Der Schafhirt im Hochgebirge
Das Studienleben des Landschaftsmalers, der seine Motive der Hochgebirgswelt entlehnt, bietet selbst einem kräftigen, an mancherlei Entbehrungen gewöhnten Körper vielfache Beschwerden, und oft müssen nach langem Marsche einige flüchtige Striche in’s Skizzenbuch genügen, ein malerisches Object festzustellen, wenn kein wie immer genanntes Obdach einen längeren Aufenthalt gestattet.
In einem nahezu sechstausend Fuß hoch gelegenen Seitenthale Nordtirols fand ich in Mitte der wildesten Felspartien zwei Sommer hindurch eine äußerst primitive, aber immerhin sehr willkommene Zufluchtsstätte in einer Schafalpe, welche als letztes menschliches Asyl, einige tausend Schritte von den Gletscherböden entfernt, zwischen dem verworrenen Chaos entwurzelter oder kahl in die Luft ragender Zirbelkiefern verborgen lag.
Die Hütte, gleich all den Schäferhütten des Hochgebirges blockhausartig gebaut, war kaum fünf Schuh hoch und acht Schuh lang, und die innere Einrichtung bestand aus einer Bettlade, nothdürftig mit Heu gefüllt, einer Bank und dem kleinen Heerd; an den Wänden zog sich eine Brettstelle hin, auf der die geringen Mundvorräthe von Mehl, Brod und Fett untergebracht waren. Ein Crucifix, die dicke silberne Uhr und einige Zinnlöffel konnten als Zierrath gelten in dem schwarzgeräucherten Raume, der nur durch die niedrige Thür Licht empfing.
Abgeschieden von der Welt, so recht nächst den Sternen, wohnt der Schäfer der Hochalpe, meist ein alter Mann, vom Monate Juli bis Ende September und versieht sein mühevolles, wenig beneidenswerthes Geschäft. Seine Heerde besteht aus hundert bis zweihundert Schafen, die ihr karges Futter, aus Moos, Flechte und kurzen Kräutern bestehend, auf gleicher Höhe mit der Gemse aufsuchen; die Thiere klettern dieser gleich, und der Gebirgsjäger haßt die Schafwirthschaft aus vollem Herzen, da die Gemse für den ganzen Sommer den Futterplatz verläßt, auf dem ein Schaf geweidet hat.
Die Freiheit, der Kampf mit Sturm, Regen und Schnee macht die Heerde bald so menschenscheu wie das Wild selbst, und es giebt nur ein Lockmittel, dem sie nicht widersteht und das sie von fern wittert – das Salz.
Zweimal in der Woche steigt der Schäfer mit Bergstock und Salztasche bewaffnet bergauf, bergab und sucht zuweilen stundenlang, bis er die Thiere findet. Je weiter sich die Schafe vorwagen, desto mühevoller wird die Arbeit des Suchenden, und nicht selten kehrt der Schäfer nach acht- bis zehnstündigem Suchen resultatlos heim, um am nächsten Morgen in anderer Richtung neuerdings auszuspähen. Mit dem eigenthümlich monotonen Ruf „Sal! Sal!“ steigt der Schäfer am öden Steingerölle aufwärts; hat er die Spur der Heerde gefunden, so lockt er sie mit diesem Zauberwort rasch von ihren Höhen und streut nun im großen Kreise Salz auf die Steinblöcke. Er selbst steht in Mitte dieses Cirkels möglichst an hoher Stelle, um die Schafe übersehen und abzählen zu können. Nur allmählich rücken die Thiere näher und näher, zuerst in geschlossenen Reihen scheu und langsam vordringend, bis sie endlich das Salz erspäht haben: da löst sich der ganze Knäuel, die Masse stürzt sich darauf los und jedes einzelne Thier kämpft stoßend und drängend, um zur Salzstelle zu gelangen, ohne aber den Erfolg länger als einen Moment ausnützen zu können, da die hinteren Reihen wüthend vorwärts drängen. Wer diesen wilden Kampf nie mit angesehen, wird es unglaublich finden, daß es geradezu lebensgefährlich wäre, einer Schafheerde im Hochgebirge das Salz mit der Hand reichen zu wollen, denn im nächsten Momente wäre man zu Boden geworfen und von der nachstürmenden Schaar zertreten bis sie die Salztasche erobert und geleert hat.
Haben endlich die Thiere die letzte Spur eines Salzkörnchens aufgeleckt und hat der wartende Schäfer jede weitere Annäherung derselben zu seinem Platze durch stets wiederholte Schläge seines mächtigen Bergstockes zurückgewiesen, dann beginnen sie sich in kleinen, getrennten Schaaren wieder zu zerstreuen.
