Des Kaufmanns Ehrenschild

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Autor: J. D. H. Temme
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Titel: Des Kaufmanns Ehrenschild
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 36–39, S. 561–564; 577–580; 593–596; 609–612
Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Erscheinungsdatum: 1861
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[561]
Des Kaufmanns Ehrenschild.
Von Dr. J. D. H. Temme.

Wir hatten jeden Sonnabend einen Club, in welchem Kaufleute, Beamte und Officiere sich einfanden. Es war in einer reichen Handelsstadt und die Kaufleute überwiegend. Unter ihnen hatte ich einen mir besonders nahestehenden Freund. Er war älter als ich, aber wir hatten uns bei manchen Gelegenheiten kennen gelernt, und es hatte sich dadurch ein gegenseitiges inniges Vertrauen zwischen uns gebildet.

Freiherr von Holberg war sein Name, Friedrich Holberg seine kaufmännische Firma. Er war früher ein armer Officier gewesen, hatte die Feldzüge von 1813 bis 1815 mitgemacht, sich Ehren und Orden erworben, dann, da er arm und in seinem Regimente ein schlechtes Avancement war, seinen Abschied genommen und sein Glück als Kaufmann versucht. Er hatte es gefunden, zuerst in Amerika; seit Jahren war er schon nach Europa zurückgekehrt und gehörte zu den reichsten Handelsherren der Stadt, zu den gewissenhaftesten und geachtetsten. Er war Mitglied unseres Sonnabendclubs, den er regelmäßig besuchte.

Eines Abends im Sommer fand er sich später als gewöhnlich ein. Als er erschien, bemerkte ich eine Aufregung an ihm, die er, wenigstens vor mir, der ich ihn genau kannte, vergeblich zu verbergen suchte. Ich glaubte schon seit einiger Zeit eine Veränderung an ihm wahrgenommen zu haben, er war stiller als sonst, nicht immer von gleicher, unbefangener Laune, es schien ihn etwas zu drücken. Seine Augen hatten mich bald nach seinem Eintreten gesucht. Nach wenigen Minuten trat er auf mich zu, begann ein gleichgültiges Gespräch und führte mich in diesem wie absichtslos aus der Nähe der übrigen Gesellschaft. Das Sommerlocal der Gesellschaft war in einem großen Garten vor der Stadt.

Wir waren in eine Laube eingetreten, in der wir von den Anderen nicht gesehen werden konnten. Sein Wesen war auf einmal ein anderes geworden. Er warf den Zwang von sich ab, den er sich angethan hatte, sich zu verbergen, aber nur halb, nicht einmal halb; wie schwer mußte der Druck sein, der auf ihm lastete!

[562] „Ich habe eine Frage an Dich,“ begann er, „eine Frage an den Freund, aber auch an den Criminalrichter –“

Er stockte. Es war, als wenn ihm die Zunge festklebe, oder als wenn er nach Athem suchen müsse.

„Also doppelt auf Dein Gewissen,“ fuhr er dann fort.

„Ich werde Dir nach meinem besten Wissen und Gewissen antworten,“ sagte ich.

„Aber,“ stieß er heraus und er konnte mich nicht dabei ansehen, „die Sache betrifft nicht mich. Ich habe von einem Freunde den Auftrag, Dich um Deine Ansicht und Deinen Rath zu befragen.“

„Meine Antwort soll Dir werden, als wenn es Deine Sache wäre. Trage sie vor.“

Er mußte trotz der Versicherung, daß er nur eine fremde Sache vertrete, wiederum eine Pause machen. Es kostete ihm Ueberwindung, mit ihr hervorzukommen.

„Dem Kaufmann,“ sagte er dann, „sind seine Bücher sein Ehren- und Adelsschild. Habe ich Recht darin?“

„Es ist die Anschauung eines Edelmannes,“ erwiderte ich, „aber auch eine sachlich richtige.“

„Und durch eine Unrichtigkeit darin hat er sein Schild beschmutzt, zerbrochen?“

„Und vor dem Gesetze eine Fälschung, ein Verbrechen begangen.“

„Immer?“ fragte er hastig. „Durch jede Unrichtigkeit?“

„In der Regel wenigstens, zumal wenn die Rechte eines Andern verletzt werden sollen.“

„Dann immer?“

„Ich wüßte kaum eine Ausnahme. Nur ganz besondere Umstände des Falles möchten sie begründen können.“

Er mußte sich wieder zusammennehmen.

„Denke Dir folgenden Fall: Jemand hat mich betrogen, oder er will mich betrügen, und ich habe in das Geschäft, durch das dies geschehen soll, mich wirklich mit ihm eingelassen, es auch schon in meine Büchern eingetragen. Ich kann mich nun vor den nachteiligen Folgen nicht anders retten, als durch weitere falsche Eintragungen in meine Bücher. Ist daß ein Verbrechen?“

„Eine objective Fälschung wäre immer da,“ sagte ich.

„Auch ein Verbrechen?“ rief er.

„Nein, denn es fehlte die Absicht einer Verletzung der Rechte des Anderen; Du wolltest Dich nur gegen eine unrechtmäßige Verletzung Deiner eigenen Rechte schützen. Indeß –“

„Indeß?“

„Du müßtest unter allen Umständen und vor Allem den Beweis führen können, daß Du Dich nur eben so habest schützen wollen, und daß Du also der Betrogene seiest.“

„Und wenn ich den Beweis nicht führen könnte?“

„So wärst Du vor dem Gesetze ein Betrüger und Fälscher.“

„Und die Strafe wäre Zuchthaus?“

„Die Strafe wäre Zuchthaus, wahrscheinlich mehrjähriges.“

Er war einen Augenblick erblaßt. Dann hatte er sich wieder jene frühere Gewalt angethan, daß sein Aeußeres nicht verrathen solle, was in seinem Inneren vorging.

