Der Wundervogel (August Ey)
Ein Nachtschichter, der im Spiegelthaler Pochwerk
arbeitet und eben untergeschürt hat, setzt sich an
einem schönen Sommerabend vor das Pochwerk auf
die Bank und verzehrt sein Abendbrot. Die Tannen
riechen so angenehm, und die Vögel singen so schön,
daß es eine wahre Lust ist, da so allein zu sein.
Als der Nachtschichter so recht vergnügt über das
alles ist und sich über die Welt freut, die der liebe
Gott so schön gemacht hat, kommt ein Vogel geflogen
und legt sich dem Nachtschichter gegenüber auf einen
Tannenzweig; dann hüpft er näher zu dem Nachtschichter.
Es ist, als wolle er sich ordentlich sehen
lassen. Als aber dieser aufsteht und dem Vogel näher
kommt, da fliegt das Thierchen fort und ist in den
Tannen verschwunden. Am andern Abend nimmt
der Nachtschichter etliche Leimruthen mit an die Arbeit,
bindet dann eine starke an eine lange Stange und
denkt damit den Vogel zu ergattern, wenn er wieder
käme. Anfänglich läßt der Wundervogel lange auf
sich warten, am Ende erscheint er; als aber der Nachtschichter
ihm mit der Leimruthe nahe kommt, zieht
er sich zurück und verschwindet wieder im Tannenwald.
So geht’s drei Tage. Am dritten Abend
Lockt der Vogel den Nachtschichter den Berg hinauf
und da läßt er sich fangen. Kaum hat ihn aber der
Nachtschichter in der Hand, so verwandelt sich der
Vogel in eine wundersam schöne Jungfrau, die sieht
ihn so freundlich, so herzinnig an und spricht: Ich
sehe aus der Mühe, die Du dir meinetwegen gegeben
hast, daß Du mich gern haben willst, küsse mich, so
bin ich erlöst, und Du wirst glücklich. Dieser aber
ist blöde und schüchtern, wagt die schöne vornehme
Dame, die in grünem seidenen Kleide vor ihm steht,
nicht anzurühren, noch viel weniger zu küssen und
zieht sich scheu und langsam zurück. Sie seufzt und
bittet und sieht ihn so flehentlich an; er ist aber so
dumm und erfüllt ihren Wunsch nicht. Da geht sie
weinend fort und verschwindet mit einem
Seufzer im Walde. Kaum ist sie verschwunden, so
fängt ihn sein Betragen an zu reuen, er wendet um,
sucht sie, sie ist aber nirgends zu finden. Aus Gram,
daß er das hübsche Mädchen nicht erlöst hat, wird
der Nachtschichter krank und in neun Tagen ist er
todt. In seiner Krankheit hat er die Geschichte erzählt.
Bei der Beerdigung folgten viele junge Mädchen
der Leiche, und als der Sarg hinabgelassen wird,
kommt ein wunderschöner Vogel aus der Luft herab
und fällt mit einem herzzerreißenden Pfiff in das
Grab hinein. Alle Folger haben’s gehört und gesehen.
Das ist wahrscheinlich das unglückliche Mädchen
gewesen und dadurch wird sie auch erlöst sein.
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- ↑ Original: „Harzmärchen“ von Fr. Ey