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Der Stechlin/Sechsunddreißigstes Kapitel

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Sonnenuntergang.
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Sechsunddreißigstes Kapitel.


     Der alte Dubslav, als er bald nach elf auf seinem Granseer Bahnhof eintraf, fand da Martin und seinen Schlitten bereits vor. Engelke hatte zum Glück für warme Sachen gesorgt, denn es war inzwischen recht kalt geworden. Im ersten Augenblicke that dem Alten, in dessen Coupé die herkömmliche Stickluft gebrütet hatte, der draußen wehende Ostwind überaus wohl, sehr bald aber stellte sich ein Frösteln ein. Schon tags zuvor, bei Beginn seiner Reise, war ihm nicht so recht zu Mute gewesen, Kopfweh, Druck auf die Schläfe; jetzt war derselbe Zustand wieder da. Trotzdem nahm er’s leicht damit und sah in das Sterngeflimmer über ihm. Die wie Riesenbesen aufragenden Pappeln warfen dunkle, groteske Schatten über den Weg, während er die nach links und rechts hin liegenden toten Schneefelder mit den wechselnden Bildern alles dessen, was ihm der zurückliegende Tag gebracht hatte, belebte. Da sah er wieder die mit rotem Teppich belegte Hotel-Marmortreppe mit dem Oberkellner in Gesandtschaftsattachéhaltung, und im nächsten Augenblicke den Garnisonkirchenküster, den er anfänglich für einen zur Feier eingeladenen Konsistorialrat gehalten hatte. Daneben aber stand die blasse, schöne Braut und die reizende, bieg- und schmiegsame Melusine. „Ja, der alte Barby, wenn er auf die sieht, der hat’s gut, der [412] kann es aushalten. Immer einen guten und klugen Menschen um sich haben, immer was hören und sehen, was einen anlacht und erquickt, das ist was. Aber ich! Ich für meinen Teil, gleichviel ob mit oder ohne Schuld, ich war immer nur auf ein Pflichtteil gesetzt, – als Kind, weil ich faul war, und als Leutnant, weil ich nicht recht was hatte. Dann kam ein Lichtblick. Aber gleich darnach starb sie, die mir Stab und Stütze hätte sein können, und durch all die dreißig Jahre, die seitdem kamen und gingen, blieb mir nichts, als Engelke (der noch das beste war) und meine Schwester Adelheid. Gott verzeih mir’s, aber ein Trost war die nicht; immer bloß herbe wie ’n Holzapfel.“

     Unter solchen Betrachtungen fuhr er in das Dorf ein und hielt gleich darnach vor der Thür seines alten Hauses. Engelke war schon da, half ihm und that sein Bestes, ihn aus der schweren Wolfsschur herauszuwickeln. Der immer noch Fröstelnde stapfte dabei mit den Füßen, warf seinen Staatshut – den er unterwegs, weil er ihn drückte, wohl hundertmal verwünscht hatte – mit ersichtlicher Befriedigung beiseite und sagte gleich danach beim Eintreten in sein Zimmer: „Ach, das is recht, Engelke. Du hast ein Feuer gemacht; du weißt, was einem alten Menschen gut thut. Aber es reicht noch nicht aus. Ob wohl unten noch heißes Wasser ist? So ’n fester Grog, der sollte mir jetzt passen; ich friere Stein und Bein.“

     „Heiß Wasser is nicht mehr, gnädiger Herr. Aber ich kann ja ’ne Kasseroll’ aufstellen. Oder noch besser, ich hole den Petroleumkocher.“

     „Nein, nein, Engelke, nicht so viel Umstände. Das mag ich nicht. Und den Petroleumkocher, den erst recht nich; da kriegt man bloß Kopfweh, und ich habe schon genug davon. Aber bringe mir den Cognac und kaltes Wasser. Und wenn man dann so halb und halb [413] nimmt, dann is es so gut, als wär’ es ganz heiß gewesen.“

     Engelke brachte, was gefordert, und eine Viertelstunde danach ging Dubslav zu Bett.

* * *

     Er schlief auch gleich ein. Aber bald war er wieder wach und druste nur noch so hin. So kam endlich der Morgen heran.

     Als Engelke zu gewohnter Stunde das Frühstück brachte, schleppte sich Dubslav mühsamlich von seinem Schlafzimmer bis an den Frühstückstisch. Aber es schmeckte ihm nicht. „Engelke, mir ist schlecht; der Fuß ist geschwollen, und das mit dem Cognac gestern abend war auch nicht richtig. Sage Martin, daß er nach Gransee fährt und Doktor Sponholz mitbringt. Und wenn Sponholz nicht da ist – der arme Kerl kutschiert in einem fort rum; ohne Landpraxis geht es nicht – dann soll er warten, bis er kommt.“

     Es traf sich so, wie Dubslav vermutet hatte; Sponholz war wirklich auf Landpraxis und kam erst nachmittags zurück. Er aß einen Bissen und stieg dann auf den Stechliner Wagen.