„Und der Ehren- und Adelsschild wäre für immer beschmutzt,“ murmelte er vor sich hin.

Er hatte sich auf eine Bank gesetzt, den Kopf gesenkt, die Augen zur Erde niedergeschlagen; so zeichnete er mit seinem Stocke unförmliche Figuren in dem Sande. Ich hatte den Druck, der auf ihm lastete, ihm nicht erleichtert. Ich wollte es.

„Wir haben noch immer keinen besonderen Fall besprochen,“ sagte ich. „Darf ich denn erfahren, um den es sich handelt?“

Er sann nach. Er konnte zu keinem Entschlusse gelangen.

„Der Freund,“ fuhr ich fort, „hat nicht immer die Verpflichtung, dem Criminalrichter zu denunciren.“

Auf einmal fuhr er auf. Ein Schritt war der Laube nähergekommen. Er hatte nach ihm ausgeblickt.

„Morgen,“ sagte er hastig, indem er schnell aufstand.

Als ich ihn anblickte, sah ich nur eisige Kälte und Ruhe in seinem Gesichte. Mit welcher Gewalt mußte er sie erzwungen haben!

Ein unangenehmer Mensch halle sich uns genähert, ein Amerikaner, Namens Jones, der sich seit ungefähr sechs bis acht Wochen in der Stadt aufhielt, mit guten Empfehlungen von amerikanischen Handelshäusern versehen, hier überall Ausnahme gefunden hatte und namentlich auch mit Holberg und in dem Holbergschen Hause viel verkehrte. Es hieß sogar, daß er der ältesten Tochter Holberg’s, einem eben so schönen, wie braven und liebenswürdigen Mädchen den Hof mache.

Ein wie schöner, edler und stolzer Greis der Freiherr von Holberg war – Mühen und Entbehrungen, namentlich in dem fremden Welttheile, hatten ihm vor der Zeit das Haar gebleicht – so roh, übermüthig, anmaßend, geldgemein war das Aussehen des Amerikaners Mr. Jones, obwohl seine Gestalt schlank und wohlgebildet, sein frisches, gebräuntes Gesicht regelmäßig und seine Augen groß, dunkel und blitzend waren. Sie bildeten die völligsten Gegensätze, jener wahrhaft adelige Freiherr, dieser ordinäre Geldmensch. Oder war er das nicht einmal ? Und sie waren auch nicht Freunde. Daß der Herr von Holberg den Menschen nur mit Widerwillen um und bei sich duldete, hatte ich längst bemerkt; heute glaubte ich noch mehr zu gewahren. Wie der Amerikaner aber zum Anbeter der schönen Therese Holberg sich hatte aufwerfen können, das war schon längst Allen um so mehr ein Räthsel, als man sie zugleich im Stillen mit einem anderen Bewerber verlobt hielt, einem der reichsten und liebenswürdigsten jungen Männer der Stadt. Karl Rauscher und Therese Holberg liebten sich wenigstens, darüber glaubte kein Mensch in Zweifel sein zu können. Warum sie sich dann nicht verlobten und öffentlich verlobten, zumal da der junge Rauscher zugleich völlig unabhängig war, das war freilich ein neues Räthsel.

Der Amerikaner hatte uns gesehen, er kam auf uns zu und trat in die Laube. Nach einer leichten Begrüßung wandte er sich sofort an Holberg.

„Dam, Sir, ich freue mich, Sie zu sehen. Ich hatte Sie schon gesucht.“

„Mich, Mr. Jones?“ fragte der Herr von Holberg vornehm und mit jener kalten Ruhe, die er so schnell hatte annehmen können.

„Sie, Sir. Ich hätte etwas mit Ihnen zu sprechen.“

„Mit mir allein? “

„Hm, ja.“

„So werden Sie die Güte haben müssen, zu warten, bis ich mit meinem Freunde fertig bin.“

„Dam, Sir, es hat keine Eile. Und Sie haben mit Ihrem Freunde wohl wichtige Sachen zu besprechen?“

„Ja, Sir.“

„Mit dem Herrn Criminaldirector?“

Der Mensch schien die Worte mit einer Beziehung zu sprechen. Holberg verfärbte sich leise.

„Aber ein hübschen Plätzchen haben Sie hier gewählt,“ fuhr der Andere leicht fort. „Sie erlauben doch, daß ich mich zu Ihnen setze?“

Ich konnte mich nicht mehr halten.

„Ich weiß nicht, mein Herr,“ sagte ich zu dem Menschen, „ob Sie vom Herrn von Holberg gehört haben, daß ich mit ihm zu sprechen habe?“

„Dam, Sir, Sie mit ihm? Dam –“

Er wollte aufstehen. Holberg, der vornehme Freiherr, der stolze Kaufmann, war verlegen geworden.

