Der Rückzug der Franzosen durch das Travers-Thal
„Der Uebergang der weiland großen Armee des ersten Napoleon auf ihrem Rückzuge aus Rußland über die Beresina kann kaum ein ergreifenderes Bild von dem Elende und den Scheußlichkeiten des Krieges dargeboten haben, als diese Bourbaki’sche Armee bei ihrem Uebertritt über unsere Grenze!“ – Mit diesen Worten nahm ein Freund von mir Abschied, der zugleich mit mir die Trümmer der genannten Armee an sich hatte vorüberziehen sehen. Das war bei Verrières Suisse gewesen, wo sich noch Tags zuvor der schweizerische Commandant geweigert hatte, die französische Armee über die Grenze treten zu lassen. Hatte doch der Befehlshaber der letzteren, der General Clinchant, auf die erste Kunde vom Waffenstillstand, dessen nähere, ihn und seine Armee bekanntlich ausschließende Bestimmungen ihm offenbar nicht bekannt geworden waren, dem schweizerischen Obercommandanten, dem General Herzog, erklären lassen, daß kein französischer Soldat die Schweizer Grenze überschreiten dürfe. Nun aber, ohne Zweifel im Laufe des Tages von seinem Irrthum überzeugt, änderte er seinen Entschluß, und schon am Abend mußte sich die ganze schweizerische Brigade an der Grenze sammeln, da sich die französischen Colonnen derselben bis auf dreihundert Schritte genähert hatten.
Seiner Weisung zufolge wollte sich, wie gesagt, der schweizerische Brigadier dem Uebertritte widersetzen. Während er mit dem französischen Colonnencommandanten unterhandelte, vernahm man aus kurzer Entfernung, vom Joux-Fort her, eine lebhafte Kanonade. Etliche Corps unter dem Befehl des General Billot suchten hier, unterstützt von der Artillerie der Forts, den Rückzug der Hauptarmee zu decken. Unter solchen Umständen fand es der schweizerische Brigadecommandant für angemessen, beim Obercommandanten um neue Verhaltungsbefehle nachzusuchen, und diese lauteten nun dahin, den Uebertritt der Armee nach Niederlegung der Waffen zu gestatten. In der Nacht vom 31. Januar auf den 1. Februar kam der schweizerische Obergeneral selbst nach Verrières, der Uebertrittsvertrag wurde abgeschlossen, und nun begann der Einmarsch der geschlagenen und bis dahin verfolgten Armee.
In endlosen unübersehbaren Zügen in der noch kaum angebrochenen Dämmerung des eisigkalten Wintermorgens, mehr einem gespenstigen Heereszuge, denn einer wirklichen Armee von Lebendigen gleichend, bewegten sie sich heran, die numerisch noch so gewaltigen, aber in ihrer physischen und moralischen Erschöpfung zu gänzlicher Ohnmacht verdammten, in Hunger und Elend verkommenen Trümmer der Ostarmee. Sie kamen mit Reserve, Munitionspark, Mitrailleusen und Gebirgsbatterien, vielfach in buntem Durcheinander, Infanterie, Cavallerie und Artillerie, Zuaven, Turcos, Freiwillige, Ulanen, Lanciers, Kürassiere in weiten blutrothen, und Dragoner in zerfetzten weißwollenen, schmutzigen Mänteln – eine Maskerade, aber eine bunte Maskerade des Todes und der Zernichtung. [219] Zahllose vermochten sich kaum noch vorwärts zu schleppen durch den bis an die Kniee reichenden Schnee des hochgelegenen Jurapasses. Zu Hunderten stürzten Menschen und Thiere nieder, die Letzteren um hülflos zu verenden oder durch einen mitleidigen Schuß oder Bajonnetstich von ihren Qualen für immer erlöst zu werden. Aber vorwärts, vorwärts mußten sie, die noch vor wenig Monden so lebensmuthigen, kampflustigen und jetzt so todesbleichen, abgemagerten Krieger; denn in ihrem Rücken kämpfte, wie erwähnt, die Nachhut noch den Verzweiflungskampf mit dem unaufhaltsam nachdringenden Sieger und mahnte der dumpfe Donner der Kanonen zur Eile.