     „Na, Martin, was macht denn der gnäd’ge Herr?“

     „Joa, Herr Doktor, ick möt doch seggen, he seiht en beten verännert ut; em wihr schon nich so recht letzten Sünndag un doa müßt’ he joa nu grad nach Berlin. Un ick weet schon, wenn ihrst een’ nach Berlin muß, denn is ok ümmer wat los. Ick weet nich, wat se doa mit ’n ollen Minschen moaken.“

     „Ja, Martin, das ist die große Stadt. Da übernehmen sie sich denn. Und dann war ja auch Hochzeit. Da werden sie wohl ein bißchen gepichelt haben. Und vorher die kalte Kirche. Und dazu so viele feine Damen. Daran ist der gnäd’ge Herr nicht mehr gewöhnt, [414] und dann will er sich berappeln und strengt sich an, und da hat man denn gleich was weg.“

     Es dämmerte schon, als der kleine Jagdwagen auf der Rampe vorfuhr. Sponholz stieg aus und Engelke nahm ihm den grauen Mantel mit Doppelkragen ab und auch die hohe Lammfellmütze, darin er – freilich das einzige an ihm, das diese Wirkung ausübte – wie ein Perser aussah.

     So trat er denn bei Dubslav ein. Der alte Herr saß an seinem Kamin und sah in die Flamme.

     „Nun, Herr von Stechlin, da bin ich. War über Land. Es geht jetzt scharf. Jeder dritte hustet und hat Kopfweh. Natürlich Influenza. Ganz verdeubelte Krankheit.“

     „Na, die wenigstens hab’ ich nicht.“

     „Kann man nicht wissen. Ein bißchen fliegt jedem leicht an. Nun, wo sitzt es?“

     Dubslav wies auf sein rechtes Bein und sagte: „Stark geschwollen. Und das andre fängt auch an.“

     „Hm. Na, wollen mal sehen. Darf ich bitten?“

     Dubslav zog sein Beinkleid herauf, den Strumpf herunter und sagte: „Da is die Bescherung. Gicht ist es nicht. Ich habe keine Schmerzen… Also was andres.“

     Sponholz tippte mit dem Finger auf dem geschwollenen Fuß herum und sagte dann: „Nichts von Belang, Herr von Stechlin. Einhalten, Diät, wenig trinken, auch wenig Wasser. Das verdammte Wasser drückt gleich nach oben, und dann haben sie Atemnot. Und von Medizin bloß ein paar Tropfen. Bitte, bleiben Sie sitzen; ich weiß ja Bescheid hier.“ Und dabei ging er an Dubslavs Schreibtisch heran, schnitt sich ein Stück Papier ab und schrieb ein Rezept. „Ihr Kutscher, das wird das beste sein, kann bei der Apotheke gleich mit vorfahren.“

[415]      Im Vorflur, nach Verabschiedung von Dubslav, fuhr Sponholz alsbald wieder in seinen Mantel. Engelke half ihm und sagte dabei: „Na, Herr Doktor?“

     „Nichts, nichts, Engelke!“

     Martin mit seinem Jagdwagen hielt noch wartend auf der Rampe draußen und so ging es denn in rascher Fahrt wieder nach der Stadt zurück, von wo der alte Kutscher die Tropfen gleich mitbringen sollte.

     Der Winterabend dämmerte schon, als Martin zurück war und die Medizin an Engelke abgab. Der brachte sie seinem Herrn.

     „Sieh mal,“ sagte dieser, als er das rundliche Fläschchen in Händen hielt, „die Granseer werden jetzt auch fein. Alles in rosa Seidenpapier gewickelt.“ Auf einem angebundenen Zettel aber stand: „Herrn Major von Stechlin. Dreimal täglich zehn Tropfen.“ Dubslav hielt die kleine Flasche gegen das Licht und tröpfelte die vorgeschriebene Zahl in einen Löffel Wasser. Als er sie genommen hatte, bewegte er die Lippen hin und her, etwa wie wenn ein Kenner eine neue Weinsorte probt. Dann nickte er und sagte: „Ja, Engelke, nu geht es los. Fingerhut.“

* * *

     Der alte Dubslav nahm durch mehrere Tage hin seine Tropfen ganz gewissenhaft und fand auch, daß sich’s etwas bessere. Die Geschwulst ging um ein Geringes zurück. Aber die Tropfen nahmen ihm den Appetit, so daß er noch weniger aß, als ihm gestattet war.

