Der Todesgang des armenischen Volkes/Erster Teil/Erstes Kapitel/Zweiter Teil/Dritter Abschnitt

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3. Wilajet Siwas.


Das Wilajet Siwas zählte unter 1 086 500 Bewohnern 271 500 Christen, nämlich 170 500 Armenier, 76 000 Griechen und 25 000 Syrer. Die muhammedanische Bevölkerung besteht zu ⅔ aus sunnitischen Türken, Turkmenen und Tscherkessen, zu ⅓ aus schiitischen Kisilbasch.

Vor der allgemeinen Deportation waren im Wilajet Siwas die Zustände die gleichen, wie in den Wilajets Trapezunt und Erzerum. Organisierte Banden plünderten die Dörfer. Die Gendarmen drangen unter dem Vorwande, Waffen zu suchen, in die Häuser ein, plünderten, vergewaltigten die Frauen und folterten die Bauern, um Geld zu erpressen. Jeder, der sich beklagte, wurde verhaftet. Alle Militärdienstfähigen, auch die, welche sich durch „Bedel“, die gesetzliche Militärbefreiungssteuer (44 türk. Pfd., ca. 800 Mark für die Person) losgekauft hatten, wurden ausgehoben und als Träger und Straßenarbeiter hinausgeschickt. Als man hörte, daß die Träger unterwegs aus Nahrungsmangel an Entkräftung umkamen, und daß die Wegearbeiter von ihren muhammedanischen Kameraden erschossen wurden, flohen viele, die noch nicht eingezogen waren, in die Berge, worauf die Regierung ihre Häuser verbrannte. In diesem, wie auch in allen andern Wilajets, wurde die Entwaffnung systematisch durchgeführt, ehe die Massakers und Deportationen begannen. Die Entwaffnung in den Dörfern ging in der Weise vor sich, daß ohne vorherige Ansage oder öffentlichen Anschlag die Dörfer von Gendarmen umzingelt und nach Belieben zwei- oder dreihundert Feuerwaffen von der Bevölkerung gefordert wurden. Konnten der Dorfschulze und die Ältesten etwa nur 50 aufbringen, so wurden die Notabeln eingekerkert und mit der Bastonnade traktiert. In der Stadt Siwas wurde für die Auslieferung der Waffen fünf Stunden Frist gegeben. Fand sich nachher in den Häusern noch irgend etwas, das einer Waffe ähnlich sah, so wurden die Häuser angezündet und die Bewohner getötet.

Dann begann man mit den Verhaftungen der Notabeln und Daschnakzagan in den Städten. In Siwas wurden 1200, in Schabin-Karahissar 50 verhaftet und ohne Verhör abgeführt. Bei den Haussuchungen fahndete die Behörde auf Schriftstücke oder Briefe, aus denen man Beweise für regierungsfeindliche Gesinnung oder Anschläge irgendwelcher Art herleiten konnte. Obwohl nirgends etwas gefunden wurde, verbreiteten die Behörden das lügenhafte Gerücht, daß Hunderte von Bomben und Tausende von Gewehren bei den Armeniern entdeckt worden seien, und daß die Daschnakzagan das Pulvermagazin hätten in die Luft sprengen wollen. Beweise brauchte die Regierung der leichtgläubigen muhammedanischen Bevölkerung nicht zu erbringen, erreichte aber damit die beabsichtigte Aufreizung der Muhammedaner gegen die Christen.

Nachdem alle Intellektuellen verhaftet waren, erging der Befehl der allgemeinen Deportation. Die den Armeniern drohende Gefahr wurde von den Beamten unter dem Vorgehen, daß sie es in der Hand hätten, die Deportation zu verhindern, zu großen Erpressungen ausgebeutet. Die Armenier von Tokat gaben ihrem Mutessarif 1600 türkische Pfund (ca. 30 000 Mark), um von der Deportation verschont zu bleiben.

Mersiwan.

