Der polnische Schreiber
Vor dem Redactionslocale der Gazeta warszawska in Warschau trafen eines Vormittags zu gleicher Zeit drei Knaben zusammen, Jeder ein Zeitungsblatt in der Hand haltend, in welchem mit gesperrter Schrift zu lesen stand, es werde von der Redaction ein junger Mensch gesucht, der fertig und schön Polnisch, womöglich auch deutsch zu schreiben verstehe; der Posten trage fünf Thaler monatlich; Bewerber möchten sich persönlich beim Chefredacteur Krupski zu einer bestimmten Stunde melden.
Diese Stunde war eben jetzt, und die Drei gaben sich denn auch ohne Weiteres als Reflectenten auf die fragliche Stelle zu erkennen. An die erste Begrüßung, die von Seiten des Herrn Krupski sehr kurz war, schloß sich ein nicht viel längeres Examen, denn die beiden Aelteren wurden schon bei der ersten Frage zu leicht befunden. „Verstehst Du Deutsch?“ – an dieser Klippe scheiterte die Blüthe der polnischen Nation. Der Jüngste blieb allein übrig; – „na, verstehst denn Du deutsch?“ war auch hier die Einleitung, „Ja,“ die entschiedene Antwort. Dabei wurde aber der hoffnungsvolle Bewerber über und über roth, denn er sagte sich sehr wohl, daß zwischen Deutsch und Deutsch einiger Unterschied bestehe, und das seinige war durchaus nicht ohne Beigeschmack. Indessen
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– seine Eltern waren so unglücklich, durch die Revolution waren sie um Alles gekommen, er hatte so viele kleine Geschwister – und wollte gern etwas verdienen.
„Wie heißt Du?“ frug ihn Krupski, der den Knaben aufmerksam betrachtete und aus dem, wenn auch nicht schönen, so doch intelligenten Gesichte Arbeitslust und Fähigkeit herauslesen mußte.
„Dawison – Bogumil Dawison,“ war die Antwort.
„Was hast Du bisher gemacht?“ frug der Redacteur weiter.
„Ich war beim Herrn Sequestrator S., aber ich verdiene da gar zu wenig. Außerdem habe ich Schilder gemalt.“
„Schilder – ? was für Schilder?“
„Für die Collecteure, worauf sie die gezogenen Nummern anzeigen,“ erwiderte der Gefragte und setzte hinzu, daß es jetzt darin gar nichts für ihn zu thun gäbe.
„Na, so setz’ Dich her und schreibe, was ich Dir dictire.“ Die Probe fiel günstig aus, die Handschrift war überraschend schön und leicht. Das Engagement wurde abgeschlossen, und überglücklich trat der Knabe des andern Tages seine, wie ihm schien, bedeutungsvolle Stellung an. Er bekam Zeitungsartikel auszuschreiben, Correcturbogen auszutragen und alle jene kleinen Dienste zu thun, welche sich auf den jüngsten Geschäftsangehörigen zu häufen pflegen. Bis spät in der Nacht mußte er zur Hand sein, um das am andern Morgen auszugebende Blatt noch einmal durchzusehen. Krupski ließ ihm denn deswegen auch ein eigenes Logis einrichten. Dasselbe bestand freilich [6] aus nichts weiter, als einem durch einen Breterverschlag dem großen Druckersaale abgewonnenen sehr engen Raume, indessen machte es den jungen Arbeiter glücklich. Das Gefühl einer gewissen Selbstständigkeit kam über ihn; er hatte einen Ort, wo er sich seinen eigenen Arbeiten überlassen konnte, und das spärlich ausgestattete Behältniß, Wohn-, Schlaf- und Studirzimmer in Einem, wurde die Wiege seiner Bildung.
