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Berliner Bilder/Oeffentliche Charaktere

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Textdaten
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Autor: Ernst Kossak
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Titel: Oeffentliche Charaktere
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aus: Die Gartenlaube, Heft 22, S. 347–349
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
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Erscheinungsdatum: 1860
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[347]
Berliner Bilder.
Von E. Kossak.
Nr. 9. Oeffentliche Charaktere.

Je weniger scharf sich der Begriff definiren läßt, den man in der Zeitungssprache mit den von uns als Überschrift gewählten Worten verbindet, mit desto geringerer Besorgniß erlauben wir uns, zu einem besonderen Zwecke eine willkürliche Anwendung derselben zu machen. Wir verstehen unter „öffentlichen Charakteren“ nicht allein diejenigen Personen, welche durch anhaltende, krampfhaft angestrengte Thätigkeit ihrer Rede- und Schreibwerkzeuge einen gewissen Ruf in der Welt erlangt haben, und von der Menge fortwährend beobachtet und kritisirt werden, sondern auch jene Individuen, die ohne sonderliche Mühen und Talente, nur durch die Bosheit des Geschicks sich an die Oeffentlichkeit hinausgeworfen und den Blicken Aller bloßgestellt sehen.

Wir reden deshalb nicht von berühmten Ministern und Abgeordneten, vielgenannten Kanzelrednern und Mimen, geschätzten Schriftstellern und Gelehrten, sondern nur von mehreren öffentlichen Charakteren, denen wir täglich auf der Straße begegnen und so manche humoristische Belehrung über die Eitelkeit des menschlichen Lebens verdanken. An der östlichen Ecke des Museums, der ehemaligen Börse gegenüber, hat sich eine stattliche Obstfrau niedergelassen. Ihr von dem Witterungswechsel scharf mitgenommenes Gesicht zeigt einen trotzigen, die vornehme Welt verachtenden Ausdruck, man sieht ihr die Wohlhabenheit an, und aus ihrem Gebehrdenspiele spricht deutlich etwas, das den Liebhaber frischen Obstes abmahnen kann, von ihren festen Preisen etwas abhandeln zu wollen. Von dieser Dame wollen wir nicht reden, da sie, wenn auch eines der ausgezeichnetsten Exemplare, doch zu jener Gattung öffentlicher Charaktere gehört, die schon allzuoft beschrieben worden ist. Aber dicht neben ihr, in der Richtung nach der großen Treppe des Museums, hat sich der Mann angesiedelt, welchen wir, als den Einzigen seiner Art in Berlin, portraitiren wollen. Unser Freund L. Löffler ist uns dabei, wie der Holzschnitt zeigt, behülflich gewesen. Der Mann, von dem wir sprechen, ist ein alter Herr von hoher Gestalt, dessen dürftige und abgetragene Kleider mit einem Rest von feinen Manieren auf eine tragische Weise contrastiren. Offenbar hat er sich hart neben der stattlichen Obstfrau angesiedelt, weil ihre zungengewappnete Nähe ihm Zutrauen eingeflößt und Schutz versprochen hat, und wirklich scheinen ihre gerunzelten Augenbrauen sagen zu wollen: „Kommt meinem alten Schützling nicht zu nahe, ihr Straßenbuben und Taugenichtse, wenn ihr es nicht mit mir zu thun haben wollt.“ Unser alter Herr treibt nämlich ein Geschäft, das sichtlich des Schutzes einer starken Nachbarschaft oder angrenzenden Großmacht bedarf, wenn es nicht zu einem Gespött der Muthwilligen werden soll: er ist Menageriebesitzer. Nicht etwa in dem verwerflichen Sinne [348] jenes polnischen Juden, der zu seinem Collegen, dessen Sinn nach dem Besuch der Kreuzberg’schen Menagerie stand, entrüstet über die unnütze Geldausgabe sagte: „Was willst Du in der Menagerie? Hirsch Bär Wolf heißt Du, Wanzen, Flöhe und Läuse hast Du, ein Sch…d bist Du, hast Du doch schon allein eine ganze Menagerie an Dir!“ Nein, der ehrwürdige Alte hat nichts gemein mit diesen beiden frivolen Verächtern der Zoologie, deren unsaubere Reden wir nur bange citiren; er besitzt eine wirkliche Menagerie. Zwar reicht sie nicht an den Berliner zoologischen Garten, aber sie vertritt doch immer eine gewisse wissenschaftliche Richtung; sie will die Menagerie des Kleinen und Curiosen in der Natur sein.

