mit persönlicher Gefahr verknüpft. Bei Tage und wenn ich, ohne überfallen oder überraschen zu wollen, offen im Namen des Gesetzes Einlaß in das Schloß verlangte, war eine Widersetzung, wenigstens eine thätliche, bewaffnete, nicht wohl zu befürchten. Es stand dann aber auch den Verfolgten sicheres Entkommen und sicheres Vernichten aller Beweisstücke frei. Ich glaubte keine Wahl zu haben. Auf Gefahr, auf einen Kampf, auf einen erbitterten Kampf sogar mit den rohen Gesellen war ich gefaßt und brach sofort auf. Der alte Schulze schloß sich an mich an, eben so noch ein in der Nähe stationirter Gensd’arm des Kreises, den einer von meinen Leuten unterdeß herbeigerufen hatte.

Es waren unser im Ganzen zehn Personen. Zwei Gerichtsexecutoren und vier Gensd’armen hatte ich mitgebracht; dazu der Schulze und der Gensd’arm des Kreises; endlich mein Secretair und ich. Der Secretair war ein alter Mann. Ich wollte ihn einer Gefahr nicht aussetzen und ließ ihn in der Wohnung des Schulzen zurück. Wir neun Andern machten uns auf den Weg. Wir waren sämmtlich bewaffnet. Fünf von uns gingen zu Fuß. Ein Executor und drei Gensd’armen blieben zu Pferde; für den Fall, daß eine schleunige Verfolgung Noth thue. Unser Operationsplan stand vorläufig nur im Allgemeinen fest. Ein Theil von uns sollte Einlaß in das Schloß suchen, der andere unterdeß thunlich die Ausgänge des Schlosses besetzen. Das Einzelne konnte erst Angesichts des Schlosses festgestellt werden.

Es war ein dunkler Octoberabend. Kein Stern am Himmel. Ein heftiger Westwind zog über das Land. In dem Walde hörte man ihn brausen. Das Haus des Schulzen lag in einer Bergschlucht. Der Weg zu dem Schlosse Diburg führte eine Zeitlang durch die Schlucht, dann einen Berg hinan, der mit Wald bedeckt war. Oben auf der Höhe, sagte der Schulze, liege das Schloß. Wir stiegen immer hinan, fast eine ganze Stunde lang. Der Wald verließ uns nicht. Anfangs gingen wir in einem schmalen, sich den Berg hinauf windenden Fahrwege. Bald verließen wir seine Krümmungen. Der Schulze führte uns in geraderer Richtung auf keinem gebahnten Wege, aber sicher unter den Bäumen weg. Er war hier überall bekannt. Wir hatten so den doppelten Vortheil, schneller an unserem Ziele anzulangen und Niemandem zu begegnen. Wir begegneten wirklich Niemandem und hörten auch kein Geräusch. Der Wind strich mitunter heulend durch die Bäume; das war der einzige Ton, der an unser Ohr schlug. Wir erreichten die Höhe des Berges, das Ende des Waldes. In der Dunkelheit lag eine dunkle Fläche vor uns. Sie lief hinten spitz zu. An der Spitze war eine Erhöhung.

„Das Schloß Diburg,“ sagte der Schulze. „Es liegt auf einem Felsen; es ist fast in den Felsen hineingebaut. Auf seiner anderen Seite ist unmittelbar jäher Abgrund; Fels und Mauern reichen steil hinein. Dort sind die verborgenen Ausgangspfade, die nur der Schloßherr kennt. Unten ist wieder dichter Wald.“

Wir hatten Halt gemacht. Wir konnten etwa zehn Minuten von dem Schlosse entfernt sein. Ein Licht war nicht darin zu sehen, Geräusch nicht zu hören. Wir gingen weiter, auf das Schloß zu. Wir waren auf ehemaligem Waldboden. Die Bäume, die dort gestanden, hatte der Schloßherr wohl schon vor Jahren zu Gelde gemacht, vielleicht schon der Vater des jetzigen. Der Grund war dann unbebaut liegen geblieben. Nach ein paar Minuten kamen wir an einen Weg. Er führte in gerader Linie auf das Schloß zu. Von diesem konnte man jetzt die Umrisse erkennen. Wir waren bis dahin beisammen geblieben. Es mußte nun zunächst, und zwar mit der größten Vorsicht, recognoscirt werden.

