Der wahre Glaube
Fern im Osten, wo sich Völkerstämme und Religionssysteme in so wunderbarer Mischung durchkreuzen, lebt ein frommer katholischer Priester, der, wie seiner Zeit Harun al Raschid, die Gewohnheit übt, nach Sonnenuntergang verkleidet durch die Straßen der Stadt zu schweifen, um seine Gemeinde, die hier zerstreut unter Bekennern der griechisch-katholischen Kirche, des Judenthums und des Islam wohnt, gründlicher kennen zu lernen und sonstige Welt- und Menschenerfahrung zu sammeln. Es wäre Unrecht, wenn der Leser bei diesen allerdings ungewöhnlichen Verkleidungen eines katholischen Priesters an etwas Schlimmes oder Unziemliches denken wollte. Emanuel – so heißt der getreue Diener des Herrn – hegt in der That die besten und lautersten Absichten. Wohlwollend gegen Jedermann, emsig bestrebt, das Gute zu fördern und das Leid seiner Mitmenschen zu verringern, vergreift er sich hier vielleicht in der Wahl seiner Mittel, aber seine Zwecke sind durchaus ehrlich und lobenswerth.
[233] Es war im Jahre 1877, als Emanuel bei hereinbrechender Dunkelheit wiederum durch die Gassen schritt, so recht mitten durch das farbenbunte Gewühl, das nach des Tages Hitze in verdoppeltem Wogenschlag brandete. Der Priester war heute nachdenklicher als je. Die katholischen Zeitungen, die er eifrig zu lesen pflegte, hatten grauenvolle Berichte über die hoffnungslose Situation der Kirche im deutschen Reiche gebracht; Berichte, die unsern guten Priester weit mehr berührten, als die gleichzeitig eingetroffene Kunde vom unaufhaltsamen Vordringen der russischen Heere. Kaiser Wilhelm und sein blutdürstiger Reichskanzler schienen die Zeiten des Diocletian in Permanenz erklären zu wollen. Es war himmelschreiend. Bischöfe, geweihte, heilige Bischöfe wurden von den Schreckenstribunalen des Ketzerreichs in den Kerker oder in’s Elend geschickt. Unschuldige Priester wurden ihrer Habe beraubt und mit Schmach und Schande beladen. Der heilige Vater selbst schien in den Verließen seines vaticanischen Bagno’s kaum mehr sicher vor den gierigen Griffen des preußischen Adlers, dem ein alleszerfleischender Falk nicht minder gierig zur Seite flatterte. Kurz, der gute Priester war äußerst betrübt.
Ganz in die schwarzen Bilder seiner Seele vertieft, schritt er so durch das lärmende Volk, bis er das Thor der Stadt erreichte.
Der Mond schien hell. Durch die hoch aufragenden Wipfel der ernsten Cypressen spielte der Abendwind und trug vom benachbarten Hügel die Klänge einer sanften Musik herüber.
Emanuel fühlte sich von der wunderbaren Friedsamkeit dieser Mondnachtstimmung freundlich erquickt. Instinctiv schritt er fürbaß, immer weiter hinaus in das wuchernde Grün, immer weiter hinweg von dem lärmenden Volksgewühl, das ihn heute wenig zu fesseln schien. Nach einer Weile kam er vor einen schönen, baumreichen Park, dessen Thore weit offen standen. Er trat ein. Irrte er nicht, so gehörte dieser Park zu der Villa eines reichen christlichen Kaufherrn, der sich erst vor Kurzem hier angesiedelt. Emanuel kannte dieses neue Mitglied seiner Gemeinde zwar nicht persönlich, aber als Priester stand er ja mit jedem einzelnen Bekenner des katholischen Glaubens in Beziehungen, die viel enger waren, als die des geselligen Umganges. Er that daher ganz, als ob er in dem prächtigen Parke zu Hause sei, schritt über den breiten Vorplatz in die Schlingwege eines allerliebsten Bosquets, bewunderte die üppig duftenden Rosenbeete und stand eben im Begriff, auf eine Fontaine zuzugehen, deren Strahl vom Mondesglanz versilbert über das Buschwerk ragte, als er links in einer Ausbeugung des Weges einen jungen Mann in häuslicher Tracht erblickte, der, auf einer steinernen Bank sitzend, durch das Herannahen des Priesters augenscheinlich überrascht und erschreckt, aus tiefen Träumereien empor fuhr.