Der Alte zeigt sich nicht an jedem Tage mit seiner Menagerie öffentlich. Er ist ein Feinschmecker im Punkte der frischen Luft, und liebt Sonnenschein und blauen Himmel. Mehrere Grade Kälte pflegen ihn und seine Thiere noch nicht nach Hause zu treiben. Wenn man sich ihm nähert, bemerkt man anfangs noch nichts von einer Menagerie. In gerader Haltung geht der Alte vor dem Gitter auf und ab, und wirft Seitenblicke auf die Spaziergänger. Er beobachtet, ob sich nicht irgend ein Neugieriger einfinden und ihn um Erklärung der Thiere ersuchen wird. Nichts ist zu sehen, als eine Anzahl schmutziger Kästchen mit einzelnen Luftlöchern. Doch nein, an einem dieser Kästchen ist der Schieber aufgezogen, und man erblickt einen bunten Vogel, der einen sanften Anflug von Lebensüberdruß zur Schau trägt und zuweilen leise einen melancholischen Ton als den Rest seiner ehemaligen Jugend- und Waldmusik ausstößt. Dieser Vogel ist anscheinend der abgehärtete Vogel der Menagerie, dem die nordischen Lüfte nichts mehr anhaben können. Wir irren jedoch: indem wir unmittelbar in die Nähe treten und über die Köpfe eines halben Dutzend kleiner neugieriger Jungen sehen, bemerken wir einen noch abgehärteteren Bewohner der Lüfte, auf den die gespannteste Aufmerksamkeit der Jugend gerichtet ist. Er soll wahrscheinlich, gleich den Papageien, Arras und Kakadus der Menagerien, auf Jahrmärkten die Neugier der Menge im Allgemeinen anreizen, und erfüllt diesen Zweck vollkommen. Wenigstens verwendet die versammelte Jugend kein Auge von ihm und prägt sorgsam sein Aeußeres ihrem Gedächtnisse ein. Dieser Vogel ist eine ganz kleine Gattung der Waldeulen und wird von dem Menageriebesitzer als strix passerata bezeichnet. Strix passerata ist leider höchst rupfig und mit Rücksicht auf die Strenge der Witterung ganz ungenügend befiedert. Sie sitzt bald auf dem Deckel eines Kästchens, bald auf einer Eisenspitze des Gitters, welches das Museum umgibt, und ist durch ein dünnes, am Fuße befestigtes Kettchen an der Entweichung gehindert. Einzelne Federn stehen ungemüthlich aus ihrem Schwanze und den Flügelenden hervor, auf dem Kopfe hat sie einen kahlen Fleck. Mit offenbarem Mißbehagen kauert sie sich in ihrem traurigen Gefieder zusammen, und betrachtet argwöhnisch die Buben, welche unverkennbar die nächste günstige Gelegenheit, sobald der Alte wegsieht, wahrzunehmen und unsere arme strix rasch einer der eximirten Federn zu berauben gedenken.

Der Menageriebesitzer.

Da der Alte den bösen Sinn der Buben längst erkannt hat, läßt sich ihr Vorhaben nicht leicht ausführen. Er hat die Augen überall und stößt von Zeit zu Zeit mit leisem seltsamen Tone den Warnungsruf aus: „Nicht anfassen! nicht anfassen!“ Doch nicht er allein, auch strix passerata merkt scharf auf, und zuweilen verräth der Schreckensruf eines der Jungen, den sie in den Finger gebissen hat, daß wieder ein Attentat gegen ihre Federn unternommen worden ist. Bald veredelt sich aber die Gesellschaft. Ein Herr in groben, aber reinlichen Sonntagskleidern, vielleicht ein kleiner Handwerker oder Fabrikarbeiter, tritt mit seinem Sohne näher und gedenkt ihm, möglicher Weise zur Feier seines Geburtstages, die Menagerie zu zeigen. Der Alte kennt den Herrn seit geraumer Zeit; ihre Sympathien sind auf denselben Punkt der Zoologie gerichtet. Auch der Handwerker liebt kleine curiose Bestien und beherbergt in großen, mit Leinwand zugebundenen Glasgefäßen eine Anzahl Eidechsen und Schlangen. Jetzt enthüllt der Alte mit freundlichem Lächeln seines gekupferten Gesichtes die naturhistorischen Schätze und erklärt sie mit jener Monotonie, welche immer von der allzuhäufigen Wiederholung auch der geistreichsten Gedanken und interessantesten Thatsachen herzurühren pflegt. Der Handwerker aber zeigt seinem Knaben sehr genau die Sehenswürdigkeiten, während der Alte jedes Kästchen so zu halten und zu drehen weiß, daß kein Unberufener einen unentgeltlichen Blick hineinzuwerfen vermag.

