Der russische Carneval

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Textdaten
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Autor: M. v. B.
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Titel: Der russische Carneval
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aus: Die Gartenlaube, Heft 6, S. 84–86
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1869
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Die Butterwoche in St. Petersburg

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Der russische Carneval.

Wie sich unter dem tiefblauesten Himmel Europa’s, in dem Lande, wo Petrarca seine Lieder sang, noch die Sitte erhalten hat, den Fleischspeisen in launiger Weise auf einige Zeit Lebewohl zu sagen, so begegnen wir auch im hohen Norden dem Volksgebrauche, die letzte Woche vor dem Beginn der großen Fasten, die sogenannte „Butterwoche“, durch tollen Uebermuth zu bezeichnen. Vom Weißen bis zum Schwarzen Meer, aus Rußlands unermeßlichen Ebenen, wird der Abschied von Allem, was zur Leibesnahrung vom Thiere kommt, durch öffentliche Belustigungen erheitert und dabei namentlich der Schaulust der unteren Gesellschaftsschichten genügt.

Turner-, Sänger-, Schützen- und andere Feste kennt man in Rurik’s Reich noch nicht, ebenso sind die im Sachsenlande so beliebten Vogelwiesenfeste noch nicht auf russischen Boden verpflanzt, aber Butterwoche und Osterfest werden würdig, oder vielmehr auf die bunteste Weise begangen. In den kleinen russischen Städten nimmt wohl die ganze Bevölkerung daran Theil, in der großen und stolzeren Hauptstadt aber lenkt nur der niedere Mann seine Schritte auf „die Berge“, wie man zu sagen pflegt, denn Eisberge zum Rutschen sind ein notwendiges Attribut der Butterwoche. Was aber dem uncultivirten Erwachsenen gefällt, das lockt auch Kinder aus den besseren Ständen an, und so strömen denn Schaaren von Wärterinnen mit ihren Pfleglingen den Bergen zu und mengen sich in das bunte Gewirr.

Schon mehrere Wochen vor dem Beginn der Butterwoche, oft bei der schneidendsten, bis zwanzig oder gar dreißig Grad gestiegenen Kälte sieht man auf dem schönsten und geräumigsten Platz der Kaiserstadt eine Menge Arbeiter hämmern und geschäftig hin- und hergehen. Der umfangreiche Platz wird von dem schlanken Admiraliätsthurm, dem kaiserlichen Winterpalais und dem schönen Generalstabsgebäude eingeschlossen und stößt unmittelbar an die zu Ehren Kaiser Alexander’s des Ersten errichtete Säule, den größten Monolithen Europa’s. Die übrigen Seitenflügel des großen Platzes bilden die durch eine Arcade verbundenen kolossalen Gebäude der heiligen Synode und des dirigirenden Senates, beides Schöpfungen des Tzaren Peter des Ersten. An der nördlichsten Seite dieses ausgedehnten Raumes erhebt sich die eherne Reiterstatue des großen politische Reformators Rußlands, und hinter derselben rollt der breite, schöne Newastrom dahin, der mächtige steinerne Quais bespült.

Das bunte Treiben mit seinen Caroussels, Schaukeln, Menagerien, Eßwaarenverkäufern und kochenden Theekesseln nimmt dabei nur einen Theil des Riesenplatzes ein, und es bleibt noch ein hinlänglicher Raum für Equipagen aller Art, in denen die wohlhabendere Welt in bequemster Weise dem Mummenschanze zuschaut und die verschiedensten einzelnen Bilder desselben langsam an sich vorüber ziehen läßt. Am amüsantesten sind für den Beschauer aus der Ferne die in Bauerntracht gekleideten Possenreißer, welche an der äußeren Balustrade der erhöhten Caroussels stehen und die sie umgebende Menge durch Witzworte belustigen. Schon von Weitem sind diese Volkskomiker, die übrigens Jahr aus Jahr ein dieselben Scherze wiederholen, mit denen sie jedoch nur der Hefe des Volkes ein Lachen abzwingen, durch ungewöhnlich lange, falsche graue Bärte kenntlich, und wenn man hinzutritt und eine kleine Weile den Plaudereien des „Alten“, wie man den bezahlten Witzbold nennt, zuhört, so hat man an der kleinen Weile [86] eben auch vollkommen genug. Mißglückt dem gemütlichen Alten einmal ein harmloses Kunststückchen, oder kann er sich nicht mehr aus seinem Lügengewebe heraushelfen, so pflegt er auf den ersten besten Mann im Volke zu deuten und zu sagen. „Da ist der Rothbart daran schuld“. Das Zwerchfell der ihn umringenden Muschiken, rußigen Lehrjungen und naiven Landpomeranzen wird davon weidlich erschüttert, aber da schon nach wenigen Minuten derselbe abgeschmackte Scherz sich wiederholt, so zieht das Publicum weiter, um anderen Zuhörern, die sich inzwischen angesammelt, Platz zu machen.

