Der goldgelbe Hausfreund als Sprecher

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Textdaten
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Autor: Dr. Karl Ruß
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Titel: Der goldgelbe Hausfreund als Sprecher
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 26, S. 428
Herausgeber: Ernst Ziel
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1883
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[428] Der goldgelbe Hausfreund als Sprecher. Es ist erstaunlich, in welcher regsamen Weise die Liebhaberei für den Kanarienvogel im Allgemeinen und für den vorzüglichsten Harzer Sänger im Besondern sich in der Gegenwart entwickelt hat. Die „Gartenlaube“ brachte im Laufe der Zeit ja bereits mehrfach bezügliche Schilderungen, und man darf wohl annehmen, daß die außerordentlich große Zahl der Liebhaber des köstlichen Canariengesanges über den Vogel ausreichend unterrichtet sei. Wer außerdem, mit Rücksicht darauf, daß man nur dann die rechte, volle Freude an einem Vogel wie an jedem lebenden Thiere überhaupt haben kann, wenn man sein ganzes Wesen, alle Eigenthümlichkeiten und namentlich seine Bedürfnisse genau kennt und die letzteren zu befriedigen weiß, sachgemäße Belehrung sucht, kann in einer in den letzten Jahren staunenswerth reichlich emporgeschossenen Literatur sicherlich volles Genüge finden; es giebt Bücher, welche den Canarienvogel schildern, zum Preise von 25 Pfennig bis 2 Mark und sogar Mark 3,50.

Diese Literatur bestrebt sich, neben der praktischen Anleitung zur Pflege, Zucht und Gesangsausbildung, auch die Vorzüge des Canarienvogels immer mehr zur Geltung zu bringen, und man darf ohne Uebertreibung sagen, daß das Studium des Canariengesanges gewissermaßen einen kleinen Wissenschaftskreis bilde.

Neuerdings ist nun aber eine ganz absonderliche Eigenthümlichkcit des Vogels hinzugekommen, welche ihn noch interessanter erscheinen läßt.

In der Londoner Zeitung „The Times“ war im vorigen Jahre kurz angegeben, daß ein Schäfer dort einen sprechenden Canarienvogel besitze, und der Redacteur hatte hinzugefügt, es sei zweifellos der erste Fall, in welchem man auch bei dieser Vogelart Sprechbegabung festgestellt habe. Die letztere Behauptung war indessen keineswegs richtig, denn schon vor vielen Jahren hatte ein Pastor in Braunschweig von einem solchen so bevorzugten Vogel erzählt, später war über einen zweiten in Berlin im „Journal für Ornithologie“ und in meiner Zeitschrift „Die gefiederte Welt“ berichtet, und über einen dritten hatte die Frankfurter „Didaskalia“ Nachricht gegeben. Immerhin aber ist das Vorkommniß offenbar ein so hochinteressantes, daß es sich wohl der Mühe verlohnt, über einen solchen Vogel zu berichten, und umsomehr war ich erfreut, als sich mir kürzlich die Gelegenheit bot, einen sprechenden Canarienvogel in Berlin selber zu hören und zu sehen.

Herr Geheimrath Gräber, Prinzenstraße 99, gab bereitwillig die freundliche Erlaubniß zum Besuch, als ich aber erschien, empfing mich die Frau Geheimräthin mit dem Bedauern, daß ich wohl vergeblich gekommen sein werde, denn der Vogel scheine heute nicht sprechen zu wollen.

Vor drei Jahren, erzählte sie, sei sie in den Besitz des Vögelchens gelangt, welches damals noch ganz jung gewesen sei, sich aber recht kräftig und zum fleißigen Sänger entwickelt habe. Dann, wahrscheinlich in Folge des naturgemäßen Federwechsels, habe er aufgehört zu singen und lange Zeit geschwiegen und währenddessen habe sie oft zu ihm geplaudert:

„Singe doch, mein Mätzchen, wie singst du? Widewidewitt!“

Während die Dame mir diese Auskunft gab und sich mit den letzterwähnten Worten dem Vogel selbst zuwandte, fing er an eifrig zu schmettern und mitten im Gesange erklang es:

„Widewidewitt, wie singst du, mein Mätzchen?
Singe doch, mein Mätzchen, widewidewitt!“

Immer und immer wiederholte er diese Worte, und klarer und deutlicher konnte ich sie verstehen, bis die Pflegerin zuletzt lachend meinte, es schiene, als ob er sich vor mir so recht hören lassen wolle, denn so viel und eifrig habe er seine Kunst seit langer Zeit nicht geübt.

Der Canarienvogel spricht übrigens in ganz anderer Weise als der Wellensittich, welchen wir auf der Ausstellung des Vereins „Ornis“ in Berlin im Jahre 1880 vor uns gehabt und der, wenn auch leiernd, doch articulirt mit entschieden menschlichem Ton die Worte hervorbrachte. Der erstere dagegen webt vielmehr seine menschlichen Laute mitten in den Vogelschlag hinein, vor- und nachher immer eifrig weiter singend, sodaß sie ganz harmlos, gleichfalls wie gesungen, ertönen.

Während der Vogel vor mir so unermüdlich seinen Canariengesang schmetterte und die menschlichen Worte hineinwebte, fand ich auch bald eine Erklärung dafür, daß er nur dann singen solle, wenn seine Herrin zu ihm rede, und daß er von ihr das Nachsprechen überhaupt erlernt hat: ihr ungemein klangvolles, melodisches und gesanggeübtes Organ ist es eben, was derartig auf ihn einwirkt und ihn zur Nachahmung anregt.

Wer Abrichtungsversuche mit den beiden kleinsten und sicherlich nicht am wenigsten interessanten gefiederten Sprechern anstellen will, findet Anleitung dazu in meinen beiden Büchern: „Der Canarienvogel“ (vierte Auflage) und „Der Wellensittich“. Vor allem aber ist darauf zu achten, daß nicht der Schüler allein, sondern auch der Lehrer von vornherein besonders begabt sei. In allen bisher festgestellten Fällen ist es kein feiner, zarter Harzer, sondern ein derber, kräftiger Canarienvogel von gewöhnlicher deutscher Rasse gewesen, welcher sprechen gelernt hat – der Abrichter oder besser die Lehrmeisterin muß aber vor allem jenen melodischen Klang der Sprache und dann ein Erforderniß haben, ohne welches man bei allem solchem Thierunterricht niemals ein gutes Ergebniß erreichen kann, nämlich volle Hingabe an die Sache, in welcher unendliche Ausdauer und Geduld begründet liegen. Dr. Karl Ruß.