Da ist in erster Reihe der schwarze Kanarienvogel, eine sehr seltene Spielart, dann ein Kästchen mit weißen Mäusen, dann ein Thier, welches so zahm ist, daß es nach vollendeter Mahlzeit, wie der Alte mit der Genugthuung eines glücklichen Erziehers sagt, „in sein Local freiwillig zurückkehrt“. Aufsehen bei dem Knaben erregt namentlich der Siebenschläfer, so genannt, „weil er sieben Monate im Jahre schläft“. Er betrachtet ihn mit stillem Neide und verzeiht es ihm nicht, daß er selber von seinem zärtlichen Vater schon um sechs Uhr Morgens gewaltsam aus den Federn hervorgeholt wird. Dann folgt ein Kästchen mit kleinen Schlangen, die zum Schutz vor der Kälte mit einigen Lappen bedeckt sind. Der Menageriebesitzer schildert sie als nicht giftig, bezeichnet sie aber doch als bedenkliche und nicht zuverlässige Thiere, vor deren näherem Umgange der Deutsche gewarnt werden muß. Die zur Schaustellung herangezogenen Thiere wissen leider die ihnen angethane Ehre nicht zu schätzen. Sie befinden sich in einem Zustande von Widerwillen gegen den Umgang mit Menschen und stiller Selbstbeschaulichkeit; man wandelt nicht ungestraft unter Palmen und Professoren, aber man steckt auch nicht ungestraft in kleinen schmutzigen Kästchen. Der alte Menageriebesitzer beobachtet aber, während seiner gelehrten Auseinandersetzung, die vorüberwandelnde Menschheit, und wirft Jedem, der es wagt, zu lächeln, einen scharfen, mißbilligenden Blick zu. Es schwebt etwas Räthselhaftes um den Mann, er spricht mehrere neuere Sprachen, und ein dunkles Gerücht gibt ihn für einen ehemaligen Officier aus, der durch merkwürdige Lebensschicksale in diese abenteuerliche Lage gebracht worden sein soll. Uebrigens ist er ein Unicum; die Gattung stirbt mit ihm aus.

Der „ewigen Musikanten“, wie wir die im Thiergarten den Leierkasten drehenden Invaliden nennen wollen, sind dagegen immer mehrere. Als öffentliche Charaktere betrachtet, sind sie noch öffentlicher, als der Menageriebesitzer, da sie alle leidlich heitere Stunden des Jahres auf ihren Posten zubringen. Auch kann ihre Gattung nicht aussterben, denn sobald einer von ihnen das Zeitliche segnet, ertheilt die hohe Obrigkeit einem Andern die nothwendige Concession zur Ausübung seiner wilden Musik. Es scheinen nicht sowohl Verdienste auf dem Schlachtfelde zu sein, welche zur gnädigen [349] Ertheilung der Erlaubniß, das öffentliche Mitleid durch den Leierkasten ansprechen zu dürfen, veranlaßt haben, als vielmehr schwere, in Friedenszeiten, aber im Dienste erlittene Leibesschäden. Jeder dieser alten Gesellen ist mit einem argen Uebel behaftet, und der Bevorzugteste, der sich an der einträglichsten Stelle, in der ersten Eingangsallee des Thiergartens postirt hat, verfügt sogar nur über einen Arm. Sie haben sich sämmtlich an solchen Punkten aufgestellt, wo der Strom der Spaziergänger an ihnen vorbeiziehen muß, und scheinen mit ihrem Lebensberuf nicht unzufrieden zu sein.