     Es war ein schöner Frühmärzentag, die Mittagszeit schon vorüber. Dubslav saß an der weit offenstehenden Glasthür seines Gartensalons und las die Zeitung. Es schien indes, daß ihm das, was er las, nicht sonderlich gefiel. „Ach, Engelke, die Zeitung ist [416] ja so weit ganz gut; nur so für den ganzen Tag ist sie doch zu wenig. Du könntest mir lieber ein Buch bringen.“

     „Was für eines?“

     „Is egal.“

     „Da liegt ja noch das kleine gelbe Buch: „Keine Lupine mehr!““

     „Nein, nein; nicht so was. Lupine, davon hab’ ich schon so viel gelesen; das wechselt in einem fort und eins ist so dumm wie das andre. Die Landwirtschaft kommt doch nicht wieder obenauf oder wenigstens nicht durch so was. Bringe mir lieber einen Roman; früher in meiner Jugend sagte man Schmöker. Ja, damals waren alle Wörter viel besser als jetzt. Weißt du noch, wie ich mir in dem Jahre, wo ich Zivil wurde, den ersten Schniepel machen ließ? Schniepel is auch solch Wort und doch wahrhaftig besser als Frack. Schniepel hat so was Fideles: Einsegnung, Hochzeit, Kindtaufe.“

     „Gott, gnädiger Herr, immer is es doch auch nicht so. Die meisten Schniepel sind doch, wenn einer begraben wird.“

     „Richtig, Engelke. Wenn einer begraben wird. Das war ein guter Einfall von dir. Früher würd’ ich gesagt haben ‚zeitgemäß‘; jetzt sagt man ‚opportun‘. Hast du schon mal davon gehört?“

     „Ja, gnädiger Herr, gehört hab’ ich schon mal davon.“

     „Aber nich verstanden. Na, ich eigentlich auch nich. Wenigstens nicht so recht. Und du, du warst ja nich mal auf Schulen.“

     „Nein, gnädiger Herr.“

     „Alles in allem, sei froh drüber… Aber Engelke, wenn du mir nu ein Buch gebracht hast, dann will ich mich mit meinem Stuhl doch lieber gleich auf die Veranda ’rausrücken. Es ist wie Frühling heut. Solche guten Tage muß man mitnehmen. Und bringe mir [417] auch ’ne Decke. Früher war ich nich so für’s Pimplige; jetzt aber heißt es: besser bewahrt als beklagt.“

* * *

     In dem ganzen Dreieck zwischen Rheinsberg, Kloster Wutz und Gransee hatte sich die Nachricht von des alten Dubslav ernster Erkrankung mehr und mehr herumgesprochen, und es war wohl im Zusammenhange damit, daß ungefähr um dieselbe Stunde, wo Dubslav und Engelke sich über „Schniepel“ und „opportun“ unterhielten, ein Einspänner auf die Stechliner Rampe fuhr, ein etwas sonderbares Gefährt, dem der alte Baruch Hirschfeld langsam und vorsichtig entstieg. Engelke war ihm dabei behilflich und meldete gleich danach, daß der Alte da sei.

     „Der alte Baruch! Um Gottes willen, Engelke, was will denn der? Es ist ja doch glücklicherweise nichts los. Und so ganz aus freien Stücken. Na, laß ihn kommen.“

     Und Baruch Hirschfeld trat gleich darauf ein.

     Dubslav, in seine Decke gewickelt, begrüßte den Alten. „Aber, Baruch, um alles in der Welt, was giebt es? Was bringen Sie? Gleichviel übrigens, ich freue mich, Sie zu sehn. Machen Sie sich’s so bequem, wie’s auf den drei Latten eines Gartenstuhls überhaupt möglich ist. Und dann noch einmal: Was giebt es? Was bringen Sie?“

     „Herr Major wollen entschuldigen, es giebt nichts, und ich bringe auch nichts. Ich kam da bloß so vorbei, Geschäfte mit Herrn von Gundermann, und da wollt’ ich mir doch die Freiheit genommen haben, mal nach der Gesundheit zu fragen. Habe gehört, der Herr Major seien nicht ganz gut bei Wege.“

     „Nein, Baruch, nicht ganz gut bei Wege, beinahe schon schlecht genug. Aber lassen wir das schlimme [418] Neue; das Alte war doch eigentlich besser (das heißt dann und wann), und manchmal denk’ ich so an alles zurück, was wir so gemeinschaftlich miteinander durchgemacht haben.“