Ich ging mit dem Schulzen allein weiter, nach dem Schlosse hin. Wir blieben in dem Wege. Er führte bald zwischen Land, das Spuren einer Bebauung zeigte. Aber wie alt mußte diese sein! Es war einst ein Park hier gewesen, der Schloßpark. Man sah jetzt nur Verfall, Verwüstung. Wir kamen näher an das Schloß selbst. Seine Umrisse zeigten sich trotz der Dunkelheit deutlicher. Es war kein weites Gebäude. Der Felsenvorsprung, auf den und in den hinein es gebaut war, hatte eine weite Flächenausdehnung des Baues nicht zugelassen; man hatte es dafür höher gebaut, mit Spitzen und Thürmen, mit Erkern und Giebeln. Es war ein alterthümlicher Bau. Aber es war kein stolzer Bau mehr. Früher gewiß. Früher hatte auch ein stolzes, blühendes freiherrliches Geschlecht darin gewohnt! Aber wohnten nicht noch ein Freiherr und ein Freifräulein darin? Gewiß. Aber das Freifräulein war arm, elend und abgezehrt und hatte seit Jahren keine andere Hoffnung als auf den Himmel. Und der Freiherr war ein Räuber und Mörder. Ich hätte beinahe auflachen müssen. Waren seine mittelalterlichen Vorfahren nicht dasselbe gewesen? Und hatte das nicht ihren Ruhm, ihren Stolz, ihren Glanz ausgemacht? Warum war es denn jetzt nicht mehr so?

„Es erben sich Gesetz’ und Rechte
Wie eine Krankheit fort!“

Doch wohl nicht immer! – Es war still in dem alten, hohen Schlosse. Es lag wie todt da, kein Licht und kein Laut drang herüber. Nur der Wind pfiff um Mauern und Thürme. Wir gingen unmittelbar heran und standen an einer hohen Mauer. In ihr befand sich ein fest mit Eisen beschlagenes Thor, welches verschlossen war.

„Die Mauer,“ sagte der Schulze, „umgibt das Schloß nach beiden Seiten bis an den Felsenabhang. Das Thor ist der einzige Eingang. Ein Ausgangspförtchen auf der Rückseite ist noch da; man kann aber nur aus dem Innern des Schlosses hingelangen.“

Es war zehn Uhr Abends.

„Sollten die Bewohner des Schlosses schon schlafen?“

„Ich glaube kaum,“ meinte der Schulze. „Sie zechen gewöhnlich bis in die Nacht.“

„Aber man hört nichts.“

„Sie können auf jener Seite sein, und der Wind kommt von dieser. Zudem, wenn sie schliefen –“ Der Schulze unterbrach sich. „Was war das?“

„Hörten Sie etwas?“

„Da, jenseits des Thors. Ich wollte gerade sagen, daß während der Nacht, wenn sie im Schlosse zu Bett sind, ein Paar der großen Hunde zur Wache hinausgelassen werden, und da –“

„Und da?“

In demselben Moment ertönte ein lautes Hundegebell, dicht neben uns, unmittelbar an der anderen Seite des verschlossenen Thors.

„Sollten sie doch schon schlafen?“ sagte der Schulze.

„Die Hunde werden uns verrathen,“ sagte ich.

„Das haben sie schon, und die Thiere werden nicht wieder aufhören.“

„Also, es bleibt nur noch ein rascher Entschluß.“

„Nichts Anderes,“ bestätigte der Schulze.

„Voran! Ich poche an das Thor. Sie, Schulze, eilen zu den Andern und rufen sie herbei.“

Er war schon fort. Die Hunde – es waren ihrer zwei bellten in rasendem Geheul. Ich pochte inzwischen mit einem Stock an das Thor. Der Wind schlug, um die Wette mit den Hunden heulend, an die Mauern, Erker und Zinnen des Schlosses. Die Wetterfahnen auf den Thürmen flogen schrillend hin und her. Es war die gräulichste Katzenmusik in dem Dunkel der Nacht, auf dem einsamen hohen Berge, an dem alten, verfallenen Schlosse. In dem Gebäude selbst regte sich nichts.

Der Schulze kehrte zurück. Die Gensd’armen und Executoren kamen mit ihm. Es konnte doch noch ein Plan gemacht werden. Der Gensd’arm des Kreises kannte den Weg, der von der Anhöhe hinunter in die Schlucht jenseits des Schlosses führte. Dort mußte der verborgene Ausgang aus dem Schlosse münden. Wo? wußte Niemand. Aber der Zufall konnte Glück bringen. Ich ließ den Gensd’armen mit zwei anderen und einem Executor den Weg hinunter sprengen, die Schlucht zu besetzen und auf Flüchtlinge Wache zu halten. In dem Schlosse war es noch immer still. Nur die Hunde heulten fort, und nur das Wetter tobte fort.