„Verzeihung,“ sagte Emanuel, indem er sich grüßend verneigte, „ich fand das Thor offen und verlor mich bewunderungsvoll in dieses herrliche Labyrinth. Ihr seid der Besitzer all dieser Kostbarkeiten?“
„Ja, Herr; und Ihr?“
„O,“ sagte Emanuel, der es für zweckmäßig hielt, sein Incognito zu bewahren, „ich bin ein wandernder Philosoph, der über die Geheimnisse des Glaubens nachdachte und sich vor die Stadt verirrte.“
„Des Glaubens!“ wiederholte der junge Mann leise aufseufzend. „Wahrlich, Herr, in solcher Zeit thut es mehr noth als jemals, diesen Geheimnissen mit voller Seelengluth nachzuhängen, um sich nicht irre machen zu lassen in der Zuversicht auf den Sieg unserer gerechten Sache.“
„Wie?“ sagte Emanuel, einen Schritt näher tretend, „ich finde hier einen Gesinnungsgenossen, einen Mitkämpfer? Wißt, auch mein Gemüth leidet qualvoll unter dem Druck dieser schreckensreichen Epoche. Auch meine Seele fleht tagtäglich in heißem Gebet um den Triumph des Glaubens über die dräuende Rotte der Ungläubigen. Ach, Herr, dieser nordische Cäsar, der kein Gebot kennt als den eisernen Zwang seines Staatsinteresses – ich fürchte, er wird uns noch manche Wunde schlagen, eh’ es gelingt, seiner grausamen Uebermacht Einhalt zu thun. Hand in Hand mit seinem schlauen Rathgeber, dem welterfahrenen Kanzler, wird er Alles aufbieten, um seine glaubensfeindlichen Pläne bis an die Grenze der Möglichkeit zu verwirklichen. Da geziemt es sich wohl, daß Männer unseres Schlages, denkende, gläubige Männer, die Sachlage in Erwägung ziehen und ihr Herzblut daran setzen, eine glückliche Lösung zu finden.“
Der junge Mann stützte jetzt wieder wie traumverloren den Kopf in die Hand und sah starren Blicks nach dem Boden, wo ein vereinzelter Mondstrahl auf dem Kies spielte.
„Würdiger Greis,“ begann er nach einer Weile, „ich betrachte es als göttliche Fügung, daß Ihr mir gerade zu dieser Stunde begegnen mußtet. Vielleicht gelingt es mir, an Eurer Weisheit meine gesunkenen Hoffnungen wieder aufzurichten. Daß ich’s nur frei bekenne: seit einiger Zeit quälen mich die furchtbarsten Zweifel. Ich habe mannigfache Schriften gelesen von Gelehrten und Priestern des Morgen- und Abendlandes. Da ist mir denn so der Gedanke gekommen: Wie nun, wenn dein Glaube, so fest gegründet er scheint, so heilig und tief er im Boden des Herzens wurzelt, ein Wahn wäre? Glauben nicht Millionen von Menschen ganz mit der gleichen Gluth eine Lehre, die du für Irrthum hältst? Erscheint nicht diesen hinwiederum dein Glaube als ein thörichtes Hirngespinnst? Wo liegt hier die Wahrheit? Seht, guter Herr, dieser Gedanke hat mich seitdem nicht mehr losgelassen. Die beklemmende Wirkung der Zeitereignisse mag hinzugekommen sein; kurz, ich befinde mich in einem Zustande großer Trübsal und Haltlosigkeit, in einer schmerzlichen Wirrniß, die ich mit aller Kraft meines Geistes nicht zu lösen vermag. Aber Ihr, guter Herr! Aus Eurer Stimme spricht eine so edle Unerschütterlichkeit, eine so klare Vollgewalt heiliger Ueberzeugung; Euch gelingt es vielleicht, mit zwei beruhigenden Worten das Gleichgewicht meiner Seele wieder herzustellen: denn die Kraft des Gläubigen theilt sich ebenso mit, wie die Schwäche des Zweiflers.“
„Im Ernste?“ fragte Emanuel, des Jünglings Hand ergreifend. „Ihr konntet auch nur für Augenblicke die Pfade des Heils verlieren? Und die Zeitverhältnisse habe bei dieser Anwandlung mitgewirkt? Ei, ei, mein Freund, wo bleiben da die Weisheitslehren der Weltgeschichte? Habt Ihr vergessen, daß unsere Sache weit schlimmere Katastrophen siegreich und zu ihrem größeren Ruhm überstanden hat? Gar manches Mal ward es ausgesprochen, aber Euch sei es hier wiederholt, denn gerade aus dieser handgreiflichen Thatsache könnt Ihr am ehesten die Fülle des unmittelbaren Vertrauens schöpfen: verlaßt Euch darauf, ein Glaube, dessen Bekenner den Tod nicht scheuten, wenn es galt, mit dem eigenen Blut für die ewige Wahrheit zu zeugen, ein solcher Glaube trägt die Gewähr seiner Göttlichkeit in sich selbst, eine solche Religion liefert durch ihre bloße Existenz den Beweis für die Unantastbarkeit ihrer Lehren.“
Emanuel schwieg. In den Augen des Jünglings flammte es hell auf.