In Mersiwan waren bereits, wie überall seit dem Beginn des Krieges, die Militärpflichtigen einberufen. Bis auf eine Anzahl von wohlhabenden Armeniern, die die gesetzliche Militärbefreiungssteuer bezahlt hatten, wurde alles, was diensttauglich war, von der Regierung herangezogen. Für die Frauen und Kinder, die ohne Mittel für den Lebensunterhalt zurückblieben, war es eine schwierige Lage. In vielen Fällen wurde das letzte Geld ausgegeben, um den ausziehenden Soldaten auszustatten. Da die Bevölkerung der Stadt zur Hälfte armenisch war, blieb eine beträchtliche Anzahl von nichtmilitärpflichtigen Armeniern in der Stadt zurück. Die Bevölkerung zählte vor der Deportation etwa 22 000, von denen gegen 12 000 Armenier waren. Der Bericht eines amerikanischen Missionars vom Kollege in Mersiwan lautet:

„Die Maßregeln der Regierung gegen die armenische Bevölkerung, für die kein Anlaß vorlag, begannen Anfang Mai damit, daß mitten in der Nacht etwa 20 von den Führern der konstitutionellen armenischen Partei aufgegriffen und verschickt wurden. Im Juni fing die Regierung an, nach Waffen zu suchen. Einige Armenier wurden ergriffen und ihnen auf der Folter das Geständnis ausgepreßt, daß eine große Masse Waffen in den Händen der Armenier sei. Eine zweite Inquisition begann. Von der Bastonnade wurde häufig Gebrauch gemacht, ebenso von Torturen mit Feuer. In einigen Fällen sollen die Augen ausgestochen worden sein. Viele Gewehre wurden abgeliefert, aber nicht alle. Die Leute fürchteten, sie würden, wenn sie alle Waffen abgeben, massakriert werden wie im Jahre 1895. Waffen waren nach der Erklärung der Konstitution mit Erlaubnis der Regierung eingeführt worden und dienten nur zur Selbstverteidigung. Die Folter wurde mehr und mehr angewendet, und unter ihrem Einfluß entstanden die angeblichen Tatsachen, die dann kolportiert wurden. Die körperlichen Leiden und die Nervenanspannung preßten den Betroffenen Aussagen ab, die sich nicht auf Tatsachen gründeten. Diejenigen, die die Torturen ausübten, pflegten den Opfern vorzusprechen, welche Bekenntnis sie von ihnen erwarteten, und schlugen sie so lange, bis sie das Gewünschte bekannten. Der Mechaniker des amerikanischen Kollege hatte eine eiserne Kugel für Turnspiele angefertigt. Er wurde entsetzlich geschlagen, in der Absicht, durch seine Aussage dem Kollege das Anfertigen von Bomben anzuhängen. Auf einem armenischen Friedhof wurden einige Bomben entdeckt, was die Wut der Türken auf das Äußerste reizte. Es hätte aber gesagt werden sollen, daß diese Bomben in der Zeit Abdul Hamids dort vergraben worden sind.

Am Sonnabend den 26. Juni gegen 1 Uhr mittags gingen Gendarmen durch die Stadt und trieben alle armenischen Männer zusammen, die sie finden konnten, Alte und Junge, Arme und Reiche, Kranke und Gesunde. In einigen Fällen brach man in die Häuser ein und riß kranke Männer aus den Betten. In den Kasernen wurden sie eingesperrt und während der nächsten Tage in Gruppen von 30 bis 150 verschickt. Sie mußten zu Fuß gehen. Viele wurden ihrer Schuhe und anderer Kleidungsstücke beraubt. Einige waren gefesselt. Die erste Gruppe erreichte Amasia und sandte aus verschiedenen Orten Nachricht. (Man sagt, es sei dies eine Maßnahme der Regierung gewesen, um die Nachfolgenden zu täuschen.) Von keinem der nach ihnen Ausziehenden hat man wieder etwas gehört. Von verschiedenen Berichten, die im Umlauf waren, lautete der einzige, der allgemein als wahr angenommen wurde, sie seien getötet worden. Ein griechischer Treiber berichtete, er habe den Hügel gesehen, unter dem sie begraben wurden. Ein anderer Mann, der zur Regierung in Beziehung stand, gab auf eine direkte Frage zu, daß die Männer getötet worden seien.

Durch Verwendung eines Türken gelang es dem Kollege, diejenigen unter den Lehrern, die schon weggeholt worden waren, wieder frei zu bekommen und für alle seine Lehrer und Angestellten einen Aufschub des Vorgehens zu erlangen. Hierfür wurde der Betrag von 275 türkischen Pfund gezahlt (5000 Mark). Später erklärte derselbe Beamte, er glaube, eine dauernde Befreiung der ganzen Kollegeangestellten erwirken zu können durch Zahlung weiterer 300 Pfund. Das Geld wurde versprochen, aber nach einigen Verhandlungen, die bewiesen, daß eine endgültige Zusicherung nicht zustande kommen würde, ließ man die Sache fallen.