„Du erlaubst,“ sagte er zu mir, „daß ich vorher die Angelegenheit mit Mr. Jones abmache. Wir können dann unser Gespräch mit desto mehr Muße fortsetzen.“

„Wenn Du es wünschest, gewiß.“

„Darf ich bitten, mir zu folgen, Mr. Jones?“

Beide verließen die Laube. Ich blieb darin zurück, nachdenklich, gedrückt, vielleicht nicht minder gedrückt, als mein Freund. Er war so brav, er war ein wahrer Edelmann, aber auf seine kaufmännische Ehre stolzer, als auf seinen Adel; und was war das mit seinen kaufmännischen Büchern? – denn um ihn selbst hatte es sich gehandelt. Und welchen Einfluß, welche Gewalt übte dieser rohe, gemeine Amerikaner über ihn aus? Auch er war früher in Amerika gewesen; er hatte dort zuerst Vermögen erworben, den Grund zu seinem gegenwärtigen Reichthum gelegt. Er hatte dort noch lange Zeit nach seiner Rückkehr nach Deutschland Verbindungen unterhalten. Ich verlor mich in Vermuthungen, die nur leere bleiben konnten.

Die Beiden waren nicht weit gegangen. Ich sah sie durch die Zweige der Laube mit einander sprechen, dem Anscheine nach ruhig. Der Amerikaner schien sogar weniger übermüthig zu sein; Holberg hatte seine ganze Ruhe und Vornehmheit beibehalten, die [563] dem schönen Greise so wohl standen. Nach ungefähr zehn Minuten trennten sie sich.

„Also bis morgen, draußen,“ glaubte ich den Amerikaner noch sagen zu hören.

Holberg kehrte zu mir in die Laube zurück. Aber so wie er von dem Anderen sich abgewendet hatte, sah ich sein Gesicht blässer werden, die Züge erschlaffen, den Körper in einander sinken. In der Laube mußte er sich niedersetzen.

„Holberg, was hast Du mit dem Menschen gehabt?“

„Nichts, nichts.“

„Wir sind Freunde. Du mußt es mir sagen. Der gemeine Mensch wird Dein Dämon, der Dich vernichtet; er ist es schon.“

Er fuhr zusammen. „Was sagst Du da? Ja, ja, Du hast Recht.“

„So hast Du die Pflicht, Dich mir zu entdecken. Ich beschwöre Dich darum. Du mußt gerettet werden.“

„Kann ich es? Kann ich es?“

„Dich mir nicht entdecken? Oder nicht gerettet werden?“

„Beides nicht.“

Ich mußte ihm näher treten. „Er will morgen zu Dir kommen? “

„Ja.“

„Hinaus nach Holbergen?“

„Ja.“

Holbergen war ein reizendes Landgut, das mein Freund ungefähr zwei Meilen von der Stadt sich angelegt hatte. Seine Familie hielt sich im Sommer dort auf. Er kam oft, des Sonntags regelmäßig, hinüber.

„Deine Familie ist dort?“

„Ja.“

Seine Tochter fiel mir ein; allerdings lag der Gedanke an sie nahe genug. „Auch Deine Tochter ist draußen?“

„Mein Kind, mein Kind!“ rief er auf einmal im tiefsten Schmerze.

Die Tochter war sein Liebling; er nannte sie die Perle unter seinen Kindern.

„Holberg, Freund,“ sagte ich, „Dir steht wirklich ein Unglück bevor, ein schweres Unglück, Dir und Deinem Kinde. Darfst Du, kannst Du es mir nicht entdecken? Kann Dein treuester Freund nicht mit Dir berathen, wie es abzuwenden ist? “

Er starrte mich an; er stand wie abwesend. Zu einem Entschlusse konnte er auch jetzt nicht gelangen.

„Morgen,“ sagte er nach einer Weile. „Nein, nicht morgen, übermorgen. Ich muß vorher noch einmal Alles überdenken, nachsehen, ordnen. Uebermorgen komme ich zurück. Lebe wohl.“

Er ging; ruhiger und gefaßter, als ich nach dem letzten Sturme in seinem Innern erwartet hatte. Was ihn so niederdrückte, was ihn so aufregte, ich sann vergebens darüber nach. Nur Eins schien mir klarer zu sein: es lagen hier alte Beziehungen zwischen ihm und dem Amerikaner zum Grunde. Aber welche und von welcher Art, das war mir wieder unklar genug. Schien dagegen nicht noch Eins wieder klar genug zu sein, daß der Amerikaner ihm für alte Verbindlichkeiten sein Kind abkaufen wollte? Ich mußte, um Licht zu bekommen und vielleicht Hülfe bringen zu können, bis zum zweiten Tage, zum Montage, warten. Licht, ein entsetzliches Licht, sollte ich schon früher erhalten.

Am nächsten Abend, Sonntags, es war schon beinahe Nacht, brachte der Polizeidirector der Stadt einen Fremden zu mir. Er stellte ihn mir als einen englischen Polizeibeamten vor, der in einer dringenden Angelegenheit an ihn gewiesen sei, den er aber gleich zu mir führe, weil hier neben dem polizeilichen Einschreiten ebenso wesentlich sofort ein richterliches Verhandeln Noth thue.