Die lange Beobachtung der Berliner Menschheit hat ihren Blick geschärft, und selbst derjenige, welcher als Blinder oder doch Augenleidender eine grüne Brille mit schwarzen Scheuklappen trägt, erkennt aus ziemlich weiter Entfernung diejenigen Personen, welche wohl bereit sein könnten, ihm einen Groschen zu opfern, und läßt alsbald sein geliebtes Instrument ertönen. Der ältere Officier, der Mann mit einem Ordensbändchen, das behäbig watschelnde Ehepaar, der in philosophische Betrachtungen versunkene Cigarrenraucher, das sich scheu umblickende Liebespärchen: sie alle werden unvermeidlich mit lieblichen, nicht selten etwas falschen Tönen begrüßt. Selbst alle stolzen Cavaliere und Reiter entgehen nicht den Klängen, obgleich die lange Erfahrung gelehrt haben muß, daß ihre Beiträge in die Blechbüchse auf dem Leierkasten die spärlichsten zu sein pflegen. Die treuesten Freunde der Invaliden sind wohl die kleinen Kinder, die im Sommer von ihren Wärterinnen in den Thiergarten geführt werden und mit Entzücken den köstlichen Melodien der Leierkästen lauschen; zweifelhafter scheint indessen, ob die regelmäßige Anwesenheit dieser Zuhörer sich rentirt. Alle Leierkästen sind von patriotischer Constitution und spielen vorzüglich jene Lieder, welche von den musikalischen Preußen bei festlich musikalischen Gelegenheiten von Männerquartetten oder Chören gesungen werden.

Die Existenz dieser militairischen Musiker ist übrigens eine nomadische. In den frühen Vormittagsstunden finden sie sich vor Anfang der täglichen Promenade auf ihren Plätzen mit ihren Frauen oder Wärterinnen ein, nehmen auf einem Schemel Platz und erheben sich nur, wenn der Anspielung würdige Personen erscheinen. Höhere Hitze- oder Kältegrade können sie, ungeachtet ihres vorgerückten Alters, sehr wohl ertragen. Die Mittagsmahlzeit und das Vesperbrod, in den Wintertagen auch hinreichende Quantitäten von heißen Getränken, werden ihnen von jungen Emissären aus der Stadt zugeführt. Ihre Tracht ist ein alter abgetragener Waffenrock, graue Beinkleider und eine lebensüberdrüssige Militairmütze. So stehen sie unter hohen schattigen Bäumen und drehen als lebendige Illustrationen zum Capitel des modernen Heerwesens die Kurbeln ihrer Leierkästen, während die jungen Vögel aus ihren Nestern verwundert auf die verwitterten militairischen Gestalten herabblicken.

Die genannten öffentlichen Charaktere üben, wohlgemerkt, ihre Wirksamkeit in Uebereinstimmung mit der Polizei aus. Sie sind so gut geduldet, wie die Bettelmönche in katholischen Ländern. Wir wenden uns aber zu jenen Männern und Jünglingen, welche nicht durch Leibesschäden, sondern durch einen poetischen Hang des Geistes von dem trockenen Ernst der Arbeit abgehalten werden und sich, freilich nicht ganz ohne Widerstreben des Ortsvorstandes, der freien Muße widmen. Eine Lieblingsbeschäftigung dieser Charaktere besteht in dem Oeffnen der Klitschen vor Kirchthüren und Theatern. Wenn Ihr an einem Regenabende in eines der kleineren Theater oder an einem Sonntagnachmittage in die Kirche fahrt, um bei dem siebenten Kinde irgend eines stets um zahlende Pathen verlegenen armen Clienten Gevatter zu stehen, wird an den Stufen des Gebäudes plötzlich die Thür des Wagens aufgerissen. Ein kräftiges Subject greift hierauf mit meistens nicht ganz reinlichen Händen, ohne Euch zu fragen, hinein, sucht Euch oder Eure Ehehälfte festzupacken und weniger hinauszuheben, als hinauszuziehen. Auf die Toilette nimmt das Subject weiter keine Rücksicht, ebenso wenig auf den Leibeszustand des Fahrgastes; es behandelt ihn als schnödes Frachtstück. Das ganze Verfahren hat einige Ähnlichkeit mit dem Entern eines Kauffahrteischiffes durch die Ungläubigen, und es frommt selbst nicht, wenn man sich dem Eindringling lebhaft widersetzt und seine Hände zurückstößt. Kaum hat man dann festen Boden unter den Füßen, so schlägt der Wagenpirat schleunig die Thür zu, eilt Euch nach und fordert ein Trinkgeld für seine Dienstleistung. Ihn kümmert nicht die Zugluft, die gewöhnlich in den Fluren der Theater und Kirchen weht, nicht Eure leichtere Kleidung; er will eine Entschädigung haben, und wenn Ihr ihn nicht befriedigt, packt er Euch wohl am Aermel des Rockes und wird deutlicher. Dieselbe Scene wiederholt sich am Schlusse des Gottesdienstes oder Schauspieles. Der fliegende Portier verfügt über den Wagen, er hat die Thür besetzt, zwar nicht über seine Leiche, aber doch mitten durch seine schmierigen Klauen führt der Weg zu den gepolsterten Sitzen.