Vor Allem mußte die Kenntniß des Deutschen und Französischen vervollkommnet werden. Als er die Erlaubniß bekam, einzelne kleine Nachrichten aus der Vossischen Zeitung für die Gazeta warszawska in’s Polnische zu übersetzen, fühlte er sich um ein Stück gewachsen. Es ging ihm plötzlich auf, daß es ja nicht unmöglich sei, ein wirklicher Uebersetzer zu werden, und das wurden seine kühnen Träume! Sein Ehrgeiz war angestachelt. Jeder Mensch, welcher gut Deutsch sprach, war für den jungen Polen ein Gegenstand der Bewunderung und des stillen Neides.
Hauptsächlich aber war es das Theater, das seine junge, für alles Echte und Schöne empfängliche Seele mit Entzücken und Begeisterung erfüllte. Ein namenloser Zauber schien ihm um Alles gewoben, was mit der Bühne zusammenhing; der geringste Coulissenschieber war ihm ein beneidenswerthes Geschöpf! Wie oft stand er, fast erstarrt von der eisigen Winterkälte, gepeitscht von Regen und Schnee, in der dunkeln Ecke am Eingangspförtchen, welches zu den Garderoben der Schauspieler führte, um einen flüchtigen Blick jener Glücklichen zu erhaschen!
Mit der Zeit jedoch genügte das Anbeten aus der Ferne seinem regen Geiste nicht mehr; er wollte in eine engere Verbindung mit den Männern treten, denen er sich in dunkler Vorahnung so nah, so verwandt fühlte. Zu diesem Behufe näherte er sich einem alten, freundlichen Manne, dem in der Zeitungsofficin die Besorgung der Theaterzettel oblag. Zaghaft brachte er seine Bitte vor, ihn in die Geheimnisse des Setzens einzuweihen. Bald war er der Handgriffe so mächtig, daß sein Gönner, der Gewissenhaftigkeit und Geschicklichkeit des Schülers vertrauend, ihm die Zettel zu setzen überließ und dafür das weiche Lager suchte. Niemand war glücklicher als Dawison, bis tief in die Nacht stand er am Setzkasten, vor sich das Manuscript des Theaterzettels mit den Namen der Auserwählten und Beneideten, – er war ja nun mit thätig an dem großen Werke der Kunst, wie er in seiner Unschuld sich vorredete. Da schlugen jene Keime in seinem Busen zum ersten Male Wurzel, die wir jetzt als vollendete, prächtige Pflanze bewundern, und es rief wohl schon damals eine leise Stimme in seiner Seele: „Anch’ io sono pittore!“
Bald sollte er dem ersehnten Ziele einen Schritt näher kommen. Durch den Unterricht des pensionirten Tänzers Terracini wurde Dawison mit einigen untergeordneteren Mitgliedern des Warschauer Theaters bekannt, in deren Kreis er durch die glückliche Nachahmung der verschiedensten Persönlichkeiten rasch zu einer gewissen Geltung gelangte.
Von da an hatte der junge Mensch nicht Rast und nicht Ruhe. Zitternd sehen wir ihn eines Tages vor dem Tyrannen des Warschauer Theaters, dem Director Dmuszewski, stehen und um Aufnahme in die dramatische Schule bitten. Sie wurde ihm gewährt. Zwei Jahre seufzte er, „in spanische Stiefeln eingeschnürt“ unter dem Zopfunterricht der Anstalt, die es so gut meinte und so wenig zu leisten verstand. „Wie viele Jahre,“ sagt Dawison selbst scherzend, „hatte ich zu arbeiten, um Alles das zu vergessen, was ich damals gelernt hatte!“
Endlich – endlich kam (1837) der ersehnte Tag des ersten Auftretens! Der Erfolg war günstig; trotzdem gab er seine Stellung bald wieder auf, weil sie ihm nicht genug Gelegenheit bot, sich zu versuchen. Den gährenden Kopf zog es zu den kleineren Truppen. Er ging nach Wilna, wo sein Fleiß willkommen war, und fing an Alles zu spielen. Die sogenannten Liebhaber, polternde Alte, Helden, Intriguanten, gab es in dem gewöhnlichen Sinne schon hier nicht für ihn. Er lernte in jeder Rolle den Menschen herausfinden und ihn in eigenthümlicher Weise darstellen, und den „Vater der Debütantin“ spielte er mit derselben Hingebung, wie den „Hamlet“.