„Man will uns nicht hören! So kann man uns die ganze Nacht warten lassen.“

Darauf waren wir nicht vorbereitet gewesen, wohl aber der alte Schulze.

„Ich kenne das alte Thor,“ sagte er. „Es sieht nur fest aus. Mit einem alten Baumstamm, der in dem alten Park noch zu finden sein wird, rennen wir es ein. Pochen wir vorher noch einmal.“

[404] Wir pochten noch einmal. Die Hunde hörten auf zu bellen. Sie knurrten nur noch. Irgend etwas mußte ihnen Ruhe geboten haben. Eine menschliche Stimme ließ sich jenseits des Thors vernehmen.

„Wer ist da draußen?“ Es war eine weibliche Stimme.

„Die alte Magd,“ sagte der Schulze. „Warum mag keiner von den Männern kommen? Ich bin da, Anne Liese!“ rief er dann durch das Thor, „der Schulze Erdmann. Oeffnet.“

„Aber was wollt Ihr am späten Abend?“

„Ich habe Geschäfte im Schlosse.“

„Ich werde es melden.“

Wir hörten sie sich entfernen. Die Hunde blieben still. Sie knurrten nur noch leise. Wir warteten. Uns klopfte doch das Herz.

„Wenn man uns sicher machen und überfallen wollte!“ meinte selbst der Schulze. „Die Menschen da drinnen sind zu Allem fähig. Seien wir auf unserer Hut.“

Und was gilt einem verfolgten Raubmörder ein Menschenleben mehr? mußte ich in Erinnerung an so manches Verbrechen denken. Es wurde hell jenseits des Thors. Man konnte es an einem flackernden Scheine sehen, der an den Mauern des Schlosses hinanstieg. Ein Schritt nahte sich dem Thore; nur ein einzelner. Es mußte Jemand sein, der eine Laterne trug. Er kam nicht bis ganz an das Thor.

„Kommt!“ rief eine Stimme den knurrenden Hunden zu. Es war eine männliche Stimme.

„Der alte Diener!“ sagte der Schulze. „Warum muß der alte Mann herauskommen? In der Nacht? In diesem Wetter? Was mag das sein?“

Der Mann mit der Laterne entfernte sich wieder von dem Thore. Die knurrenden Hunde folgten ihm. Nach einer Weile kehrte er ohne die Hunde zurück; er hatte sie fortgeschafft. Das Thor wurde von innen geöffnet. Ein schneeweißer, von vielen Jahren tief gebückter, von noch mehr Sorgen tief gebeugter Greis stand in dem Scheine der Laterne vor uns. Er sah so ehrlich aus, der alte Mann. Er war der einzige ehrliche Mann in dem alten Freiherrnschlosse. Er sah uns, alle die fremden Gesichter, ruhig, aber traurig genug an.

„Was wünschen die Herren?“

„Einlaß, im Namen des Gesetzes!“ antwortete ich.

Er seufzte nur schwer auf.

„Folgen Sie mir.“

Ich ließ ihn das Thor verschließen und die Schlüssel an mich abgeben. Ein Gensd’arm mußte als Wache an dem Thore zurückbleiben. Mit meinen anderen Begleitern folgte ich dem Greise zu dem Gebäude. Wir überschritten eine Brücke, die früher eine Zugbrücke gewesen war, und kamen in einen schmalen Hofraum. Vor uns lag das Schloß. Ein hohes Eingangsthor stand offen. Der Greis führte uns dahin. Das Gebäude lag dunkel vor uns und eben so still. Dunkel und Stille waren so unheimlich. Was sollte jetzt gleich darauf folgen? Hatte der trotzige, gewaltthätige Herr des Schlosses, der verfolgte Raubmörder, in diesem alten Raubneste uns einen Hinterhalt bereitet? Einen Hinterhalt, um noch seinem gewaltthätigen, trotzigen Sinne ein Opfer zu bringen, um noch Rache zu nehmen für die Behandlung seiner Geliebten, für seine eigene Verfolgung, und dann für immer das Land, den Welttheil zu verlassen, in dem er als geächteter, dem Henker verfallener Verbrecher erkannt war? Der greise Diener sah ehrlich aus. Er konnte selbst getäuscht sein. Wir traten in das hohe Portal, in eine weite Halle. Es war kein anderes Licht da, als das der Laterne des Dieners.