„Wie soll ich Euch danken!“ rief er mit freudebebender Stimme. „Eure wundersame Beredsamkeit giebt mir wie durch einen Zauberschlag alle Gluth der Ueberzeugung zurück. Ja, ein Glaube, der zu solchen Thaten begeistert; ein Glaube, der seine Bekenner im Tode noch lächeln, der sie unter Qualen noch jauchzen läßt, ein Glaube, den keine feindliche Macht der Erde vernichten konnte; ein solcher Glaube kann nur der unmittelbare Ausfluß der göttlichen Wahrheit sein. So wird denn auch diese Prüfung nur dazu beitragen, des Propheten Ruhm zu vermehren und die Feinde Allahs und seiner Herrlichkeit zu Schanden zu machen.“
„Was hör’ ich?“ rief Emanuel, einen Schritt zurücktretend. „Wer seid Ihr?“
„Ich bin Abderrahman, der Sohn des ehrwürdigen Assad. Ihr scheint überrascht, guter Herr? Was befremdet Euch?“
„O nichts, nichts!“ versetzte der Priester stotternd. „Verzeiht nur, daß ich dieses Gespräch nicht fortsetze. Es ist spät geworden!“
„Allah sei mit Euch!“ sagte der Jüngling, indem er das Haupt neigte. „Ihr habt mir den größten Dienst erwiesen, den ein Sterblicher dem Andern erweisen kann. Von jetzt ab wird mein Glaube an die Wahrheit des Islam unerschütterlich sein, wie die Felsenwände des Bosporus. Ich zage nicht, und stünden die Legionen des russischen Kaisers mitten im heiligen Stambul. Ich weiß jetzt: der Sieg ist unser.“
Der gute Priester entfernte sich mit hastigen Schritten; sein Haupt glühte; seine Pulse fieberten. Wie ein Sünder huschte er an der Parkmauer entlang, gefolgt von seinem eigentümlich verzerrten [234] Schatten, den der Mond in scharfen Umrissen auf die hellschimmernde Fläche abzeichnete. Der Klang jener überzeugungskräftigen Abschiedsworte schwirrte ihm durch die Seele, bald wie höhnisches Kichern bald wie frommes Glockengeläute.
Und wie er jetzt seitwärts vom Wege bog, um schneller das heimische Thor zu erreichen, da erblickte er in der Ferne, sanft an den Hügel gelehnt, die mondbeschimmerte Stadt, traumhaft, märchengleich, wie er sie niemals zuvor geschaut. Hochauf ragten die versilberten Zinnen und Kuppeln; hochauf ragten die beiden schönsten Bauwerke dieser phantastischen Silhouette, das Minaret der großen Moschee und der Glockenthurm des katholischen Domes, beide bestrahlt von demselben himmlischen Lichte, beide umfluthet von demselben dämmernden Blau der herrlichen Sommernacht.
Da ward es licht und warm in dem Herzen des guten Priesters. Noch unklar in seinen Gefühlen; aber doch versöhnt mit dem, was geschehen, stand er still und entblößte unwillkürlich das Haupt.
Eine Weile blickte er so wie in stummer Verzückung nach dem fernen Häusergewirre, dessen lärmende Unrast hier im Frieden der Natur gleichsam unterzugehen schien. Dann sog er in tiefen Athemzügen die köstliche Luft ein und schritt gedankenvoll heimwärts …