Das Anhören dieser Possenreißer genießt man umsonst, alles Andere jedoch nicht ohne eine kleine Vergütung. Am wohlfeilsten ist noch die Benutzung jener Schaukeln, die auch in Deutschland als russische Schaukeln bekannt sind. Die heiteren Gesichter der Insassen bekunden das Vergnügen, welches sie durch die Balancirung empfinden, wobei der ungewaschene Rothbart stets den Arm um seine nüsseknackende Schöne hält.

Ohne einige Male von den Eisbergen gerutscht zu sein, verläßt der gemeine Mann den Vergnügungsort nicht, und auch hier trennt er sich nicht von seiner Dulcinea. Zwei mächtige Eisberge stehen sich mit dem weniger steilen Abhange in einer Entfernung von etwa drei bis vier Minuten Gehens gegenüber, so daß die Fahrfläche des einen hart neben der des anderen hinläuft. Die Berge selbst haben eine Höhe von etwa fünfzig Fuß, zu welcher von der nicht zu befahrenden Seite eine steile Holztreppe hinaufführt. Am Fuße derselben befinden sich stets dienstbare Geister mit eleganten kleinen Stuhlschlitten, die sie für eine kleine Vergütung gern jedem kühnen Eisfahrer überlassen. Oben auf der Treppe angekommen, wo bunte Fähnchen wehen, setzen sich Ritter und Dulcinea auf den von dem dienstbaren Geiste ihnen heraufgebrachten kleinen Schlitten, welcher sehr niedrig ist und gar keine Lehne hat, mit Ausnahme einer schrägen Abdachung für den Rücken. Beine und Arme werden vor etwaigem Herüberhängen wohl verwahrt, und schließlich giebt der obenstehende diensttuende Aufseher den Kunststoß, indem er das leichte Fahrzeug mit seinen in zottige Schafpelze gehüllten Vergnügungsreisenden in geradester Linie heruntersegeln läßt. Ein helles Jauchzen von Lippen, die noch von keinem ABC gestutzt worden, bekundet in der Regel das angenehme Gefühl, pfeilschnell, aber mit Sicherheit dahinzulaufen, zuerst von schwindelnder Höhe und dann auf spiegelglatter Fläche. Nach vollendeter Fahrt wird sogleich der zweite Berg bestiegen, und abermals rutscht das glückliche Paar, wenn auch nicht durch’s Leben, so, doch für einige Augenblicke umschlungen. Zur Erwärmung nach diesem eisigen Luftbade geht es dann an die mächtigen dampfenden Theekessel, und ein Glas nach dem andern des sehr durchsichtig gewordenen chinesischen Krautes macht von Neuem die steif gewordenen Glieder geschmeidig und disponirt sie, der einen oder anderen Baracke, deren ungewöhnlich interessante Merkwürdigkeiten durch hochtrabende Schilder angezeigt sind, einen längeren Besuch zu machen.

Die Zahl der Baracken oder Balaganen, die sämmtlich in einer Reihe liegen, ist zehn oder zwölf; meist werden in ihnen Pantomimen dargestellt mit Verwandlungen, Tänzen und komischen Scenen aller Art. Die Vorstellungen beginnen während der ganzen Woche un zwölf Uhr Mittags, dauern etwa eine Stunde und werden bis zum Dunkelwerden fortgesetzt. Die besseren Plätze, die einen bis anderthalb Rubel kosten, werden mitunter auch von den wohlhabenderen Ständen besucht, die einmal sehen wollen wie Harlekin dem Meister Pierrot seine Colombine entführt und bei der Gelegenheit den Betrogenen in ein Tintenfaß stürzt, aus welchem er natürlich kohlpechrabenschwarz hervorkommt u. dgl. mehr. Am größten ist aber natürlich der Zudrang zu dem letzten und billigsten Platze, wo man für zwanzig Kopeken (fünf Silbergroschen) dasselbe Schauspiel, doch in angemessener Entfernung, genießen kann.

Schon lange ehe die Vorstellung beginnt, ist die ganze zu dem noch verschlossenen Eingang in das Zauberspiel führende Treppe mit Schaulustigen besäet, die, Kopf an Kopf gereiht, geduldig warten, bis es wie in der Aladdin’schen Zauberlampe heißt. „Sesam, Sesam, thu’ dich auf.“ Wer zarte Geruchsnerven oder auch überhaupt nur Geruchsnerven besitzt, mag sich nicht in das Gedränge russischer Bauern mengen, denn wenn auch das Schreien des italienischen Pöbels und das unaufhörliche Fluchen des französischen Blousiers wegfällt, so verbreiten doch die groben unüberzogenen Schafpelze, sowie die nur einmal wöchentlich mit Wasser benetzten Wangen des richtigen Muschik einen Parfüm, an den eine westeuropäische Nase sich nicht leicht gewöhnt. In allen diesen Balaganen wird nie ein Dialog geführt, immer sind es nur Pantomimen.