Diese gewaltsame Bettelei wird durch die Situationen, in denen man sie regelmäßig verübt, höchst widerwärtig. Nie ist es unangenehmer und bedenklicher, als mitten in einem Gedränge von eiligen Menschen den Geldbeutel zu ziehen und im Halbdunkel für einen ganz Unbekannten ein kleines Geldstück hervorzusuchen. Ein Herr, dem bei einer solchen Gelegenheit vor dem Dom das seidene Taschentuch aus dem Rocke gezogen wurde, läßt sich noch heute nicht ausreden, daß manche Kutschenaufmacher mit den Kirchentaschendieben ein Bündniß geschlossen haben und die dem Diebstahl Geweihten hinzuhalten und zu beschäftigen suchen. Ist man aber aus angeborener Weichherzigkeit freigebig gewesen, so besteigt der Kutschenaufmacher sofort den hinteren Bediententritt des Wagens, begleitet die Gesellschaft nach Hause und wirbt dort um ein zweites Trinkgeld. An Sonntagen kann man diese Gesellen hinter allen Kutschen stehend erblicken, da der gutmüthige und bei solchen Gelegenheiten freigebige Handwerkerstand an diesem Tage gewöhnlich seine Hochzeiten zu feiern pflegt.

Vielleicht noch lästiger sind die kleinen Knaben und Mädchen, die in den Hauptstraßen oder in den Hausfluren starkbesetzter Restaurants den Spaziergängern und Gästen nachstellen. Als es noch einen Freihandel mit Journalen in Berlin gab, vertrieben diese Detaillisten mit großem Eifer die Witzblätter und illustrirten Wochenschriften, machten ein gutes Geschäft und waren dem Publicum als nützliche und für Verbreitung von lustiger Unterhaltung sorgende Mitglieder der menschlichen Gesellschaft ganz angenehm. Wem wäre es nicht oft ergötzlich gewesen, für ein paar Pfennige mehr eine Stunde nach der Ausgabe ein interessantes Blatt zu kaufen, und beim Dessert, oder auch im Freien, auf einer Bank sitzend, in voller Gemüthlichkeit zu lesen? Die neuere Staatslehre von der Umkehr der Wissenschaft hat auch diesem raschen und lustigen Verkehr ein Ende gemacht. Die Freihändler wurden von den Constablern verfolgt, wie die ersten Christen von der römischen Polizei unter der blutigen Kaiserwirthschaft. Man warf die armen Jungen zwar nicht den wilden Thieren vor, aber es war auch nicht hübsch, daß man sie in die Stadtvogtei schickte, ihnen nur an Sonntagen die Kaldaunen von zahmen Thieren vorwarf, und sie bei wiederholtem Schmuggel von Zeitungen bis zu vier Wochen, mit allerlei Hallunken zusammengesperrt, im Loche sitzen ließ. Nach den hartnäckigsten Verfolgungen gelang es, ein Seitenstück zur napoleonischen Continentalsperre zu liefern; aus den fliegenden Buchhändlern wurden nothgedrungen Blumenhändler.

Von den Promenadestunden des Vormittags an treiben sie sich bis gegen Mitternacht, wo sie sich vor den Thüren der eleganten Delicatessenkeller postiren, umher und halten dem Publicum ihre armseligen Körbchen mit einigen durch Sonne, Wind und Staub mißhandelten Blumensträußchen unter die Nase. Es sind ganz kleine, noch der elterlichen Pflege bedürftige Kinder darunter, die oft, nur äußerst dürftig gekleidet, viele Stunden lang in kalten Frühlingsnächten auf den steinernen Stufen sitzen und auf das Klirren der Champagnergläser und den endlichen Aufbruch der Gäste lauschen, um im günstigsten Falle ein karges Almosen zu erhaschen, gewöhnlich aber nur mit harten Worten angelassen und bei Seite geschoben zu werden.

So viele unnöthige „öffentliche Charaktere“ besolden die christlichen Staaten. Sollten sich nicht einige Ersparnisse machen lassen, um diese blutige Satire auf die Jugenderziehung in dem „Staate der Intelligenz“ zu vertilgen?