Der singende Knochen (1819)

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Textdaten
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Autor: Brüder Grimm
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Titel: Der singende Knochen
Untertitel:
aus: Kinder- und Haus-Märchen Band 1, Große Ausgabe.
S. 145-148
Herausgeber:
Auflage: 2. Auflage
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1819
Verlag: G. Reimer
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Erscheinungsort: Berlin
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Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans auf Commons
Kurzbeschreibung:
seit 1812: KHM 28
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Begriffsklärung Andere Ausgaben unter diesem Titel siehe unter: Der singende Knochen.


[145]
28.

Der singende Knochen.

In einem großen Wald lief ein mächtiges Wildschwein herum, das die Aecker umwühlte, das Vieh tödtete und den Menschen mit seinen Hauern den Leib aufriß, also daß sich niemand mehr in die Nähe des Waldes wagte und es zu einer Plage für das ganze Land ward. Der König bot auf was er konnte, aber noch jeder, der es einfangen oder tödten wollte, war schlimm weggekommen, so daß niemand kühn genug war, das Wagniß zu übernehmen. Endlich ließ der König bekannt machen, wer das Wildschwein erlege, solle seine einzige Tochter zur Gemahlin haben.

Nun waren zwei Brüder im Reich, Söhne eines armen Mannes, die meldeten sich dazu: der älteste, der listig und klug war, aus Hochmuth; der jüngste, der unschuldig und dumm war, aus [146] gutem Herzen. Der König hieß sie von verschiedenen Seiten in den Wald gehen und ihr Heil versuchen; da ging der jüngste von Morgen aus, der älteste von Abend. Als der jüngste hinein gekommen war, trat ein kleines Männlein zu ihm, das hielt eine schwarze Lanze in der Hand und sprach: „siehst du, mit dieser Lanze kannst du ohne Furcht auf das Wildschwein eingehen und es tödten; die geb ich dir, weil dein Herz gut ist.“ Nun nahm er den Spieß, dankte dem Männlein und ging getrost weiter. Bald sah er das Thier wüthend heran rennen, aber er hielt den Spieß vor und es rennte sich in seiner blinden Wuth so gewaltig hinein, daß es sich selbst das Herz durchschnitt. Da nahm er seinen Fang auf die Schulter, ging vergnügt heimwärts und wollte ihn dem Könige bringen.

Der andere Bruder hatte auf seinem Weg ein Haus gefunden, wo sich die Menschen mit Tanz und Wein lustig machten und war da eingegangen. „Das Wildschwein, dachte er, lauft dir doch nicht fort, du willst dir hier erst ein Herz trinken. Der jüngste kam nun bei seinem Heimweg daran vorbei und als ihn der älteste sah, mit der Beute beladen, ward er neidisch und sann darauf ihm zu schaden. Da rief er: „komm doch herein, lieber Bruder, und ruh dich ein wenig aus und trink einen Becher Wein zur Stärkung.“ Der jüngste, der in seiner Unschuld an nichts böses dachte, ging hinein und erzählte ihm, wie es zugegangen war und daß er mit einer schwarzen Lanze das Schwein getödtet hätte. Nun hielt ihn der älteste zurück bis gegen Abend, wo sie zusammen sich aufmachten. Als sie aber in der Dunkelheit [147] zu der Brücke über einen Bach kamen, ließ der älteste den jüngsten vorangehen und mitten drauf gab er ihm einen Schlag, daß er todt hinabstürzte. Dann begrub er ihn unter der Brücke, nahm das Schwein und brachte es vor den König, mit dem Vorgeben, er habe es getödtet, und erhielt darauf die Tochter des Königs zur Gemahlin. Als der jüngste Bruder nicht wiederkommen wollte, sagte er: „das Schwein wird ihm den Leib aufgerissen haben.“ Und das glaubte jedermann.

Weil aber vor Gott nichts verborgen bleibt, so sollte auch diese schwarze That an des Tages Licht kommen. Nach langen Jahren trieb ein Hirt seine Heerde über die Brücke, und sah unten im Sande ein schneeweißes Knöchlein liegen und dachte, das gäbe ein gutes Mundstück. Da stieg er hinab, hob es auf und schnitzte ein Mundstück für sein Horn daraus, und als er es zum erstenmal ansetzen und darauf blasen wollte, so fing das Knöchlein an, von selbst zu singen:

„Ach, du liebes Hirtelein,
du bläst auf meinem Knöchelein!
mein Bruder hat mich erschlagen
unter der Brücke begraben,
um das wilde Schwein
für des Königs Töchterlein.“

„Ei, was für ein Hörnlein, das von selber singt!“ sprach der Hirt, wußte nicht, was es zu bedeuten hatte, brachte es aber vor den König. Da fing das Knöchlein wieder an, dieselben Worte zu singen; der König verstand wohl, was es sagen wollte, ließ [148] unter der Brücke graben und das ganze Gerippe des Erschlagenen kam hervor. Der böse Bruder konnte sein Verbrechen nicht leugnen und ward lebendig ins Wasser geworfen und ersäuft, die Gebeine des Gemordeten aber wurden auf den Kirchhof in ein schönes Grab zur Ruhe gelegt.