Der englische Beamte theilte Folgendes mit: Von New-York war vor ungefähr einem halben Jahre ein Schiff mit Passagieren nach England abgegangen. Unter den Passagieren hatte sich ein Master Frank aus New-York befunden, ein Mann von ungefähr fünfunddreißig Jahren, dem Anscheine nach wohlhabend, nach seinen Gesprächen auf einer Reise nach Deutschland begriffen, woher seine nach Amerika ausgewanderten Eltern stammen. Er war mit dem Schiffe in Liverpool angekommen. Vier Wochen später war er auch, oder vielmehr ein Mann, der in seinem Alter gewesen und seinen Namen geführt, in einem Londoner Handlungshause erschienen, hatte dort New-Yorker, auf seinen Namen Frank lautende Wechsel vorgezeigt und deren nicht unbedeutenden Betrag gegen Quittung erhoben. Er war dabei zugleich im Besitze von völlig unverdächtigen Legitimationspapieren gewesen. Man hatte seitdem nichts weiter von ihm gehört. Der Zufall hatte es aber gewollt, daß vier Monate später, vor ungefähr drei Wochen, derselbe New-Yorker Kaufmann, der jene Wechsel auf den Londoner Bankier ausgestellt, diesen besuchte. Bei der Gelegenheit kam das Gespräch auf die Wechsel und auf Mr. Frank. Der Londoner beschrieb sein Aeußeres, der New-Yorker wollte es nicht zutreffend finden. Die Wechsel mit den Quittungen Frank’s wurden herbeigeholt. „Das hat Frank nicht, das hat ein Anderer geschrieben!“ rief der New-Yorker. Die Sache war von Wichtigkeit; ein Verbrechen schien jedenfalls vorzuliegen; der einmal angeregte Verdacht mußte weiter verfolgt werden. Es wurde der Polizei Anzeige gemacht, diese forschte nach, und es ergab sich zuerst, daß vor ungefähr fünf bis sechs Monaten im Hafen von Liverpool die Leiche eines fremden, völlig unbekannten Mannes von ungefähr fünfunddreißig Jahren aufgefunden war. Der Verstorbene war mit einem Taschentuche, das man noch fest zusammengezogen um seinen Hals fand, erdrosselt gewesen. Papiere oder Werthsachen fand man nicht bei der Leiche, auch sonst nichts, das über ihn hätte Auskunft geben können; nur trug seine Leibwäsche den Buchstaben F. Alle Nachforschungen nach ihm und dem Verbrechen, das an ihm verübt sein mußte, waren damals fruchtlos geblieben. Jetzt aber wurde ferner Folgendes festgestellt: Die Leiche war ungefähr acht Tage nach der Ankunft des nämlichen Schiffes entdeckt, auf welchem sich der Mr. Frank befunden hatte. Auf dem Schiffe hatte ein anderer junger Mann, in dem nämlichen Alter wie Frank, die Ueberfahrt gemacht, ein Deutscher, Namens Johansen, der sich mehrere Jahre in Amerika aufgehalten hatte, wahrscheinlich als Mitglied einer herumziehenden Gaukler- oder Seiltänzerbande. Auf dem Schiffe hatte er wenigstens die Gesellschaft vielfach durch Kunststücke solcher Leute zu unterhalten gewußt. Er war deshalb auch gern gesehen gewesen, und besonders hatte Mr. Frank sich an ihn angeschlossen. Beide waren in Liverpool zusammen an’s Land gestiegen. Von da an hatte man nichts wieder von ihnen gesehen und gehört, bis, nachdem ein Mr. Frank die Wechsel in London präsentirt, der New-Yorker Kaufmann jetzt die Zweifel an der Echtheit dieses Mr. Frank angeregt hatte. Der Verdacht wollte sich geltend machen, daß Frank ermordet und daß jener Johansen der Mörder sei, der den Ermordeten seiner Papiere und Sachen beraubt und seinen Namen angenommen habe. Der Verdacht wurde durch einen andern Umstand bestätigt. Bei weiteren Nachforschungen wiesen nämlich die Schiffsregister nach, daß am zweiten Tage nach der Eincassirung der Wechsel ein Mr. Jones von Dover nach Calais gefahren sei. Wenn nun auch der Name Jones in England ein sehr gewöhnlicher war, so mußte dennoch andererseits beachtet werden, daß der Vater des Mr. Frank in Amerika lange Zeit den Namen Jones geführt und auch unter dieser Firma Handelsgeschäfte dort betrieben hatte. Jedenfalls waren weitere Verfolgungen der so aufgefundenen Spuren geboten. Man unterzog sich ihnen und, Dank der strengen französischen Fremdencontrole, man fand, daß ein Amerikaner, Namens Jones, gerade zu der Zeit, um die es sich handelte, in Calais angekommen, sich einige Zeit in Paris aufgehalten und dann nach Deutschland weiter gereist war.

Als Ziel seiner Reise hatte er die Handelsstadt angegeben, in der wir uns befanden. Der englische Beamte war ihm sofort nachgereist. Er war vor einer Stunde angekommen, von dem Polizeidirector hatte er erfahren, daß der Gesuchte hier sei.

Was jetzt weiter zu thun und in welcher Weise zunächst zu verfahren sei, mußte ich mich fragen. Aber andere Gedanken hatten zu allernächst mich ergriffen, fast überwältigt.

Ein Mr. Frank war in New-York der Compagnon Holberg’s gewesen, freilich unter einem anderen Namen, unter der Firma Schüler und Compagnie. Ihm hatte Holberg sein Glück zu verdanken gehabt; durch ihn hatte er dann freilich, als er schon nach Europa zurückgekehrt war, einen bedeutenden Theil seines Vermögens wieder verloren. Und erst da hatte er den wahren Namen Frank seines früheren Compagnons erfahren, und daß dieser ein großer Schurke war, den seine Betrügereien genöthigt hatten, aus Europa nach Amerika zu flüchten und dort eben so oft Aufenthalt wie Namen zu wechseln. Er war vor einigen Jahren, wie es hieß, in Armuth gestorben. Er hatte einen Sohn hinterlassen, der jetzt in dem Alter von etwa fünfunddreißig Jahren stehen konnte, [564] und von dem Nachrichten eingelaufen waren, daß er ein würdiger Sohn seines Vaters sei.