„Führen Sie mich zu dem Schloßherrn,“ sagte ich zu dem Greise.

„Der Freiherr ist nicht da.“

„Er ist verreist?“

„Er ist fort.“

„Seit wann?“

„Seit dem Beginn des Abends. Es können vier bis fünf Stunden sein.“

„Wer ist noch im Schlosse?“

„Das gnädige Fräulein.“

„Und außerdem?“

„Eine alte Magd und ich.“

„Weiter Niemand?“

„Kein Mensch weiter.“

Der alte Mann log nicht. Ich war zu spät gekommen. Ich konnte doch noch eine Aufgabe in dem Schlosse haben. Es war möglich, daß der Entfliehende in der Eile ein verdächtigendes Beweisstück zurückgelassen habe. Jedenfalls war festzustellen, ob die Hein dagewesen sei.

„Führen Sie mich in das Zimmer des Freiherrn.“

Er führte mich durch die Halle in einen breiten Gang, aus diesem in einen zweiten, schmaleren. An dessen Ende schloß er eine Thür auf. Wir waren zu ebener Erde geblieben. Ich trat in ein geräumiges, hohes gewölbtes Gemach. Es hatte ein einziges breites und hohes Bogenfenster. Wie der Bau des Zimmers, so waren auch die Möbel darin alterthümlich. Aber Alles war solide. Zu seiner Zeit war es kostbar, vielleicht prachtvoll gewesen. Daß ein wüster Mensch dort gehauset habe, zeigte sich nirgends. Ich traf zunächst Anordnungen, daß die verschiedenen Theile des Schlosses durch Gensd’armen und Executoren besetzt wurden, um Vertragungen, Collusionen und dergleichen zu verhüten. Den alten Schulzen behielt ich bei mir in dem Gemache. Dann befragte ich zuerst den Diener.

„Wohin ist der Freiherr verreist?“

„Er hat mir nichts darüber mitgetheilt.“

„Wann wird er zurückkehren?“

„Ich glaube nicht, daß er jemals wiederkommen wird.“

„Sprach er davon?“

„Zu mir nicht. Aber seine letzten Worte, als er das Schloß verließ, waren ein Abschied für immer von hier.“

„Nahm er Sachen mit?“

„Wenige. Nur sein Reiseportefeuille.“

„Ging er allein?“

„Eine fremde Dame begleitete ihn.“

„Eine Fremde?“

„Sie war vorgestern in der Frühe hier angekommen.“

„Beschreiben Sie sie.“

Der Diener beschrieb Antonie Hein.

„Hatten Sie die Dame schon früher gesehen?“

„Niemals.“

„Wie kannte sie Ihren Herrn?“

„Sie war sehr vertraut mit ihm.“

„Hat Ihr Herr Ihnen keinen Auftrag hinterlassen?“

„Nein.“

„Kann ich das Fräulein, die Schwester des Freiherrn, sprechen?“

„Ich werde Sie melden.“

„Ich stelle dem Fräulein anheim, wo sie mich empfangen will.“

Der Greis ging. Ich sah mich näher in dem Gemache um. Außer den Tischen und den alten, hohen, gepolsterten Lehnsesseln fielen besonders mehrere alte Wandschränke darin auf. Sie waren von Eichenholz, mit künstlichem Schnitzwerk. Das Alter, vielleicht das Alter von Jahrhunderten, hatte sie dunkelbraun gefärbt. Einige standen ganz offen, in andern steckte der Schlüssel. Jene waren leer. Einen der letztern schloß ich auf. Es hingen alte Kleidungsstücke darin. Ich drückte gegen diese, um zu fühlen, ob sich in oder hinter ihnen noch etwas Anderes befinde. Auf einmal war es, als wenn die Wand des Schranks hinter den Kleidern nachgäbe. Ich schob diese auseinander und blickte in einen dunkeln Raum. Der Schrank hatte keine Rückwand. Die Mauer, an der er stand, bildete diese. Und in der Mauer war eine Oeffnung. Ich theilte meine Bemerkung dem Schulzen mit.