Der[WS 1] Leiter des amerikanischen Kollege hatte sich inzwischen mit dem amerikanischen Botschafter in Verbindung gesetzt. Dieser versuchte, bei dem Minister des Innern, Talaat Bey, zu erwirken, daß wenigstens die armenischen Lehrerfamilien des Kollege und gegen 100 Schülerinnen, die man im Kollege zurückbehalten hatte, um sie vor der Deportation und den damit verbundenen Schändlichkeiten zu bewahren, unter dem Schutze der türkischen Behörden in Mersiwan zurückbleiben könnten. Talaat Bey sicherte die Erfüllung dieser Bitte zu und erklärte dem Botschafter, er habe nach Mersiwan telegraphiert, daß alle, die unter dem Schutz der Amerikaner seien, verschont bleiben sollten. Trotzdem wurden zuletzt auch die armenischen Lehrerfamilien und die hundert zurückgebliebenen Schülerinnen der Amerikaner mit verschickt.

Nachdem schon einige Gruppen von Armeniern deportiert worden waren, gingen Ausrufer durch die Straßen der Stadt und verkündeten, daß alle männlichen Armenier zwischen 15 und 70 Jahren sich in den Kasernen zu melden hätten. Die Ankündigung besagte weiter, daß Gehorsamsverweigerung den Tod und das Niederbrennen der Häuser zur Folge haben würde. Die armenischen Priester gingen von Haus zu Haus und rieten den Leuten, der Anordnung zu folgen. Diejenigen, die sich meldeten, wurden in Gruppen verschickt, und der Erfolg war der, daß innerhalb weniger Tage tatsächlich alle armenischen Männer aus der Stadt entfernt waren.

Am 3. oder 4. Juli wurde ein Befehl ausgegeben, daß die Frauen und Kinder sich bereit halten sollten, am folgenden Mittwoch (den 7. Juli) aufzubrechen. Den Leuten wurde mitgeteilt, daß die Regierung jedem Haus einen Ochsenkarren zur Verfügung stellen würde, und daß sie Nahrung für einen Tag, einige Piaster (1 Piaster gleich 15 Pfg.) und ein kleines Bündel Kleider mitnehmen dürften. Die Leute bereiteten sich vor, diese Befehle auszuführen, indem sie alle nur möglichen Haushaltungsgegenstände auf den Straßen verkauften. Die Sachen wurden für weniger als 10 % des gewöhnlichen Wertes verkauft, und Türken aus den benachbarten Dörfern füllten, erpicht auf ein gutes Geschäft, die Straßen. An einigen Stellen nahmen die Türken gewaltsam Gegenstände an sich, aber die Regierung bestrafte solche Fälle, wenn sie entdeckt wurden.

Am 5. Juli, ehe der Befehl, die Frauen auszutreiben, ausgeführt war, ging einer der Missionare zur Regierung, um im Namen der Humanität gegen die Ausführung des Befehls Einspruch zu erheben. Es wurde ihm mitgeteilt, daß der Befehl nicht von den Ortsbehörden ausginge, sondern daß von oben Befehl gekommen sei, nicht einen einzigen Armenier in der Stadt zu lassen. Der Kommandant versprach indessen, das Kollege bis zuletzt lassen zu wollen, und erlaubte allen, die mit den amerikanischen Instituten in Verbindung standen, sich in den Bereich des Kolleges zu begeben. Das taten sie, und so wohnten 300 Armenier zusammen auf dem Grundstück des Kollege.

Die Bevölkerung sollte bereit sein, am Mittwoch aufzubrechen, aber am Dienstag gegen ½4 Uhr morgens erschienen die Ochsenkarren vor den Türen des ersten Bezirkes, und den Leuten wurde befohlen, sofort aufzubrechen. Einige wurden sogar ohne genügende Bekleidung aus den Betten geholt. Den ganzen Morgen zogen die Ochsenkarren knarrend zur Stadt hinaus, beladen mit Frauen und Kindern und ab und zu einem Mann, der der ersten Deportation entgangen war. Die Frauen und Mädchen trugen den türkischen Schleier, damit ihre Gesichter nicht dem Blick der Treiber und Gendarmen ausgesetzt waren, rohen Gesellen, die aus anderen Gegenden nach Mersiwan gebracht worden waren. In vielen Fällen sind Männer und Brüder dieser selben Frauen in der Armee und kämpfen für die türkische Regierung.