Das Alles wußte ich aus Mittheilungen Holberg’s, der allerdings in Beziehung auf Einzelnheiten seines früheren Verhältnisses zu Frank immer Zurückhaltung gezeigt hatte. War der Ermordete der Sohn Frank’s? Hatte er hierher, zu Holberg, gewollt? Gar jener gemeine Amerikaner Jones der Mörder, der des Namens und der Papiere seines Opfers sich bemächtigt halte? der alte Verhältnisse, alte Verbindlichkeiten, vielleicht noch mehr geltend machen wollte?

Und wenn das Alles so war, was half es meinem armen Freunde? Mußte ich nicht annehmen, daß es auch bei ihm sich um ein Verbrechen handle? Und war dieses nicht um so mehr bloßgestellt, wenn der Verbrecher sein Verfolger war? War er nicht schon dadurch, wenngleich nur äußerlich, in die Verbrechen jenes Menschen mit hinein verwickelt? Aber es mußte gehandelt werden, schleunig, sofort, und ich mußte als Criminalrichter einschreiten. Ich durfte dabei der Freund bleiben.

Der Polizeidirector hatte Recht gehabt. Zugleich mit dem polizeilichen Vorangehen that ebenso sehr ein gerichtliches Verhandeln Noth. Bestätigte sich der einmal vorhandene Verdacht, so mußte der Verfolgte sofort bei dem ersten Angriffe gerichtlich vernommen werden. Die ersten Fragen an einen zumal überraschten Verbrecher sind nur zu oft entscheidend für die ganze fernere Untersuchung. Der englische Polizeibeamte hatte ein ziemlich genaues Signalement des Verfolgten bei sich; es war nach den Angaben in dem Londoner Bankierhause aufgenommen, bei dem er seine Wechsel realisirt hatte. Es paßte vollständig auf den Mr. Jones. In Verbindung mit den übrigen Momenten war es danach völlig gerechtfertigt, auf der Stelle, noch in der Nacht, bei Mr. Jones einen polizeilichen Besuch zu machen; der Polizeidirector mußte dazu den englischen Beamten zuziehen. Meine, des Criminalrichters, Anwesenheit war eine Garantie mehr für die Gesetzmäßigkeit des Verfahrens.

So hatte auch der Polizeidirector sich die Sache überlegt und er hatte schon vorher einen seiner Beamten zu der Verfolgung von Jones geschickt, um sich, ohne alles Aufsehen, zu erkundigen, ob dieser zu Hause sei.

Der Beamte brachte in unsere Berathungen die Nachricht, der Gesuchte sei nicht da; er sei am Nachmittage ausgeritten und nicht zurückgekehrt, und man wisse nicht, wo er sei. Ich wußte es wohl, wenigstens wohin er geritten sei, er mußte auch noch dort sein.

Er hatte Holberg einen Besuch auf Holbergen angesagt. Schon früher war er mehrere Male draußen gewesen und hatte dann, wenn es ihm zu spät zur Rückkehr nach der Stadt geworden war, die Nacht in einem Gasthofe logirt, der ungefähr zehn Minuten von dem Gute an der Chaussee lag. Unzweifelhaft war er auch jetzt da. Ich theilte es den beiden Polizeibeamten mit. Es wurde beschlossen, ihn dort aufzusuchen. Seine Ueberraschung mußte um so größer sein, mithin auch, wenn er der Verbrecher war, seine Verwirrung. Seine Wohnung in der Stadt sollte unterdeß unter scharfe polizeiliche Beobachtung gestellt werden.

Wir brachen so schnell wie möglich nach Holbergen auf. Wir fuhren; einige Gensd’armen und Polizeidiener zu Pferde begleiteten uns. Es war eine warme, stille, ziemlich klare Sommernacht. Gegen Mitternacht hatten wir die Stadt verlassen und bald nach ein Uhr in der Nacht erreichten wir den Gasthof bei Holbergen; er lag diesseits des Schlosses, unmittelbar an der Chaussee. Das Haus lag im tiefsten Dunkel vor uns; man gewahrte auch nicht die geringste Bewegung. Unsere Ankunft war nicht vernommen worden.

Der Kutscher mußte vom Bocke steigen und an die Hausthür klopfen, als wenn noch späte Gäste angekommen seien, die Einlaß begehrten. Es war mir unterdeß schwer genug auf dem Herzen. Auf dem ganzen Wege hatte sich eine immer größere, drückendere Angst meiner bemächtigt; meine Gedanken konnten das Schicksal des Menschen, den wir verfolgten, von dem Holberg’s nicht trennen. Und daß der widerwärtige, gemeine Mensch ein Verbrecher war, das wollte mir immer gewisser werden, ich konnte immer weniger daran zweifeln.

Die Thür des Gasthofs wurde geöffnet. Wir traten in das Haus wie verspätete Gäste. Die Gensd’armen und Polizeibeamten hielten sich zurück. Der Wirth erschien und wurde nach dem Herrn Jones gefragt. Er kannte ihn. Der Amerikaner logirte dort, aber er war nicht im Hause. Es war des Abends gegen sechs Uhr angekommen, hatte sich zum Schlosse Holbergen begeben, bei dem schönen Wetter zu Fuße, und war noch nicht zurückgekehrt. Das war auffallend; die Nacht war schon bis um halb zwei Uhr vorgerückt.

Ich fragte den Wirth, ob Herr Jones, wenn er sonst auf Holbergen gewesen, wohl so spät dageblieben sei.

„Niemals,“ war die Antwort.

„Ob heute auf dem Schlosse etwas Besonderes sei, vielleicht ein Fest gefeiert wurde?“

„Auch das nicht soviel er wisse.“

Mir wollte es unheimlicher werden. Da mußte sich etwas ereignet haben. Sollte der Mensch jenen entsetzlichen Handel erzwungen haben? Sollte die Perle der braven Familie –? Ich durfte den Gedanken nicht ausdenken.