Die Uebung hat den Blick eines erfahrenen Schäfers ganz merkwürdig ausgebildet, und wenn er auch bei einer Heerde von zweihundert Stück das Fehlen von zwei oder drei Thieren übersieht, der Abgang von vier und fünf entgeht ihm nicht, und findet eben darin seine Aufklärung, daß vierzig bis fünfzig Schafe immer eine abgeschlossene Gruppe bilden, und in dieser selbst geschaffenen Ordnung den ganzen Sommer zusammen weiden. – Wenn nun einzelne Thiere fehlen, so beginnt die mühevollste Arbeit des Schäfers, um die Flüchtlinge zu finden oder über deren Abgang eine natürliche Aufklärung zu erlangen. So kehrt der alte Mann einige Male der Woche, müde, naß oder starr vor Kälte, am Abend heim in seine Hütte und die erste Arbeit besteht darin, ein Feuer anzuzünden, um die Kleider zu trocknen und das frugale Abendmahl zu bereiten. Hat die Umgebung der Hütte genügenden Weideplatz für eine Ziege, so ist diese seine Gesellschafterin und ihre Milch seine Nachtsuppe. Hunde haben die Schäfer im Hochgebirge selten.
Von vierzehn zu vierzehn Tagen kömmt ein Bursche seines Dorfes, bringt frischen Mundvorrath und berichtet ihm wohl Neuigkeiten, die, insbesondere in kriegerischer Zeit, dem alten Tirolerschützen alle Erinnerungen seiner Jugend vor die Seele zaubern. Nach kurzer Rast kehrt der Bursche heim, er sucht zum Nachtlager lieber eine tiefer gelegene „Senn-Alm“ mit Butter- und Käse-Wirthschaft, wo er eine behaglichere Stätte nebst Mischkost findet, und wenn nicht ein Edelweißsteiger, ein Jäger oder Wurzelngräber für Branntwein-Brennereien bei dem Schäfer im Vorüberkommen einspricht, so lebt dieser einsam und fast verschollen in seiner unwirthbaren Höhe.
Abends, wenn die Sonne für die Thäler des Hochgebirges längst untergegangen, sitzt der alte Mann, sein kurzes Pfeifchen schmauchend, an einem nahen Felsabhang und schaut mit sehnsüchtigem Blick hinüber zu den sanfteren Hügelketten des Vorlandes gegen den Bregenzerwald und den Bodensee, die alle noch vom vollsten Sonnenlichte beschienen sind. Er möchte so gerne die wogenden Kornfelder und die fetten Weiden der Ebene schauen, von denen man ihm so oft erzählt, und er hält es für unglaublich, daß er dort, von Heimweh befallen, wieder zu den Bergen zurückkehren würde.
Wenn die Schatten am Firneis, dessen Spitzen noch im Abendlichte man erglänzen, länger und länger werden, wenn die Sterne am Himmel aufziehen, schreitet er vor bis zur Felswand, unter welcher in mächtiger Tiefe einige Sennhütten zerstreut liegen, und läßt drei gellende Pfiffe ertönen, die im Echo der Berge ganz geisterhaft verhallen. Bald antworten ähnliche Pfiffe oder „Juchzer“ aus der Tiefe und darauf kehrt der Schäfer in seine Hütte zurück. Dieser Ruf wiederholt sich allabendlich und ist das einzige mögliche Zeichen, sein Wohlbefinden lebenden Wesen mitzutheilen; bleibt dieses Zeichen einen – zwei Tage aus, nun, dann liegt er wohl krank in seiner Hütte, man kommt nachzusehen und bringt Beistand, soweit dies in solcher Einöde überhaupt möglich ist. –
Der Abschied von der Schafalpe wird durch die Witterung bedingt und wechselt zwischen Ende August und Mitte September.
Die Winterwohnung wechselt der Schäfer wochenweise bei den Bauern, deren Schafe er gehütet, und seine Aufnahme gestaltet sich, je nachdem er die Mästung der Thiere durch regelmäßiges „Salzen“ befördert oder durch Aufmerksamkeit das Verunglücken derselben thunlichst zu verhindern suchte. Am Neujahrstag erhält der Schäfer seinen Lohn, der, mit Ausnahme der Kost, die harte Arbeit des Sommers bezahlt: ein Paar Schuhe, zwei Hemden, vier Pfund Rolltabak und fünfzehn Gulden baares Geld. Das ist der Reichthum eines Schafhirten Nordtirols am Neujahrsmorgen; und dennoch vertraute mir mein alter Schäfer beim Abschiede, daß er in zwanzig Jahren, mit Beihülfe kleiner Nebenverdienste als Löffelschnitzen, Reisigbesenbinden und dergleichen, nun vierzig Gulden in der Sparcasse liegen habe.
Ich verließ einen zufriedenen Menschen, der nur die eine Sehnsucht kannte, vor seinem Tode noch etwas mehr von Gottes schöner Erde zu schauen, als seine Berge.