Die Panik in der Stadt war schrecklich. Die Leute fühlten, daß die Regierung entschlossen war, die armenische Rasse auszurotten, und sie hatten keinerlei Macht, sich zu widersetzen. Sie waren sicher, daß die Männer getötet und die Frauen entführt werden würden. Aus den Gefängnissen waren viele Sträflinge entlassen, und die Berge um Mersiwan waren voll von Banden von Verbrechern. Man fürchtete, die Kinder und Frauen würden in einige Entfernung von der Stadt gebracht und der Gnade dieser Banditen überlassen werden. Wie dem auch sei, jedenfalls gibt es erweisbare Fälle, daß anziehende junge armenische Mädchen von den türkischen Beamten von Mersiwan entführt worden sind. Ein Muhammedaner berichtete, daß ein Gendarm ihm angeboten habe, ihm zwei Mädchen für einen Medjidijeh (3,60 Mk.) zu verkaufen. Die Frauen glaubten, daß sie Schlimmerem als dem Tod entgegengingen, und viele trugen Gift in der Tasche, um es im Notfalle zu gebrauchen. Einige nahmen Hacken und Schaufeln mit, um die zu begraben, die, wie zu erwarten, auf dem Wege sterben würden.

Während dieser Schreckensherrschaft wurde bekannt gemacht, daß es leicht möglich sei, der Deportation zu entgehen, und daß jeder, der den Islam annehme, friedlich zu Hause bleiben dürfe. Die Bureaus der Beamten, die die Gesuche protokollierten, waren dicht gefüllt mit Leuten, die zum Islam übertreten wollten. Viele taten es ihrer Frauen und Kinder wegen, in der Empfindung, daß es nur eine Frage der Zeit sei, bis ihnen der Rücktritt ermöglicht werden würde.

Die Deportation dauerte mit Unterbrechungen etwa zwei Wochen. Schätzungsweise sind von 12 000 Armeniern in Mersiwan nur ein paar Hundert übrig geblieben. Auch solche, die sich erboten, den Islam anzunehmen, wurden dann doch fortgeschickt. Bis zum Augenblick, wo ich dieses schreibe, ist noch keine sichere Nachricht von irgend einem der Transporte gekommen. Ein griechischer Treiber berichtete, daß in einem kleinen Dorf, einige Stunden von Mersiwan, die wenigen Männer von den Frauen getrennt, geschlagen, angekettet und als ein besonderer Transport weiter geschickt wurden. Ein türkischer Treiber erzählt, er habe die Karawane unterwegs gesehen. Die Leute waren so mit Staub und Schmutz bedeckt, daß man die Gesichtszüge kaum erkennen konnte.

Selbst wenn das Leben dieser Vertriebenen geschützt werden sollte, fragt man sich, wieviel wohl fähig sein werden, die Beschwerden einer solchen Reise zu ertragen, einer Reise über die heißen Hügel, voll Staub, ohne Schutz gegen die Sonne, mit kärglicher Nahrung und wenig Wasser, in der beständigen Furcht vor dem Tode oder einem schlimmeren Schicksal.

Die meisten Armenier im Distrikt von Mersiwan waren vollkommen hoffnungslos; manche sagten, es sei schlimmer als ein Massaker; niemand wußte, was kommen würde, aber alle spürten, daß es das Ende sei. Selbst die Priester und Führer konnten kein Wort der Ermutigung und Hoffnung finden. Viele zweifelten an der Existenz Gottes. Unter der scharfen Nervenanspannung verloren viele den Verstand, einige für immer. Es gab auch Beispiele von größtem Heroismus und Glauben, und einige traten ruhig und mutig die Reise an mit den Abschiedsworten: „Betet für uns; in dieser Welt sehen wir uns nicht wieder, aber einmal werden wir uns wiedersehen.“

Soweit der Bericht des amerikanischen Missionars.

Von Familien, die zum Islam konvertiert in Mersiwan zurückbleiben durften, werden genannt die Familien Danieljan, Kambesian, Keschischian, Vardaserian, Salian, Wahan Bogossian, Kelkelian, Jeremian, Mikaëlian, Hadjik Gendschian. Die letztere heißt jetzt Kendji-Zade-Kemal.

In Amasia sind nach der Deportation das armenische Viertel, der Bazar, die armenische und die griechische Kirche von den Tücken angezündet worden.

Aus Gemerek (zwischen Kaisarieh und Siwas) wurden alle Armenier deportiert, aber sie erreichten Siwas nicht. Die Männer und Knaben wurden getötet, Frauen und Kinder wurden an türkische Offiziere und Beamte verteilt.