„Wohin mag die Oeffnung führen?“

„Ein Versteck,“ meinte er. „Man findet sie oft so in alten Häusern.“

Ich wollte trotzdem näher untersuchen, als die Thür des Gemachs geöffnet wurde. Der alte Diener trat wieder ein, mit Lichtern. Eine Dame folgte ihm, eine feine, schöne, leidende Gestalt. Es war das Fräulein Sophie von Lengnau, die Schwester des Freiherrn, die Geliebte des Commis Wilhelm Grote. Ich hatte sie so Vieles zu fragen, ich hatte ihr so Vieles mitzutheilen. Sie konnte es ahnen, sie sah es mir an. Der Diener hatte sofort das Zimmer wieder verlassen. Sie warf einen Blick auf den Schulzen, dann einen bittenden auf mich. Ich ließ auch den Schulzen hinaustreten.

„Mein Herr,“ sagte sie dann zu mir, mit einer großen, edlen Fassung, aber mit einer Stimme, die zum Herzen drang. „Ich weiß den Zweck, der Sie hierher führt. Mein Bruder ist außer dem Bereiche Ihrer Gewalt. Darf ich Sie gleichwohl bitten, [406] mich mit Fragen zu verschonen, die ich Ihnen nie beantworten dürfte, die dennoch das Herz der Schwester zerreißen müßten?“

Sie sah mich flehend an. Ich mußte sie doch fragen.

„Sie würden mir auch dann nicht antworten, wenn von Ihren Antworten das Schicksal eines Unschuldigen abhinge, der des Mords verdächtig in Untersuchung und Haft ist?“

Darauf war sie nicht gefaßt gewesen. Sie zuckte zusammen und wurde bleicher. Sie suchte nach einer Antwort, nach einem Entschlusse.

„Der verhaftete Unschuldige, mein Fräulein, heißt Wilhelm Grote.“

„Ewiger Gott!“ schrie sie auf. „Ich hatte es geahnt!“

Ich mußte sie zu einem der alten Lehnsessel führen. Dann fuhr ich fort:

„Ich ermesse den schweren Kampf, den Sie kämpfen müssen, mein Fräulein. Gestatten Sie mir vor der Hand einige Fragen, die ihn nicht berühren.“

„Fragen Sie, mein Herr.“

„Vorgestern ist eine fremde Dame hier im Schlosse eingetroffen?“

„Vorgestern in der Frühe.“

„Sie hat mit Ihrem Bruder das Schloß verlassen?“

„Heute Abend.“

„In welchem Verhältnisse stand sie zu Ihrem Bruder?“

„Mein Herr, die Fremde war eine Verworfene. Aber mein Bruder –“

„Ihr Bruder, mein Fräulein?“

„Er war, er ist in ihren Fesseln, mit einer blinden, wilden Leidenschaft, ganz, wie sein Charakter wild und unbändig ist.“

„Dürfen Sie mir sagen, was Ihr Bruder mit der Fremden verhandelt hat?“

Sie machte schweigend eine abwehrende Bewegung.

„Und Wilhelm Grote?“ fragte ich noch.

Ihre innere Aufregung drängte einen Strom von Thränen in ihre Augen. Sie stand auf.

„Verabschieden Sie mich, mein Herr, ich bitte Sie darum; ich muß mich sammeln und in Ruhe mit mir zu Rathe gehen. Morgen früh, wenn ich bitten darf, oder, wenn Sie nicht so lange bleiben können, in einer Stunde. Schlafen werde ich in dieser Nacht nicht.“

Ich verließ sie. Die Arme! Die Unglückliche! Ihr Schicksal ging mir tief zu Herzen. Sie hatte so viel, so lange gelitten, und der schwersten Stunde ihres Lebens ging sie jetzt entgegen. Den Geliebten oder den Bruder, wen sollte sie zum Mörder machen? – Ich mußte mit dem Suchen nach Ueberführungsstücken fortfahren, eigentlich damit beginnen. Etwas durfte ich zu finden hoffen, wenn auch nur irgend ein verlorenes oder vergessenes Stück Papier, das Aufklärung über frühere Beziehungen des Freiherrn gab. Es konnte weiter daran angeknüpft werden.