Da löste sich die polnische Truppe in Wilna auf.
„Jetzt kannst du vor das Publicum Warschaus hintreten!“ rief es in Dawison, und mit freudiger Zuversicht flog er seiner Vorstadt entgegen; was sah er für Triumphe vor sich! Sein erster Weg war zu Dmuszewski, dem Director des polnischen Theaters.
Der war nun gar kein Enthusiast. „Es ist Alles recht schön,“ erwiderte er, „ich will gern glauben, daß es Ihnen Vergnügen machen wird, in Warschau aufzutreten – aber was reden Sie von Theaterfreunden? – Sie sind hier längst vergessen, keine Katze kommt Ihretwegen in’s Parterre. Und Honorar? Gage? – nein, Bester. Das ist zu viel! Ist es Ihnen nicht Ehre genug, daß man Sie überhaupt in Warschau auftreten läßt?“
Das war allerdings für Dawison’s augenblickliche Verhältnisse zu wenig. Er wartete deshalb zwar einige Wochen, trat auch einmal auf, schnürte aber doch erleichterten Herzens sein Bündel, theilte vorsichtig sein geringes Reisegeld ein und verließ zum zweiten Male die Hauptstadt, als ihm von Lemberg der Antrag gemacht worden war, an das dortige Theater zu kommen. Hier ging es ihm bald wieder besser. Obwohl der Kampf, den sein höheres Wissen, sein besseres Können gegen den alten Schlendrian aufnahm, ihm unzählige Feinde machte, hielt doch der Intendant Graf Skarbek zu ihm, und Beide hatten die Idee einer gründlichen Reform des polnischen Theaters noch nicht aufgegeben, als ein neuer Umstand plötzlich dem Leben Dawison’s eine ganz andere Richtung gab.
Dawison hatte nämlich in Lemberg unter seinen Collegen auch die Bekanntschaft einer Familie gemacht, deren Mitglieder zu den vorzüglichsten Künstlern der Bühne gehörten. Besonders zeichnete die eine Tochter, eine zarte, junge Dame, das feinste Verständniß und jener instinktive Blick aus, der das Schöne und Richtige trifft, nicht weil er es gelernt nach Regeln sich zu entwickeln, sondern weil er von allem Verkehrten unharmonisch berührt wird. Von der natürlichen Anmuth der Erscheinung angezogen, war der junge Heißsporn bald leidenschaftlich gefesselt. Wanda sollte sein Weib werden. Mit der beglückenden Gewißheit aber, daß sie es auch wollte, war es allein nicht gethan. Hindernisse der mannigfachsten Art traten den Beiden entgegen.
Da bemächtigte sich jetzt, wo Dawison seinen Namen auf ein geliebtes Wesen übertragen wollte, seiner der glühende Wunsch, jenen glänzend aufzurichten durch das Ringen nach den höchsten Zielen. Polen war für seine Pläne kein Boden mehr. Mit andern Ländern verglichen, wie Deutschland und Frankreich, war es in Bezug auf seine Literatur ein verwahrlostes Land. Dawison sah voraus, daß für ihn hier der Tag kommen mußte, wo er sich zu sagen habe: jetzt ist das Gefäß ausgeschöpft. Seine Natur mußte aber Herculesausgaben vor sich sehen, um an eine innere Befriedigung glauben zu können.