Eine Episode der Deportation von Gemerek, die von den deutschen Rote-Kreuz-Schwestern berichtet wurde, verdient noch Erwähnung:

„Als die Männer alle fort waren, bekamen die älteren Frauen die Erlaubnis, zu gehen, wohin sie wollten, aber 30 der hübschesten jungen Frauen und Mädchen wurden zusammengeholt, und man sagte ihnen: „Entweder ihr werdet Moslem oder ihr sterbt!“ – „Dann sterben wir“, lautete die kühne Antwort. Daraufhin wurde an den Wali in Siwas telegraphiert, der die Weisung gab, diese tapferen jungen Bekennerinnen, deren viele in amerikanischen Schulen erzogen worden sind, an Moslems zu verteilen.“

Der Bericht der deutschen Schwestern schließt hierauf mit den Worten: „Von der russischen Grenze bis westlich von Siwas ist das Land jetzt ziemlich vollständig von Armeniern gesäubert. Es ist nur ein trauriger Trost, daß die Türkei durch das Hinmorden ihrer besten Leute sich selbst ruiniert hat. Die Türken selbst freuen sich auf den Tag, wo eine fremde Macht die Zügel in die Hand nehmen und Gerechtigkeit schaffen wird. Die vollbrachten Untaten wurden keineswegs allgemein vom türkischen Volke als solchem gebilligt, wohl aber von den sogenannten gebildeten Türken.“

Der einzige Ort, in dem es im Wilajet Siwas zu einem Widerstand der armenischen Bevölkerung kam, war Schabin-Karahissar. Schabin-Karahissar liegt nördlich von der Straße Erzingjan-Siwas, in den Abhängen der pontischen Gebirgskette, die das Wilajet Trapezunt von den Wilajets Erzerum und Siwas scheidet. Die Bewohner von Schabin-Karahissar galten als tapfer. Alle Dörfer in der Umgegend von Schabin-Karahissar waren Mitte April entwaffnet worden. Das Dorf Purk, südwestlich von Karahissar war bereits zerstört und die Bevölkerung massakriert worden. In der ersten Hälfte des Juni fing die Regierung auch in Schabin-Karahissar mit Verhaftungen an. Die Nachrichten von den Schlächtereien im Kemach-Tal und dem Schicksal der Deponierten, die durch Erzingjan getrieben wurden, waren nach Schabin-Karahissar gedrungen. Als nun die Regierung die verhafteten Daschnakzagan hängen wollte und die Deportation verfügt war, machte die armenische Bevölkerung von Schabin-Karahissar eine Demonstration, um gegen das ihr drohende Schicksal zu protestieren. Darauf wurde die Stadt von türkischem Militär aus Erzingjan zerniert. Einige Hundert Armenier flüchteten sich auf den steilen Burgfelsen, auf dem sich ein altes Schloß aus der byzantinischen Zeit befindet und verbarrikadierten sich dort, bis am 3. Juli das Schloß von türkischen Kanonen zusammengeschossen wurde. Die Verteidiger wurden getötet. Einige flüchteten sich in die Berge. Darauf wurden alle Männer der Stadt im Alter von 18 bis 55 Jahren unter dem Vorgeben, sie zum Militär auszuheben abgeführt, und die übrige Bevölkerung von Frauen und Kindern in derselben Weise wie im ganzen Wilajet deportiert. Auch in der Umgegend wurden von türkischem Militär alle christlichen Dörfer, darunter auch 10 griechische, eingeäschert und die Bevölkerung teils massakriert, teils deportiert.


Zileh.


Aus Zileh (südlich von Amasia) wird folgender Vorfall berichtet:

Ein armenischer Soldat, der verwundet war und von der Front in seine Heimat Zileh zurückkehrte, erzählte, daß er Zeuge gewesen sei, wie man den Bischof von Siwas, ehe man ihn in die Verbannung schickte, wie ein Pferd mit Hufeisen beschlug. Der Wali hatte diese Tortur scherzhaft damit begründet, daß man einen Bischof unmöglich barfuß gehen lassen könne.[1]

Als der armenische Soldat in seine Heimat nach Zileh kam. waren die Behörden damit beschäftigt, die Armenier der Stadt zu deportieren. Die Männer wurden in Gruppen zusammengebunden in die Berge vor die Stadt geführt und dort getötet, die Frauen und Kinder ließ man auf freiem Felde mehrere Tage ohne Nahrung lagern, bis man glaubte, daß sie mürbe geworden wären, um den Islam anzunehmen. Da sie alle sich weigerten, erstach man die Mütter vor den Augen ihrer Kinder mit dem Bajonett. Darauf wurden die Kinder verkauft. (Die Stadt hatte etwa 5000 armenische Einwohner.) Dem Soldaten und seinem Bruder gelang es, indem sie sich als Muhammedaner einschreiben ließen, wieder zur Armee geschickt zu werden.