„Doch etwas,“ fuhr der Wirth fort, „war heute am Schlosse los. Vorgestern Abend war in dem Dorfe Alsleben hinter Holbergen eine Seiltänzerbande angekommen. Der Herr von Holberg hat sie gestern Abend auf dem Hofe spielen lassen, um seinen Leuten ein Vergnügen zu machen. Meine Leute waren auch hin.“

Es konnte an dem Ausbleiben des Amerikaners nichts ändern.

Ich mußte dennoch unwillkürlich stutzen, als eine Seiltänzerbande erwähnt wurde. Auch der, den wir verfolgten, sollte zu einer solchen Bande gehört haben. Wir überlegten, was weiter zu thun sei. Sollten wir die Rückkehr des Amerikaners abwarten, oder ihn geradezu im Schlosse aufsuchen? Es wurde ein Mittelweg beschlossen. Ich, als Bekannter der Holbergschen Familie, sollte mich allein, nur unter Begleitung eines der Polizeidiener, der bürgerliche Kleidung trug, in das Schloß begeben, dort Erkundigungen einziehen, und je nach dem Befunde zum Wirthshause zurückkehren oder durch den Polizeidiener die anderen Beamten herbeirufen lassen.

Ich machte mich mit dem Diener auf den Weg, in der schönen, ruhigen Nacht ebenfalls zu Fuße. Weg, Schloß und Umgebung waren mir bekannt; ich war oft da gewesen. Wir mußten eine Zeitlang die Chaussee weiter hinaufgehen; dann bog eine gerade Pappelallee links ab und führte in vier bis fünf Minuten zum Schlosse. Das Schloß gehörte zu einem großen Gute, es lag mitten in einem weitläufigen Park; dieser erstreckte sich bis an die Chaussee, und wir hatten ihn in der Pappelallee schon zu beiden Seiten. Jenseits des Schlosses zog er sich bis zu der Feldmark des Dorfes Alsleben hin. Das Dorf lag eine starke Viertelstunde von dem Schlosse entfernt.

Ich erreichte mit meinem Begleiter das Schloß; es war noch hell darin, in mehreren Zimmern brannte Licht. Auch unter dem großen Eingangsportale war es hell. Es standen Leute dort, im Hause an den hell erleuchteten Fenstern glaubte ich Menschen hin und her gehen zu sehen. Und es war schon nahe an zwei Uhr Morgens. In einer Stunde, noch früher, mußte der Tag grauen.

Hier hatte sich etwas Besonderes zugetragen, oder man hatte es noch vor. Eine peinigende Angst ergriff mich; ich mußte meine Schritte beschleunigen. Wir erreichten das Portal. Die Menschen, die dort standen, waren Leute, die zum Schlosse gehörten, ein paar Bediente und einige Mägde, welche in Gruppen mit einander sprachen. Sie kannten mich, und einer der Bedienten trat auf mich zu.

„Wissen der Herr Director etwas von dem gnädigen Herrn?“

„Wie so?“

„Er ist um zehn Uhr am Abend ausgegangen und noch immer nicht zurück.“

„Wohin war er gegangen?“

„In den Park, um noch zu promeniren.“

„Hat man ihn gesucht?“

„Sie suchen noch nach ihm. Die gnädige Frau hat alle Anderen ausgeschickt.“

„Die gnädige Frau ist zu Hause?“

„Sie ist oben in ihrem Zimmer.“

„Führen Sie mich zu ihr.“

[577] Der Bediente führte mich in das Haus, in das Zimmer der Hausfrau. Den Polizeidiener ließ ich unten. Die Frau von Holberg ging in großer Aufregung in dem Zimmer umher; sie fuhr heftig erschrocken zusammen, als sie mich plötzlich sah. Dann trat sie mir doch, wie einem Hülfe, Schutz, Rath Bringenden entgegen. Sie war sehr blaß. Den Bedienten hatte ich unterwegs nicht weiter befragt. Bei meinem Eintreten in das Zimmer hatte er sich entfernt. Die Frau von Holberg war allein.

„Gnädige Frau, was ist hier vorgefallen?“ rief ich ihr entgegen.

„Wissen Sie nichts von meinem Mann?“ fragte sie hastig.

„Nichts, als daß die Bedienten mir sagten, er werde gesucht.“

„Er ist seit einer Stunde fort.“

„Aber nur auf einer Promenade. Die Nacht ist schön –“

„Nein, nein,“ rief sie. „Das ist es nicht. Es ist ein Unglück vorgefallen.“

„Welcher Art könnte es sein?“

Sie wollte mir etwas sagen. Sie stockte und wandte sich händeringend von mir.

„Gnädige Frau, hier ist wirklich ein Unglück vorgefallen. Theilen Sie es mir mit.“

Sie bedeckte ihr Gesicht mit den Händen.

„Sie müssen es mir mittheilen. Ich bin Holberg’s nächster Freund; ich bin Ihr Freund.“

Sie schüttelte den Kopf.

„Gnädige Frau, Sie erschraken, als Sie mich sahen. Es fuhr mir durch das Herz. Sie müssen mir dennoch Alles sagen, gerade darum.“

Sie wandte sich zu mir; ihr Gesicht war leichenblaß. Sie sah mich entsetzt und doch fragend und hülfesuchend an. Einen Entschluß hatte sie noch nicht gefaßt, noch nicht fassen können. Wie Schweres mußte sie drücken! Ich mußte ihr entgegenkommen.