Er wollte sich seine Braut mit seinem Ruhm erkaufen – für ihn gab es nur zwei Wege dazu: entweder nach Frankreich oder nach Deutschland. Er wählte, nachdem er die Kunstrichtungen beider Länder genau studirt hatte, das letztere zu seinem neuen Vaterlande, nicht weil ihm hier ein leichterer Weg zum Ziele zu führen schien, sondern gerade weil der ernstere Sinn der Deutschen ihm offener vorkam für die reine Wahrheit, zu deren Darsteller er sich berufen fühlte; weil die Deutschen die einzige Nation waren, welche außer ihrer eigenen reichen Literatur sich auch die Schätze aller anderen zugeeignet haben, und ganz besonders, weil unter ihnen damals fast allein das Verständniß des großen Briten Shakespeare lebte. –
Wenn man in Berlin die O–straße heruntergeht, so kommt man rechts an ein stattliches, wohlverschlossenes, spitalartig gebautes Haus. Hier war es, wo Dawison zum ersten Male einem deutschen Publicum in Deutschland gegenüber stand, und zwar einem Publicum und in einem Locale, welches beides eigenthümlicher nicht gedacht werden konnte. Ein regelrechtes Streckbett, durch einen grünen Teppich kunstvoll seiner ursprünglichen Bestimmung entrückt, bildete das Hauptmöbel des Zimmers, welches durch eine in der Höhe, wo sonst gewöhnlich der Kronleuchter zu hängen pflegt, sich quer unter der Decke fortziehende Leiter eine anmuthige Decoration erhielt; allerhand aus den Wänden hervorstehende Sprossen, Handhaben und Gurte gaben eine passende Vervollständigung. Auf einem Ecktisch endlich stand eine Punschbowle, die durch ihre Riesendimensionen ebenfalls eher den Gedanken an körperliche Kraftübung als an geistige Erfrischung hervorrief.
Der Schauplatz ist im orthopädischen Institut des Dr. –, und diesem Rahmen entspricht das allmählich sich ansammelnde Publicum vollständig. Endlich öffnet sich die Thür, und der Künstler – tritt nicht auf, sondern wird auf einem Rollstuhle hereingefahren. – Wir müssen um einige Zeit zurückgreifen.
Als Dawison von Lemberg, wo er mit Glück seine ersten [7] Proben als deutscher Schauspieler abgelegt hatte, weggegangen war, um sich ausschließlich dem deutschen Theater zuzuwenden, hatte er als sein nächstes Ziel Breslau in’s Auge gefaßt, die Stadt, welche, seinem Vaterlande am nächsten gelegen, auch am ehesten den ihm noch anhängenden polnischen Accent entschuldigen würde. Allein man belächelte hier nur sein Unternehmen. Er ging nach der kleinen Stadt Brieg – vergeblich, nach dem noch viel kleinern Ohlau – umsonst. Nirgends hülfreiches Entgegenkommen. Nur eine einzige Aussicht blieb dem Wanderer noch, Verständniß zu finden, und diese war Berlin, oder vielmehr der dort lebende Hofrath Louis Schneider, von dem er so viel gelesen, der ihm als eifriger Polenfreund geschildert war. Voll Ungeduld eilt der Künstler nach der preußischen Hauptstadt, – auf dem Bahnhofe endlich angekommen, springt er hastig aus dem Wagen und thut einen unglücklichen Fall. Er hat sich auf gefährliche Weise den Fuß verrenkt.