Stadt Siwas.


In Siwas wurden nach der Verhaftung aller einflußreichen Armenier 8 oder 10 gehängt. Sodann wurden die Verhafteten nach Josgad transportiert. Die allgemeine Deportation ging schubweise vor sich. Als der amerikanische Missionar Partridge Siwas verließ, waren bereits zwei Drittel der Bevölkerung deportiert und 500 Häuser von den Behörden versiegelt. Jede Familie erhielt einen Ochsenkärren.

Die armenischen Ärzte, die seit Anfang des Krieges im Militärlazarett sieben Monate lang Typhuskranke gepflegt hatten, wurden ins Gefängnis geworfen. Ein besonderer Fall wird noch von amerikanischer Seite erzählt: Eine den Missionaren bekannte Armenierin, deren Mann viele Monate lang im amerikanischen Hospital als Pfleger verwundeter Soldaten gedient hatte, bekam Typhus und wurde in das Hospital gebracht. Ihre alte Mutter, die zwischen 60 und 70 Jahre alt war, stand vom Krankenbett auf, um für die 7 Kinder der typhuskranken Frau zu sorgen, von denen das älteste etwa 12 Jahre alt war. Einige Tage vor der Deportation wurde der Mann der Kranken gefangen gesetzt und, ohne daß er sich etwas hätte zu schulden kommen lassen, in die Verbannung verschickt. Als das Stadtviertel, in dem sie wohnten, fortziehen mußte, verließ die typhuskranke Frau das Hospital, und ließ sich auf einen Ochsenkarren setzen, um mit ihren Kindern abzuziehen.

Als die beiden deutschen Rote-Kreuz-Schwestern am 28. Juni nach Siwas kamen, war die ganze armenische Bevölkerung bereits weggeführt, und sie hörten, daß alle getötet worden seien.


4. Nachträge.


1) Die letzte Phase der Verfolgungsgeschichte spielte sich im Kaukasus ab, als nach dem Frieden von Brest-Litowsk die russische Armee sich zurückzog und den Kaukasus der Invasion der türkischen Truppen preisgab. Über die Vorgänge im Kaukasus vgl. „Deutschland und Armenien 1914–1918“. Sammlung diplomatischer Aktenstücke, hersg. und eingel. von Dr. Johannes Lepsius. Der Tempelverlag in Potsdam 1919. Einl. S. XLV und die Aktenstücke d. Js. 1918, S. 365 ff.

2) Über Nazareth Tschauch und die Entstehung der Unruhen in Zeitun vgl. Lepsius, Dtschl. und Arm. S. IX ff. und die Berichte von Konsul Roeßler, Aleppo, Aktenstücke Nr. 11 und 25.

3) Die Gesamtzahl der Deserteure, die, aus Christen und Muhammedanern bestehend, schon vor dem Kriege seit 1913 sich in die Berge geflüchtet hatten, betrug zu der Zeit nach Mitteilung von Herrn Konsul Roeßler etwa 150. Der Verlust der Toten und Verwundeten bei dem Angriff auf das Kloster wird von ihm auf „eine Anzahl Toter und Verwundeter“ angegeben.

4) Die Zahl von 20 000 Seelen umfaßt auch die Dörfer in der Umgegend von Zeitun.

5) Über die Vorgänge in Dörtjol sind nähere Berichte in dem deutschen Konsularbericht aus Adana vom 13. März 1915 gegeben. Lepsius, Dtschl. und Arm. Nr. 19.

6) Über die Vorgänge in Urfa siehe die Berichte des deutschen Konsuls Herrn Roeßler von Aleppo, Lepsius, Dtschl. und. Arm. Nr. 193, 202 und 226 Anl. 1. Am 19. und 20. August fanden Massakers statt, bei denen etwa 200 Armenier getötet wurden. Am 29. September setzten sich die Armenier, um der drohenden Deportation zu entgehen, in Verteidigungszustand in ihrem Stadtviertel. Vom 4. bis zum 15. Oktober währte die Belagerung des Viertels durch türkische Truppen, wobei diese 50 Tote und 120 bis 130 Verwundete hatten. Die männliche armenische Bevölkerung der Stadt wurde, nachdem der Widerstand gebrochen war, zum größten Teil getötet, die Frauen und Kinder deportiert. Die Stadt zählte vor der Deportation etwa 20 000 Armenier.