„Lassen Sie uns mit Ruhe sprechen, mit Ruhe überlegen, gnädige Frau. Theilen Sie mir mit, was hier vorgefallen ist.“

Sie konnte es nicht, nicht sogleich.

„Was führt Sie hierher?“ fragte sie in ihrer bebenden Angst. „So unerwartet? Mitten in der Nacht?“

„Ich werde es Ihnen nachher mittheilen.“

„Nicht sogleich? Warum nicht? Wen betrifft es? Meinen –?“

„Es betrifft nicht Ihren Mann, Niemanden der Ihrigen. Beruhigen Sie sich darüber völlig. Erzählen Sie mir jetzt.“

Sie konnte sich etwas mehr beruhigen.

„Setzen wir uns. Ich werde Ihnen erzählen. O, könnten Sie mir, könnten Sie uns Hülfe bringen! Sie wissen, ich bin mit den Kindern schon seit mehreren Wochen hier. Mein Mann kommt öfter zu uns heraus. Er kam auch heute – wir haben schon Morgen – er kam auch gestern Abend. Er war sehr still, verstimmt, gedrückt. Auf meine Frage, was ihm fehle, sprach er nur im Allgemeinen von unangenehmen Geschäften. Nachher wurde er mittheilender. Er hatte zum Amüsement der Kinder und der Leute des Gutes und der Nachbarschaft einer Truppe von Seiltänzern und Gauklern erlaubt, ihre Kunststücke auf dem Schloßhofe zu machen. Er kam selbst hin. Die Kinder freuten sich, und er wurde munter mit ihnen. Auf einmal, gegen Abend, kam Herr Jones hier an. Sie kennen ihn?“

„Ich kenne ihn,“ sagte ich. „Aber,“ mußte ich sie zugleich fragen, „hatte Holberg Ihnen seine Ankunft nicht vorher angekündigt?“

„Nein. – Es fällt Ihnen auf?“

„Fahren Sie fort, wenn ich bitten darf.“

„Er blieb eine Weile in unserer Gesellschaft, dann ging mein Mann mit ihm allein in sein Cabinet. Sie waren sehr lange dort. Erst nach halb zehn Uhr kehrte mein Mann in das Familienzimmer zurück. Er kam allein und sah fast wie zerstört aus. Ich konnte ihn in Gegenwart der Kinder nicht fragen, was ihm fehle. Ich fragte ihn nur nach Jones, der mit ihm zum Abendbrod hatte zurückkommen wollen. Er sei fortgegangen, gab er mir zur Antwort; es sei ihm zu spät geworden. Wir setzten uns darauf zum Abendessen, aber mein Mann konnte nichts anrühren. Er starrte nur schweigend vor sich hin. So hatte ich ihn noch nie gesehen, auch die Kinder nicht. Es herrschte die peinlichste Todtenstille im Zimmer. Niemand konnte etwas verzehren. Auf einmal sprang er vom Tische auf; er nahm seinen Hut, um das Zimmer zu verlassen.

„Wo willst Du hingehen?“ fragte ich ihn.

„Ich muß eine Promenade machen, im Park.“

„In so später Stunde?“

„Ich habe Kopfschmerzen; in der frischen Luft wird mir besser werden.“

Ich begleitete ihn aus der Thür; draußen im Gange waren wir allein.

„Holberg, Dir fehlt etwas Anderes?“

„Nein, nein.“

„Du hast etwas mit dem unheimlichen Menschen gehabt. Seine Gegenwart war Dir schon längst unangenehm, drückend. Es ist ein Geheimniß zwischen Euch, daß Dir Sorgen macht. Willst Du Deine Sorgen nicht mit Deiner Frau theilen?“

[578] Er konnte meinen Bitten nicht ferner widerstehen.

„Ja, der Mensch ist mein Unglück, unser Aller.“

„Und was hast Du mit ihm?“

„Ich habe alte Verbindlichkeiten gegen ihn. Ich kann sie nicht lösen. Er will unser Kind dafür.“

„Therese? “

„Unser braves, gutes, engelreines Kind.“

„Der entsetzliche Mensch?“

„Der Betrüger, der Schurke! “

„Für alte Verbindlichkeiten? Gieb ihm Alles, Alles an Geld und Vermögen, was wir haben, wenn wir nur unser Kind dafür retten können.“

„Ich kann ihn mit all’ unserem Geld und Gut nicht abkaufen.“

„Grosser Gott, was ist es denn?“

„Morgen. Ich muß mich sammeln, ehe ich es Dir mittheilen kann. Morgen sollst Du es erfahren.“

Ich wollte ihn beschwören, mich nicht in der fürchterlichsten Ungewißheit zurückzulassen. Er stürzte fort. Ich konnte ihn nicht halten, wenn ich nicht vor den Kindern und den Domestiken Alles bloßstellen wollte. Er ist noch nicht zurückgekehrt. Als es Mitternacht geworden war, sandte ich Leute aus, ihn zu suchen, sie hatten ihn nicht gefunden; ich schickte mehrere aus, zu genauerer Nachsuchung in weiterer Ferne. Die Leute waren selbst unruhig; sein gedrücktes, verstörtes Wesen war ihnen aufgefallen. Keiner hat mir Nachricht über ihn bringen können. Darf ich noch die Hoffnung liegen, daß er sich nicht ein Leid zugefügt habe? Sich – oder?“

Sie stockte.

„Oder?“ mußte ich fragen, und eine schreckliche Ahnung ergriff mich.