Der Schulze kam nicht in das Gemach zurück. Er sah wohl nach den verschiedenen Posten, die im Hause umhergestellt waren. Ich suchte auf den Tischen umher, fand aber nichts, ging wieder zu den alten Wandschränken und schloß einen von ihnen auf, einen andern, als den, in dem ich vorhin die Oeffnung entdeckt hatte. Es war ein großer, tiefer, mächtiger Schrank. Auch in ihm hingen Kleidungsstücke, die ihn füllten. Es waren alte Herrenkleider, von denen die ältesten Jahrhunderte alt sein mochten. Sie repräsentirten die Mode von Jahrhunderten, doch nicht auch den Glanz. Wo eine Gold- oder Silberstickerei gewesen war, war sie abgetrennt, abgerissen. Die stolze Pietät der Vorfahren hatte hier von Geschlecht zu Geschlecht das Prunkgewand des Vaters, ihn und sich ehrend, aufbewahrt. Der letzte Sprosse des stolzen Geschlechts hatte sie beraubt. Auch so vergeht der Glanz und der Stolz alter Geschlechter!

Die frevelnde Hand war vielleicht nicht einmal zurückgebebt, als sie den Raub beging. War sie doch später selbst vor einem Raubmorde nicht zurückgebebt! So beginnt der Verbrecher seine Laufbahn. Ich sah die alten stolzen Freiherren vor mir. Wie mochten sie gezürnt haben, als jener Frevel gegen sie verübt wurde! Ueber den Raubmörder verhüllten sie die stolzen, edlen Gesichter, in Scham, in Trauer. Ich wandte mich ab von dem Schranke.

Da – es war mir, als wenn ich unmittelbar vorher ein leises Geräusch vernommen hätte. Ich hatte nicht darauf geachtet. Der Schulze wird zurückkehren, hatte ich gedacht. Da stand eine wirkliche Gestalt vor mir. Kein edles, kein in Scham und Trauer verhülltes Gesicht. Aber ein stolzes, wie von wilder Leidenschaft verzerrtes. Der Freiherr Dietrich von Lengnau! Er mußte es sein. Seine Gestalt glich der Wilhelm Grote’s. Er trug denselben Vollbart, dasselbe lockige Haar. Beide waren nur dunkler, schwärzer, glänzender.

Er war durch jene Oeffnung des alten Wandschranks hereingekommen. Jene Oeffnung mußte durch einen verborgenen Gang zu dem geheimen Ausgang des Schlosses führen. Ich hatte es in dem Momente combinirt, da ich ihn sah. Ich hatte es combinirt, während zugleich das Blut in den Adern mir zu Eis gerinnen wollte. Warum war er zurückgekehrt? Was wollte der wilde, unbändige, gewaltthätige Mensch hier? Welche Leidenschaft mußte in ihm erwachen, da er einen Fremden in seinem Zimmer fand, wühlend unter seinen Sachen! Nein – denn auch er mußte im Moment combiniren – keinen Fremden, aber den Criminalbeamten, der ihn verfolgte, vor dem er geflohen war, der ihn dem Beile des Henkers überliefern sollte!

Er stand stolz vor mir. Sein Gesicht war verzerrt. Er sah mich finster an, mit einem Ausdrucke wachsender Wildheit. Ich erwartete einen Angriff von ihm, einen Angriff für sein Leben. Ich wollte mich für mein Leben wehren und griff nach einem Pistol, das ich auf der Brust trug.

„Sie rühren sich nicht!“ rief er mit gedämpfter Stimme.

Ich konnte mich schon nicht mehr rühren. Seine Rechte hatte mein Handgelenk mit riesiger Gewalt umspannt. Mit seiner Linken zog er ruhig ein gespanntes Pistol hervor.

„Wenn Sie einen Laut von sich geben, sind Sie des Todes.“

Ich war in seiner Gewalt. Was sollte folgen? Er sah sich langsam in dem Zimmer um. Dann wandte er sich wieder zu mir.

„Sie sind Criminalrichter, mein Herr?“

„Ja.“

„Sie suchten mich hier?“

„Ja.“

„Dann nach Beweisen gegen mich?“

„Ja.“

„Wissen Sie, mein Herr, wo Sie hier sind?“

„In Ihrem Gemache. Ihr Diener hat mich auf mein Verlangen hierher geführt.“

„Sie sind auch in dem Gemache meiner Vorfahren.“

Ich schwieg.

„Und es ist gut, daß Sie hier sind. Ich brauche keinen andern Zeugen herbeizurufen, nicht den greisen Diener.“

Wozu wollte er einen Zeugen? Der Ausdruck der Verzerrung in seinem Gesichte ließ nach. Aber es wurde ruhiger, es wurde beinahe edel stolz.