7) Dazu schrieb Prediger J. Spörri, Leiter der Station Wan des deutschen Hilfsbundes für Christliches Liebeswerk im Orient, am 7. 10. 1916 aus Zürich an den Verfassen

„Als am 20. 4. 15 die Feindseligkeiten vor meinen Augen ausgebrochen waren und in schauerlicher Weise auf uns geschossen wurde, war ich gedrungen, an den Wali zu schreiben. Ich erzählte den Anfang der Feindseligkeiten, teilte mit, daß wir dem Kugelregen ausgesetzt seien, ersuchte, da ich annehmen mußte, daß solches unmöglich nach dem Wollen des Walis sein könne, um weitere Vermeidung solcher Handlungen und bat, die Streitigkeiten friedlich zu ordnen. Mit meinem Schreiben ging ich zu Dr. Usher (es war das ein gefährlicher Weg, da unaufhörlich geschossen wurde), las ihm den Inhalt vor und veranlaßte ihn, von seiner Seite ein Gleiches zu tun. Der Brief vom 23. 4. von Djevdet Bey war die Antwort auf unser Schreiben. Übrigens hatte ich die Verteidiger gebeten, sie möchten sich von der Front unserer Station zurückziehen, da sie das Feuer auf uns zögen. Ich hatte die Genugtuung, daß mein Wunsch erfüllt wurde. Freilich war auch so von einem Aufhören des Feuers gegen uns nicht die Rede.“

8) Auch der Wali Rachmi Bei wurde schließlich, wenn auch erst ein Jahr nach der allgemeinen Deportation, durch den Befehl der Regierung von Konstantinopel gezwungen, den Befehl zur Deportation zu geben. Lediglich dem Einschreiten des Oberbefehlshabers General Liman von Sanders, der mit militärischem Widerstand drohte, ist es zu danken, daß die Deportation der Armenier von Smyrna nicht zur Ausführung kam. Vgl. Lepsius, Dtschl. und Arm. S. LIX und die Aktenstücke Nr. 306, 307, 308.


9) Vgl. den fesselnden Bericht über die Flucht der Armenier von Suedije von Pastor Digran Andreasjan, der im Anhang von Lepsius, Dtschl. und Arm. abgedruckt, auch im Tempelverlag in Potsdam separat erschienen ist, „Suedije, eine Episode aus den Armenierverfolgungen des Jahres 1915.“ M. 0,50.

10) Durch Gesetz vom 1. August 1916 wurde ein Jahr darauf die alte Kirchenverfassung der gregorianischen Kirche zerstört und das Patriarchat von Konstantinopel in das Kloster Mar Jakub in Jerusalem verlegt. Erst nach dem Sturz der jungtürkischen Regierung und dem Zusammenbruch der Türkei wurde das Gesetz wieder aufgehoben.

11) Nach dem Zusammenbruch der Türkei ist das ursprüngliche Programm der Daschnagzagan natürlich gegenstandslos geworden. Auf den Glücksfall, daß die beiden Feinde der Armenier, die Türkei und Russland, gleichzeitig zusammenbrechen würden, so daß für ein völlig unabhängiges Groß-Armenien Raum wurde, konnte kein politisches Programm im voraus rechnen.

12) Wartkes wurde zusammen mit Sohrab auf dem Wege von Urfa nach Diarbekir durch die begleitenden Gendarmen auf Befehl der Regierung ermordet. Lepsius, Dtschl. und Arm. S. 109.

13) Die Polizei in Konstantinopel hat nachträglich zwei Bilderbücher mit Haufen von Gewehren, Bomben, Fahnen und dergl. veröffentlicht, die nur Unkundige über den Wert solcher Machwerke täuschen können. Eine Charakteristik dieser Publikation hat die Deutsch-Armenische Gesellschaft veröffentlicht.

14) Vgl. den Bericht des deutschen Botschafters Freiherrn von Wangenheim in Lepsius, Dtschl. und Arm. Nr. 38. „Die Behauptung, es lägen Beweise vor, daß für den Tag des Thronbesteigungsfestes ein Putsch beabsichtigt gewesen sei, erklärte Talaat Bey für unzutreffend.“ Die Pforte selbst erklärte offiziell die Verschickung der Konstantinopler Intellektuellen nur für eine Vorbeugungsmaßregel.