An Stelle der frischen Hoffnung, die im Eisenbahncoupé neben ihm gesessen und ihm still in’s Gesicht und Herz hineingelächelt hatte, sitzt nun ein alter langweiliger Spitaldiener und fährt mit ihm in die Stadt und ruft ihm einmal über das andere zu: „Halten Sie sich man ja recht stille.“ Fast vier Wochen mußte Dawison das Bett hüten. In dieser Zeit aber hatte er durch seine jugendliche Frische, seine Liebenswürdigkeit, durch seinen Witz und sein Talent zu erzählen sich bei allen seinen Zimmernachbarn so in Gunst gesetzt, daß man den Tag, wo er zum ersten Male wieder das Bett verlassen durfte, durch eine Abendgesellschaft zu feiern beschloß. Und das war heute. Dawison las dabei „Hans Jürge“ von Holtei vor. Die Wirkung dieser ersten Huldigung, welche er dem Vaterlande seiner Wahl brachte, war eine unbeschreibliche. Ein buckliger Schulmeister aus Posen fiel ihm schluchzend um den Hals und schwur Stein und Bein, „er selber sei eigentlich auch Schauspieler, er könne es nur nicht so von sich geben; an Dawison’s Stelle aber ließe er sich den schwarzen Bart abschneiden und ohne Weiteres mit 10,000 Thalern am Hoftheater engagiren – und er wolle den sehen, der ihn daran hinderte!“
Dawison folgte nun zwar dem Rathe, insofern sich derselbe auf seinen Bart bezog; trotzdem erfüllte sich der zweite Theil jener kühnen Voraussetzung nicht so ohne Weiteres. Von Louis Schneider aber erhielt er Empfehlung nach Hamburg, an den Director des Thaliatheaters Maurice, auf welche hin er einen Cyclus von Gastrollen eröffnen konnte. Wie er hier gleich durch sein erstes Auftreten Zeugniß seiner Genialität ablegte, sodaß sich an sein Gastspiel ein dauerndes Engagement schloß; wie er dann im Fluge gleichsam das noch zu Lernende an sich riß, Rolle auf Rolle sich schuf und immer höhere Aufgaben zu lösen unternahm; wie sein Ruhm wuchs und er endlich seine Stellung an dem ihm so liebgewordenen Thaliatheater mit dem ihm eröffneten ungleich großartigeren Wirkungskreise am Hofburgtheater in Wien vertauschte – das Alles ist bekannt. In Wien wuchs er vollends zu seiner Größe empor. Kein Theater der Welt vermochte ihm eine Vereinigung so bedeutender Kunstgenossen zu bieten, als das Burgtheater; wie dieses war kein Kunstinstitut geeignet, seine Ansichten klären, seine Ueberzeugungen festigen zu helfen. Seine junge Frau, die er sich schon, als er seine Stellung in Hamburg gesichert wußte, aus Lemberg geholt hatte, bereitete ihm eine reizende Häuslichkeit; die schöne Umgebung Wiens, der heitere, leichte Sinn des Volkes, eine geistreiche, freundschaftliche Genossenschaft – Alles, was ihm entgegenkam, forderte zu Genuß auf. Für Dawison aber gab es noch kein Ausruhen, keine Umschau, kein Rückblicken. Jetzt schuf er seine großen Rollen: er ging mächtig an Shakespeare. Unbefangen, unbeirrt von fremden Anschauungen, folgte er nur sich. Ob es Andere so oder anders gemacht, kümmerte ihn nicht.
Als er 1852 nach Dresden kam, war er ein Phänomen. Man kannte seinen Namen, aber die Erscheinung frappirte auf’s Höchste. Der unzweideutige Beifall, mit welchem er hier aufgenommen wurde, die glänzenden Anträge, die man ihm stellte, vor Allem aber die zarte Natur seiner Frau, welche das Wiener Klima nicht gut zu vertragen schien, erweckten den Entschluß einer Übersiedelung. Mit seiner gewöhnlichen Raschheit führte ihn Dawison aus. Das war jetzt vor zehn Jahren.
„Nicht sechs Monate wird er in Dresden bleiben,“ hieß es in Wien – aber Dawison blieb und ist noch jetzt da. Er fing nun an, wie er sagte, das Leben zu genießen, – allein wie genoß er? dadurch, daß er seinem Schaffenstrieb in neuen Richtungen zu walten erlaubte.