„Hören Sie mir zu, mein Herr,“ fuhr er fort. „Ich stamme aus einem edlen Geschlechte. Ich bin der Letzte dieses Geschlechts und bin ein Verworfener. Alter Same artet aus. Ich bin entartet und meinte, ich könnte es ertragen. Als ich aber heute dem Schlosse meiner Väter den Rücken gewandt hatte, für immer, da fühlte ich, mein Herr, daß ich Alles könne, aber Eins nicht. Ich bin der Mörder, mein Herr, den Sie suchen. Ich habe meinen Namen, mein Geschlecht, meine Ahnen entehrt. Hier, in meinem, in ihrem Schlosse, in dem Gemache, in dem ich, in dem sie gelebt haben, hier, wo ihre edlen Geister mich umschweben, hier bin ich ihnen, hier bin ich mir die Sühne schuldig. Bezeugen Sie es der Welt, mein Herr, und meiner armen Schwester.“

Er ließ meinen Arm los. Er setzte das Pistol an seine Stirn. Ich wollte aufschreien, aber er war rascher als ich, und seine Hand drückte ab. Ehe ich mich besinnen konnte, lag eine Leiche vor mir. Der alte, greise Diener des Hauses war der letzte ehrliche Mann in dem Schlosse der stolzen Freiherrn von Lengnau. Der letzte Sproß des stolzen Geschlechts hatte sich doch ein stolzes Herz bewahrt. Er hatte sich als den Mörder bekannt, den ich suchte. Er war todt.

Willhelm Grote legte ein volles, offenes, nicht mehr Geständniß, aber Zeugniß ab. Er hatte den Freiherrn von Lengnau in Californien wiedergetroffen, aber erst in der letzten Zeit seines dortigen Aufenthalts, als er schon im Begriff gestanden, nach Europa zurückzukehren. Grote selbst hatte damals sich schon sein Vermögen erworben. Der Freiherr hatte in dem Goldlande sich zehnmal etwas erworben und es zehnmal wieder verloren, durch einen leichtsinnigen, wilden, wüsten Lebenswandel, durch liederliches Herumtreiben mit verworfenen [407] Abenteurern und noch verworfeneren Abenteurerinnen. Als Grote ihn traf, besaß er wieder gar nichts; dennoch stand er im Begriffe nach Europa zurückzukehren. Ein Grund zu dieser Rückkehr war für Grote nicht ersichtlich. Der Freiherr selbst gab keinen an. Grote stand übrigens in keinem Verkehr mit ihm. Der Freiherr zog sich auch in dem fremden Lande ebenso stolz von ihm zurück, wie er in der Heimath die Bewerbung des Bürgerlichen um seine Schwester hochmüthig und roh zurückgewiesen hatte.

Der Freiherr lebte zusammen mit einer ebenso schönen, wie verschmitzten Person, einer Tänzerin oder Schauspielerin, die er von einem Winkeltheater in San Francisco zu sich genommen hatte, für die er eine wahrhaft wilde Leidenschaft fühlte, und die eine unbegreifliche Gewalt über ihn ausübte. Es schien Grote, als wenn sie ein Verlangen habe, nach Europa zurückzukehren, und als wenn der Freiherr nur ihrem Willen folge. Den wahren Grund der Rückkehr Beider sollte er erst in Europa gewahr werden.

Bei seiner Ankunft in Antwerpen traf er dort Franz Bauer, den er in Californien kennen gelernt hatte. Bauer war am Tage vor ihm in Antwerpen angekommen. Sie sprachen über Bekannte, und er erzählte Grote, daß er mit Langner und dessen Frau die Ueberfahrt gemacht habe – Langner hatte der Freiherr sich in Amerika genannt, und seine Geliebte hatte er auch früher für seine Frau ausgegeben –; er werde auch mit Beiden, da sie denselben Weg wie er hätten, weiter zu der Heimath reisen. Er bat Grote, sich ihnen anzuschließen, soweit auch er den nämlichen Weg habe. Grote hatte keine Lust, mit dem Freiherrn zusammen zu reisen; am Tage vor der Abfahrt aber theilte Bauer ihm mit, Langner müsse noch mehrere Tage zurückbleiben, seine Frau werde allein vorausreisen, und Langner habe ihn gebeten, bis zu seiner Heimath sie zu begleiten, und er habe sich dazu bereit erklärt. Jetzt war auch Grote bereit, sich dem Bekannten anzuschließen.