Etwa zwanzig Minuten von dem kleinen Verrières Suisse findet man eine Pappelallee und dicht an der Grenze das schweizerische Douanengebäude, woselbst die Entwaffnung der unglücklichen Armee durch die schweizerischen Grenzbewachungstruppen vor sich ging. Von Morgens fünf bis Abends sieben Uhr dauerte nur an dieser Stelle der Einmarsch und das betrübende Schauspiel der Entwaffnung. Es versteht sich von selbst, daß ich so lange nicht aushielt; aber das Elend und das Entsetzen, das hier bei Verrières Suisse in wenigen Stunden an meinen Augen vorüberzog, wird mir Zeit meines Lebens unvergessen bleiben. Im riesigen Haufen lagen bald Chassepot, Remington und Peabody, Reitersäbel und Pistolen übereinander geschüttet da, von den ehemaligen Eigenthümern mit fast stupider Gleichgültigkeit oder mit stummer Entsagung den Händen der Wächter eingeliefert. Von ihrer Bedienungsmannschaft gleichgültig verlassen, gähnten die endlosen Reihen der schwarzen, eisernen Feuerschlünde in die kalte, öde Winterlandschaft hinaus, fast bei jedem Schritt fiel mein Blick auf Pferdeleichen und hoch oben kreisten Geier und Raubvögel mit wildem Geschrei, begierig, sich auf die bereite Beute herabzustürzen. Gerade bei Verrières fand ich einen Omnibus von Artignon; die Thür war geöffnet, aber der Besatz der Polster schon halb abgefressen, die Pferde hatten in ihrem Heißhunger ihn zur Speise auserlesen, wie auch den Kutschenschlag, der nur noch zerfressen herabhing. Angeschirrte und nicht angeschirrte Pferde irrten wiehernd über das Schneegefild, und wo sie beisammen hielten, dienten ihnen Geschirr und sogar die Mähnen als gegenseitiges Nahrungsmittel.
Die Mannschaften selbst, kaum entwaffnet, warfen sich da, wo sie standen, in den hohen Schnee oder drängten sich unter den schützenden Dächern der Häuser und in den Fluren und Zimmern der gastlichen Dorfbewohner zusammen. Weiter nach Verrières le français, einem armen, unscheinbaren Orte, begegneten wir allenthalben Verwundeten, die verlassen abseits lagen, Müden, die im Schnee gekauert eine kurze Rast machten, Verwundeten, die nicht mehr weiter konnten, oft ohne Fußbekleidung oder mit durchlöcherten Schuhen, aus denen die halberstarrten Zehen schauten. Die Lippen dieser Unglücklichen bebten, ihre abgemagerten Züge, ihr mattes Auge flehte um eine Labung, die sie dankerfüllt entgegennahmen. Wieder andere schleppten sich mühsam weiter und schienen jeden Augenblick zusammenbrechen zu wollen. Und noch immer diese Kälte, dieser eisige Windhauch von den Bergen, der das Blut der Wunden zu Eis erstarren, den Athem zu Glasperlen erfrieren ließ, die an Kopf- und Barthaaren hingen.
Aus den ärmlichen und volksarmen Grenzorten kamen die Leute, Männer, Frauen und Kinder mit Brod, Wein, Branntwein, mit Allem, was sie besaßen, heraus, um den Verlassenen etwas Stärkendes zu bieten, ihnen aufzuhelfen zum Fortkommen, sie zu stützen, fortzuführen – bei Manchem vergebens, der sterbensmüde, zum Tode krank oder verwundet, dankend mit Blick oder Geberde, oder mit matter Stimme, nur die Erlösung von seinen Leiden erwartete. Dort rief der Eine, an die letzte Lebenshoffnung sich anklammernd, nach Labung, nach einem Trunk, nach Brod und verschlang gierig das Gebotene mit einem Ah! der Hoffnung – dort wies ein Anderer stumm die Hülfe zurück oder sagte: „Laissez-moi mourir!“
Die Officiere inzwischen thaten sich in den Gasthöfen von Verrières gütlich, unbekümmert um das Loos ihrer zu Tode gehetzten Soldaten. Noch mehr! Zwei Soldaten fielen auf der Straße vor Erschöpfung nieder. Zwei Frauen wollten ihnen helfen, sich wieder aufzurichten. Die zu Tode Erschöpften baten, sie lieber ruhig liegen und sterben zu lassen. Das wollten nun hinwieder die beiden barmherzigen Samariterinnen nicht und sie baten zwei gleichgültig vorüberschreitende französische Officiere, denen freilich von Mangel und Erschöpfung nichts anzusehen war, ihnen bei dem Liebeswerke zu helfen. „Laissez-les crever, les canailles!“ (Lassen Sie die Hallunken crepiren!) gaben die menschenfreundlichen Herren zur Antwort und schritten fürbaß, dem Gasthofe zu.
Nein, eine solche Armee war nicht mehr kampffähig. Denn zu allem übrigen Elende gesellte sich auch noch die Aufhebung jeglicher Disciplin. Kein Soldat erweist auch heute noch im Innern der Schweiz seinem vorüberschreitenden ehemaligen Officier, welchen Grades dieser auch sein möge, die sonst üblichen Ehrenbezeigungen; eher spuckt er vor dem hochmüthig und gleichgültig an ihm Vorübergehenden verächtlich aus, oder knirscht ihm eine Verwünschung nach.