Fern von diesem Treiben, bei welchem das unaufhörliche Knacken von Nüssen eine große Rolle spielt, geht es in der großen Stadt Petersburg während der Butterwoche auch anders als gewöhnlich her. Abgesehen von größerer Bewegung und bunterem Gewimmel auf der Newsky’schen Perspective, dem Brennpunkte des Petersburger Lebens und der Hauptader der Stadt, sind zweimal täglich Vorstellungen in allen vier kaiserlichen Theatern (und andere giebt es in der großen Hauptstadt nicht), von denen die erste um zwölf Uhr Mittags, die zweite um sieben Uhr Abends beginnt, und wer nicht sehr zeitig sich einen Platz sichert, bekommt entschieden keinen. Wer das ganze Jahr über nicht in das Theater geht, will es in der Butterwoche besuchen, und aus den entlegensten zu der Residenz gehörigen Inseln, aus den Vorstädten kommt der Russe gewandert, um während der Maßlänitza (Butterwoche) einer Theatervorstellung beizuwohnen. Theilweise erklärt sich der große Andrang zu den Brettern im Carneval auch dadurch, daß während der siebenwöchentlichen Dauer der Fasten die Theater vollkommen geschlossen sind – und auch nach Ostern nur hin und wieder Vorstellungen stattfinden, während sie im Sommer abermals unterbrochen werden, um erst wieder im Herbste ihren regelmäßigem Fortgang zu nehmen. Die Butterwoche ist somit der Schluß des Theaterjahres, und daher wimmeln die geräumigen Plätze vor den Schauspielhäusern von Menschen und Equipagen aller Art.

Kehrt der Russe zum Mittagessen von der Vorstellung im Theater oder der Promenade auf den Bergen heim, so dürfen auf seiner Tafel die sogenannten „Blini“ oder Pfannkuchen nicht fehlen. Sie werden aus Butter, Mehl und Sahne angefertigt und vor der Suppe servirt, der vornehmere Mann verzehrt sie mit frischem Caviar, der Unbemitteltere mit saurer Sahne oder geschmolzener Butter. Zum zweiten Frühstück, das gegen zwölf Uhr eingenommen wird, bilden Blini während der ganzen Maßlänitza auch die Hauptspeise, ebenso bei den Soupers, da unzählige große und kleine Gesellschaften während der tollen Woche in dem auch sonst sehr geselligen Petersburg gegeben werden. Die großen Restaurants auf der Perspective fabriciren die beliebten Blini in ungeheuren Massen, und der Russe pflegt am Schlusse der Butterwoche vor seinen Bekannten sich mit der Zahl der Blini zu brüsten, die er während der Woche in sich aufgenommen.

Mit dem Mitternachtsschlage am Sonntage der Butterwoche hört Alles wie mit einem Zauberstreiche auf. Der „reine Montag“, wie der erste von den achtundvierzig Fastentagen genannt wird, findet den Tags zuvor noch so belebten Balaganenplatz wüst und leer, und nur hin und wieder wankt noch ein nicht ganz nüchtern gewordenes Subject in verknitterter und zerrissener Kleidung seiner Behausung zu. Nur ein Völkchen von den vielen Völkerstämmen, die sich dem russischen Tzaren beugen, darf noch zwei Tage sich den Carnevalsfreuden hingeben; Montag und Dienstag der ersten Fastenwoche werden nämlich als deutsche Maßlänitza betrachtet, und an beiden Tagen sind Vorstellungen im deutschen Theater und Bälle in dem Petersburger deutschen bürgerlichen Tanzclub. Da die Fasten mit der herrschenden griechisch-katholischen Religion zusammenhängen, so darf kein Bekenner der Landeskirche an diesen Festlichkeiten Theil nehme, es sei denn, daß er sich der Strafe von fünfundzwanzig Rubeln unterziehen wolle, aber zwischen Petersburger Deutschen, d. h. rassischen Untertanen, und Ausländern wird kein Unterschied gemacht. Noch vor etwa zwanzig Jahre prangte zwar auf den Theaterzetteln an diesem Tage die eigenthümliche Aufschrift: „Für Deutschlands Söhne!“ allein jetzt ist sie weggefallen. Was dem geborenen Russen während seiner Maßlänitza die Blini sind, das ersetzen dem Deutschen während seiner zwei privilegirten Buttertage kleine trockene, aber sehr wohlschmeckende, aus Milch und Rosenwasser verfertigte Brödchen, welche Fastnachtsbrödchen heißen.

M. v. B.