Bauer, Grote und die Hein, oder wie die Geliebte des Freiherr eigentlich heißen mochte, reisten zusammen auf der Eisenbahn von Antwerpen ab und blieben zusammen bis zu der letzten Eisenbahnstation. Die beiden Männer nahmen dort für ihre Weiterreise einen Miethwagen. Als sie einstiegen, war auch die Hein wieder da, die mit ihnen fuhr, zufällig, wie sie behauptete. Sie fuhren in dem Miethwagen ab: Bauer wollte bis zu einem Punkte der Landstraße fahren, wo der Weg in seinen Heimathsort abging; Grote wollte nach Schloß Diburg, Sophie von Lengnau zu sehen, bevor ihr Bruder zurück sei.

Wohin die Hein wollte, hatte sie nicht gesagt. Sie kamen an dem Wege an, der zu der Heimath Bauer’s führte. Es war Abend, und Bauer stieg aus, den Weg zu Fuße zu machen. Mit ihm stieg Grote aus. Er hätte noch zehn oder zwölf Minuten weiter fahren können, wo dann auch für ihn ein Seitenweg, aber in entgegengesetzter Richtung, abging. Er wollte jedoch nicht den Wagen zweimal halten lassen. Die Hein fuhr allein weiter. Bauer und Grote nahmen von einander Abschied, und Ersterer ging links, einer Waldung zu, in die sein Weg hineinführte.

Grote ging langsam auf der Landstraße weiter, und er hatte beinahe den Seitenweg erreicht, den er zu nehmen hatte, als er auf einmal durch die Stille des Abends einen Schuß fallen hörte. Der Schuß fiel hinter ihm, in der Richtung, die Bauer genommen hatte. Er stutzte, und es fiel ihm heiß auf das Herz. Warum war der Freiherr von Lengnau zurückgeblieben? Warum hatte er Bauer um die Begleitung der Hein gebeten? Die Hein, die schon auf der Eisenbahnstation Abschied von ihnen genommen hatte, war bald nachher durch einen so seltsamen Zufall wieder mit ihnen zusammengetroffen. Sie hatte unterwegs sich so angelegentlich um ihn, Grote, bekümmert, ihn offenbar an sich zu ziehen gesucht, und als er zugleich mit Bauer ausgestiegen war, hatte sie ihn zurückhalten wollen. Eigenthümliche Blicke, die sie zuweilen auf Bauer geworfen, fielen ihm hinterher ebenfalls auf.

Eine ungeheure Angst befiel ihn, und er eilte, er lief zurück; er lief in den Weg, den Bauer genommen hatte, und kam in die Waldung, in die Gegend, in der seiner Meinung nach der Schuß gefallen sein mußte. Er ging vorsichtiger, leiser, blieb manchmal stehen, um zu horchen. Da hörte er endlich in der Tiefe des Waldes, weit seitwärts von dem Wege, ein Geräusch, es kam ihm vor, als wenn etwas auf dem Waldboden geschleppt werde. Er flog hin, eilig, aber leicht, leise, kaum hörbar.

Das Geräusch hatte aufgehört, er drang aber dennoch weiter. Er war bewaffnet und drang mit gespanntem Revolver vor. Ein Schuß fiel durch die Finsterniß, kaum zehn Schritte vor ihm, und eine Kugel schlug unmittelbar neben seiner Brust in die Zweige der Bäume. Er sprang zu der Stelle, an der er das Feuer des Gewehres hatte aufblitzen sehen, und – er stand vor dem Freiherrn von Lengnau, welcher im Begriff war, einen zweiten Hahn seines Doppelpistols zu spannen. Eine Leiche, Bauer’s Leiche, lag zu seinen Füßen.

Grote sprang auf den Mörder zu, ihm die Mordwaffe zu entreißen. Sie rangen darum. Während des Ringens entlud sich das Gewehr; das war Grote’s Rettung gegen den wüthend gewordenen Mörder, dem in diesem Augenblicke das zweite Menschenleben weniger war, als das erste. Grote konnte entfliehen, und was konnte er mehr? Das Verbrechen war vollendet.

„Klage den Bruder Deiner Geliebten an!“ höhnte der Mörder dem Entfliehenden nach.

Konnte er es? Der Mörder hatte sich selbst anklagen müssen, er hatte sich aber auch selbst seine Strafe gegeben. Mit sich hatte er in seinem Portefeuille die geraubte Summe zurückgebracht, welche der Familie Bauer’s übergeben wurde.

Wilhelm Grote und Sophie von Lengnau wurden nach Jahr und Tag ein Paar. Von der Antonie Hein wurde nie wieder etwas gehört.



Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Tode
  2. Vorlage: ihren