Von Kranken und Verwundeten waren inzwischen die Hausräume der rings um Verrières liegenden Orte überfüllt, nirgends ein Unterkommen mehr. Was an Vorräthen vorhanden, reichte kaum für den ersten Tag; die Bewohner in ihrem samaritischen Aufopferungseifer litten bald nicht minder Mangel als die fremden Gäste selbst, als die hier zur Grenzwache bestimmten schweizerischen Soldaten. Aber es war vorgesorgt worden. Fourage- und Lebensmittelwagen langten an.
Die marschfähigen Colonnen oder Corpsabtheilungen hatten gleich nach der Abgabe ihrer Waffen den Weitermarsch angetreten, durch die Felsgalerie in das Thal der tobenden Reusse, durch den dunklen Tunnel in das weltromantische Travers-Thal. Wenn auch in dieser traurigen Lage, bei der Abmattung und Abspannung, die pittoresken Naturgebilde den Einzelnen nicht sonderlich zu fesseln schienen, so war doch bei Manchem der Humor nach der ersten Labung wiedergekehrt, und je mehr die Leute in das Thal hinabkamen, desto reichlicher flossen die Gaben, so in St. Sulpice, in Flanier insbesondere, in Condet, Travers, wo rechts der Straße mit den herübergebrachten Geschützen ein Artilleriepark gebildet wurde, um später nach und nach von den Franzosen unter eidgenössischer Escorte nach Colombier abgeführt zu werden, indessen die Massen der Internirten sich nach Neuenburg zu wenden hatten, und von hier aus in entsprechendster Weise nach den Cantonen vertheilt wurden. Und wirklich, wer Gelegenheit hatte zu sehen, mit welcher Schnelligkeit nach besten Kräften und nach Möglichkeit die Militärbehörden die Beförderung und Unterbringung der massenweise heranrückenden Internirten besorgten, wie bei der oft unbegreiflichen Unthätigkeit der meisten französischen Officiere und Ambulancen die schweizerischen Ambulancen und Hülfscomités den Ambulancedienst versahen, mit welcher Gewandtheit schweizerische, oft der französischen Sprache nicht mächtige Officiere Ordnung in diese fremden Colonnen brachten und sich das Vertrauen der fremden Krieger erwarben, der wird auch erkannt haben, daß das schweizerische Verwaltungs- und Wehrwesen sich in vollständigster Weise bewährte.
Es handelte sich beim Empfange und der Unterbringung dieser Heerestrümmer nicht um Sympathie – die fünfzig von den Franzosen mit herübergebrachten gefangenen Preußen, die freilich in bester Ausrüstung, eine kernige kleine Schaar, sehr merkbar contrastirten mit denen, von denen sie gefangen gehalten worden waren, auch sie fanden ja überall eine nicht minder herzliche Aufnahme, und man hatte für sie ein gesondertes und gutes Local in Neuenburg bereit gehalten, wo sie sich überzeugen konnten, daß die Gaben der Neutralen für sie vielleicht noch reichlicher flossen, als für ihre – Erbfeinde. Der Wohlthätigkeitssinn der Schweiz hatte überall den Empfang bereitet – und sind die Schweizer nicht allenthalben bekannt, daß sie das Unglück zu lindern sich bestreben?
Kaum vierzehn Tage genügten, um die vielen Tausende – nahezu sechsundachtzigtausend – mit dem Dringendsten zu versehen und die Halbverhungerten wieder zu Kräften zu bringen. Manche erlagen seitdem, trotz bester Pflege, ihren Strapazen und den Krankheiten, welche der Hunger und die Entbehrungen hervorriefen. Auf vielen Kirchhöfen zeigt ein einfaches schwarzes Kreuz, vielleicht kranzgeschmückt von mildthätiger Hand, die letzte Ruhestätte eines Franzosen. Die Schweiz hat sich durch diesen momentanen Zuwachs der Bevölkerung nicht erschöpft; sie ist nicht verarmt und wird es nicht werden. Sie findet sich glücklich in dem Gefühle, Unglücklichen die helfende Hand gereicht zu haben, und wohl schwerlich wird einer dieser Franzosen die Zeit vergessen, wo er auf dem schützenden neutralen Schweizerboden ein Obdach und – Menschen fand.[1] Aber unvergessen wird auch der Uebertritt dieser Heerestrümmer bleiben der Schweiz und besonders den Bewohnern ihrer Westgrenzorte.
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- ↑ Und Zürich?D. Red.