     „Und immer glatt, Herr Major, immer glatt, ohne Schwierigkeiten.“

     „Ja,“ lachte Dubslav, „gemacht hab’ ich keine Schwierigkeiten, aber gehabt hab’ ich genug. Und das weiß keiner besser als mein Freund Baruch. Und nun sagen Sie mir vor allem, was macht Ihr Isidor, der große Volksfreund? Ist er mit Torgelow noch zufrieden? Oder sieht er, daß sie da auch mit Wasser kochen? Ich wundere mich bloß, daß ein Sohn von Baruch Hirschfeld, Sohn und Firmateilhaber, so sehr für den Umsturz ist.“

     „Nicht für den Umsturz, Herr Major. Isidor, wenn ich so sagen darf, ist für die alte Valuta. Aber nebenher hat er ein Herz für die Menschheit.“

     „Hat er? Na, das ist recht.“

     „Und das Herz für die Menschheit, das haben wir alle, Herr Major. Und kommt uns dabei was heraus, so haben wir, wenn ich so sagen darf, die Dividende. Gott der Gerechte, wir brauchen’s. Und weil ich rede von Dividende, will ich auch reden von Hypothek. Wir haben da seit letzten Freitag ’n Kapital, Granseer Bürger, und will’s hergeben zu dreiundeinhalb.“

     „Nu, Baruch, das ist hübsch. Aber im Augenblick bin ich’s nicht benötigt. Vielleicht später mal mein Woldemar. Der hat, wie Sie wissen, ’ne reiche Partie gemacht, und wer viel erheiratet, der braucht auch viel. Man denkt immer, ‚dann hört es auf‘, aber das ist falsch, dann fängt es erst recht an. Unter allen Umständen seien Sie bedankt, daß Sie mal haben sehen wollen, wie’s mit mir steht. Ich kann leider nur wiederholen, schlecht genug. Aber eine Weile dauert es wohl [419] noch. Und wenn auch nicht, mit meinem Sohne wird sich, denk’ ich, gerade so wie zwischen uns zwei beiden, alles glatt abwickeln, glatter noch, und vielleicht können sie gemeinschaftlich mal was Nettes herauswirtschaften, was Ordentliches, was Großes, was sich sehen lassen kann. Das heißt dann neue Zeit. Und nun, Baruch, müssen Sie noch ein Glas Sherry nehmen. In unserm Alter ist das immer das beste. Das heißt für Sie, der Sie noch gut im Gange sind. Ich darf bloß noch mit anstoßen.“

     Eine Viertelstunde später fuhr Baruch auf seinem Wägelchen wieder in den Stechliner Wald hinein und dachte wenig befriedigt über alles nach, was er da drinnen gehört hatte. Die geträumten Schloß Stechlin-Tage schienen mit einemmale für immer vorüber. Alles, was der alte Herr da so nebenher von „gemeinschaftlich herauswirtschaften“ gesagt hatte, war doch bloß ein Stich, eine Pike gewesen.

     Ja, Baruch fühlte was wie Verstimmung. Aber Dubslav auch. Es war ihm zu Sinn, als hätt’ er seinen alten Granseer Geld- und Geschäftsfreund (trotzdem er dessen letzte Pläne nicht einmal ahnte), zum erstenmal auf etwas Heimlichem und Verstecktem ertappt, und als Engelke kam, um die Sherryflasche wieder wegzuräumen, sagte er: „Engelke, mit Baruch is es auch nichts. Ich dachte wunder, was das für ein Heiliger wär’, und nun is der Pferdefuß doch schließlich ’rausgekommen. Wollte mir da Geld auf Hypothek beinah’ aufzwingen, als ob ich nicht schon genug davon hätte… Sonderbar, Uncke, mit seinem ewigen ‚zweideutig‘, wird am Ende doch recht behalten. Überhaupt solche Polizeimenschen mit ’nem Karabiner über die Schulter, das sind, bei Lichte besehn immer die feinsten Menschenkenner. Ich ärgere mich, daß ich’s nicht eher gemerkt habe. So dumm zu sein! Aber das mit der [420] „Krankheit“ heute, das war mir doch zu viel. Wenn sich die Menschen erst nach Krankheit erkundigen, dann ist es immer schlimm. Eigentlich is es jedem gleich, wie’s einem geht. Und ich habe sogar welche gekannt, die sahen sich, wenn sie so fragten, immer schon die Möbel und Bilder an und dachten an nichts wie an Auktion.“