15) Die letzte türkische Lesung lautete, daß alle 180 000 Muselmanen von den Armeniern massakriert worden seien. Vgl. Lepsius, Dtschl. und Arm. S. LXXIII f.

16) Vgl. dazu die Berichte des deutschen Konsuls Herrn Anders in Lepsius, Dtschl. und Arm. Nr. 5, 6 und 10.

17) Das später erschienene Communiqué der türkischen Regierung über die Vorgänge in Urfa wird von dem deutschen Konsul Herrn Roeßler in Aleppo in seinem Bericht vom 16. November 1915 einer Kritik unterzogen. Lepsius, Dtschl. und Arm. Nr. 202.

18) Vgl. Lepsius, Dtschl. und Arm. Einl Kap. V, 5: Die offizielle Motivierung. S. LXVI ff.

19) Vgl. die Urteile der deutschen Botschafter und Konsuln ebenda S. LXXVI ff.

20) Vgl. das Urteil des deutschen Botschafters Graf Wolff-Metternich in Lepsius, Dtschl. und. Arm. Nr. 287.

21) Vgl. die Urteile deutscher Konsuln in Lepsius, Dtschl. und Arm. S. LXXVI ff.

22) Wäre die Türkei siegreich aus dem Krieg hervorgegangen, so wäre allerdings nicht daran zu denken gewesen, daß der Raub des gesamten Nationalgutes des armenischen Volkes wieder rückgängig gemacht worden wäre. Auch jetzt wird es schwer sein, auch nur einen beträchtlichen Teil der beweglichen Habe den Dieben und Räubern, die daß Gut schon längst verschleudert haben werden, zu entreißen.

23) Vgl. den Bericht über die Verhandlungen im türkischen Senat vom Oktober und November 1915 in Lepsius, Dtschl. und Arm. Nr. 223.

24) Vgl. zu diesem Kapitel den Abschnitt: Zwangsbekehrungen zum Islam, in der Einleitung von Lepsius, Dtschl. und Arm. und ebenda die Konsularberichte laut Sachregister unter Zwangsbekehrungen.

25) Vgl. den Bericht des deutschen Vizekonsuls Herrn Kuckhoff vom 4. Juli 1915 aus Samsun, Lepsius, Dtschl. und Arm. Nr. 116 Anlage.

26) Nur unter den syrischen Nestorianern gab es eine kleine hochkirchliche Mission, die am Sitz des nestorianischen Patriarchen in Kodschannes bei Djulamerg im oberen Zabtal und in Urmia auf persischem Gebiet eine Vertretung hatte und eine Art Nuntiatur des Erzbischofs von Canterbury bei dem nestorianischen Patriarchat bildete. Diese hochkirchlichen Herren haben niemals mit Armenien oder der armenischen Frage zu tun gehabt und sich ausschließlich auf die syrischen Nestorianer beschränkt.

27) Dies war Anfang 1916 geschrieben. Nach der Vernichtung ihres Volkstums in der Türkei würden es jetzt natürlich alle noch Überlebenden Armenier ablehnen, unter türkische Herrschaft zurückzukehren.

28) Vielleicht wird Herr Bratter nach der Veröffentlichung der diplomatischen Aktenstücke über den Vernichtungskampf der Türken gegen die christlichen Armenier durch die Urteile der deutschen Botschafter und Konsuln jetzt eines Besseren belehrt werden.

29) Den genannten Städten ist noch Aleppo hinzuzufügen, wo dank der rastlosen Bemühungen des deutschen Konsuls wenigstens die ortsansässige Bevölkerung von der Deportation verschont blieb. Die Armenier von Bagdad waren zunächst nach Mossul deportiert worden und sollten von dort weitergeschafft werden. Der Einspruch des Feldmarschalls Freiherrn von der Goltz, der den Weitertransport untersagte, wurde von der Regierung in Konstantinopel erst respektiert, als der Feldmarschall wegen dieser Sache telegraphisch um seine sofortige Abberufung bat. S. Lepsius, Dtschl. und Arm. Einl. S. LIX und Aktenstück Nr. 224.


30) Über den Gesamtverlust an Ermordeten und Verhungerten, der auf eine Million geschätzt wird, vgl. Lepsius Dtschl. und Arm. Einleitung V, 4, S. LXIII, das Kapitel: Opfer.




Anmerkungen

  1. Diese Geschichte ist von türkischer Seite umgekehrt erzählt worden, als sei die Tortur von Armeniern einem türkischen Kaimakam zugefügt worden. Der zynische Witz des Wali bürgt dafür, daß die obige Lesart die richtige ist.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Die