Von dem Ertrage eines Gastrollencyklus in Berlin baute er sich ein reizendes Haus. Er steckte mit ab und hantirte mit Hacke und Spaten in seinem Garten, denn er konnte kaum erwarten, eine Heimath zu haben, die er ganz und gar seiner eigenen Kraft und seinem eigenen Willen verdankte. Aber der Sommer war noch nicht oft in den schönen Garten gekommen, als man die treueste Seele, die dem Manne angehangen hatte, aus ihm hinaustrug. Es war wieder leer; die Blumen wurden von fremden Menschen abgebrochen, das Obst fraßen die Sperlinge. Dawison ging in den Club, und wenn er Nachts nach Hause kam, setzte der Gärtner das Licht auf den Tisch und ließ ihn allein. –
Das war zu trostlos. Im Drange nach Betäubung ging Dawison nach Paris. Er war gerade dort, als über die ganze Erde das große Nationalfest der Deutschen, das Schillerfest, gefeiert wurde. Hier wurde das Fest zu einem kosmopolitischen. Vertreter aller Nationen, aller Stände überfüllten den Cirque de l’impératrice. Die Begeisterung für unser schönes Vaterland, durch deutsche Rede und deutsche Klänge gehoben, ergreift auch die Fremden. Eine schöne Erhebung liegt auf allen Gesichtern, es schwirrt und summt durch den kolossalen Raum. Plötzlich richten sich alle Operngläser auf einen Punkt. „Dawison – das ist er,“ geht es flüsternd durch den Saal – ein förmlicher Beifallssturm empfängt ihn. Er hatte sich bestimmen lassen, den dritten Act des Don Carlos vorzulesen. Bis in die fernsten Ecken dringt sein Wort, alle Gemüther mächtig ergreifend. Man hört nicht mehr athmen, bei der Unterredung des Königs mit dem Marquis Posa nur schlägt zeitweilig die Begeisterung durch, bei den Worten aber: „Geben Sie Gedankenfreiheit“ – da dröhnt heller Jubel durch das Haus.
Alfred de Vigny, der berühmte Akademiker, fällt nach dem Schluß dem Künstler um den Hals: „Ah, que votre patrie est heureux d’avoir un si grand tragédien!“ – demselben, den wir als polnischen Schreiber an der Erlernung des Deutschen verzweifeln sahen. Damals ein Knabe, durch nichts bedeutend, als durch sein Genie und seinen Ehrgeiz, heute ein Mann, dessen Name unter den berühmtesten der Künstlerwelt genannt wird!
Die Aufgabe, die sich Dawison gestellt, läßt sich in wenigen Worten charakterisiren. Sein Bestreben ist: die auf der Bühne verloren gegangene Wahrheit wieder zu Ehren zu bringen. Man hatte im deutschen Theater verlernt zu sprechen; hohles Pathos und Schönrednerei machten sich breit, wo Shakespeare „der Natur gleichsam einen Spiegel vorzuhalten“ befiehlt. Dawison ist bei aller Poesie der Auffassung, bei aller künstlerischen Durchführung seiner Aufgaben, stets wahr, und – die Hauptsache – er wirkt durch die einfachsten Mittel.
Wie er spricht und wie er lacht – wie er bittet und wie er herrscht, das kann man nur von ihm selbst erfahren. Um seine Proteusnatur zu kennen, müßte man ihn in allen seinen Rollen, die er spielt oder gespielt hat, gesehen haben. Die auf unserm Bilde dargestellten Köpfe sind aus jener großen Zahl auf gut Glück herausgegriffen. In jeder Rolle ein Anderer. Wer erkennt in dem altervertrockneten, gutmüthigen Kanzlisten Leberecht Knabe den übermüthigen Benedict aus „Viel Lärm um Nichts“, wer in Franz Moor von heute den Falstaff von gestern? glaubst Du, daß Narciß und Oedipus sich in einer Person vereinigen können, und Ricaut de la Marlinière und Hamlet, und der aalglatte Perin und König Lear, Mercutio und Richard III.?“
Ein seltenes Gedächtniß kommt Dawison zu Hülfe. Er lernt nicht seine Rolle, sondern das ganze Stück und bedarf des Souffleurs nur wenig. Der Schauspieler giebt es nicht viele, welche ein so reiches Repertoir haben, wie er – in dem Zeitraume von 25 Jahren hat er über 550 verschiedene Rollen gespielt. Und doch findet er noch immer Zeit für sich und seine Freunde, denen er, unterstützt von einer anmuthigen Gattin, seine Häuslichkeit zu einem reizenden Aufenthalte zu machen weiß. Dawison hat sich vor kurzem zum zweiten Male verheirathet, und neben dem Genius der Schauspielkunst waltet in der kleinen Villa an der Chemnitzerstraße nun auch die Muse des Gesanges.