Sie kämpfte mit sich, ob sie mir antworten, ob sie die schwere Last, die sie noch drückte, von sich abwälzen solle. Sie konnte es nicht, wenigstens nicht ganz. Ich sah es ihr an.

„Jones!“ sagte sie nur. „Der Amerikaner.“

Es war meine Ahnung gewesen. Er war nicht im Schlosse und war auch nicht zu dem Gasthofe zurückgekehrt. Sein Pferd war noch dort.

„Wie kommen Sie auf ihn?“ fragte ich dennoch.

„Einer der Gutsknechte hatte ihn noch spät im Parke gesehen.“

„Wann?“

„Gegen zehn Uhr. Der Mann wußte die Stunde nicht genau. Es muß ungefähr um dieselbe Zeit gewesen sein, als mein Mann fortgegangen war. Der Amerikaner hatte mit einem der Seiltänzer gesprochen.“

„Mit einem Seiltänzer?“ Eine sonderbare Helle wollte in mir auftauchen. „Wo war das gewesen? “

„Hinten im Park, nach der Grenze von Alsleben hin.“

„In dem Dorfe haben die Seiltänzer ihr Quartier?“

„Ja, bis morgen.“

„Was hatten die Beiden gesprochen?“

„Der Knecht hat es nicht verstanden.“

„Können Sie auf der Stelle den Knecht zu mir schicken?“

„Er ist mit den Uebrigen zum Aufsuchen meines Mannes fort. Aber welches Gewicht legen Sie auf den Umstand?“

Ich mußte ihr jetzt mittheilen, was mich hergeführt hatte.

„Der Amerikaner ist wahrscheinlich ein Betrüger, ein Mitglied einer herumziehenden Gaukler- und Seiltänzerbande, und der Mörder des Mannes, dessen Namen er führt und dessen wahre oder fingirte Rechte er auch gegen Holberg geltend machen will.

Ein englischer Polizeibeamter ist mit mir zu seiner Verfolgung herübergekommen. Er wartet draußen im Gasthofe an der Chaussee.“

Ein neuer Schreck halte die Frau ergriffen; dann lebte doch ein neuer Hoffnungsschimmer in ihr auf. Auch sie hatte nur jetzt noch etwas mitzutheilen. Sie hatte bisher nicht darauf geachtet; auf einmal wurde es ihr wichtig, und auch mir.

Der Amerikaner war zu dem Spiele der Seiltänzer auf den Hof gekommen. Er hatte, was ihr gleichfalls jetzt erst auffiel, nur mit Widerstreben und nur auf kurze Zeit von ihrem Manne sich hinführen lassen. Einer der Gaukler hatte ihn gleich nachher fixirt. Es war ein großer, fast riesiger, kräftiger Mann, mit einem großen, schwarzen Barte, rohen Zügen, stechenden Augen. Als, schon nach wenigen Minuten, auf das Drängen des Amerikaners, Holberg mit diesem fortgegangen, war der Mensch ihnen gefolgt; er war an den Amerikaner herangetreten und hatte ihm, wie um eine Gabe bittend, die Mütze hingehalten. Der Amerikaner hatte ihm schnell ein Geldstück in die Mütze geworfen und sich dann in das Schloß entfernt. Die Frau von Holberg wollte dabei bemerkt haben, daß der Amerikaner sich verfärbt habe und in seiner Hast ihr verwirrt vorgekommen sei. Auffallend war ihr auch noch das Benehmen des Seiltänzers, den ihr Mann vollständig für die ganze Vorstellung bezahlt und der auch nur von dem Amerikaner eine Gabe gefordert hatte.

Das erzählte sie mir. Es gab mir ein neues Licht auf den Weg, den ich als Criminalbeamter zu nehmen hatte, eine neue Spur für die Verfolgung des Verbrechers. Aber auch zu Gunsten des Freundes, dessen Schicksal sich mir mit jedem Augenblicke trüber gestalten wollte? Vielleicht war das Eine mit dem Anderen in eine neue Verbindung getreten. Ich mußte vor allen Dingen dieser letzten Spur weiter nachgehen. Ich mußte sofort den Gaukler befragen und überraschen.

Den mitgebrachten Polizeidiener sandte ich zu dem Gasthofe zurück, mit dem Ersuchen an den Polizeidirector, zur Verfolgung des Amerikaners außer dem Gasthofe auch noch das Schloß bewachen zu lassen und mir nach Alsleben einige Gensd’armen nachzusenden. Dann ließ ich mich durch einen Bedienten des Schlosses nach dem Dorfe Alsleben führen, in dem die Seiltänzer sich befanden. Der Diener brachte mich in die elendeste Schenke des Dorfes. Dort lagen die Künstler, die auch in ihrer Weise durch die Kunst die Welt darstellen, freilich auf dem Seile, also nur etwas mehr in der Luft – dort lagen sie in dem elendesten Raum des Hauses, in der Scheune und in den leeren Ställen zu beiden Seiten der Scheune. Ihre Ruhestätte waren Stroh, Steine, Lumpen, Dünger. Der Schnaps hatte sie in den Schlaf gewiegt, manchen auch wohl der Hunger.

Der Tag graute, als ich an der Schenke angekommen war.

Ich ließ den Wirth wecken und fragte ihn, ob der Anführer der Truppe noch da sei. Jener riesige Gaukler, der an den Amerikaner herangetreten war, war der Anführer, wie mir die Baronin Holberg gesagt hatte. Sie seien alle in der Scheune, sagte der Wirth, auch der Signor Trapani Simo. So ließ also der große Künstler sich nennen. Ich fragte, wann der Signor am gestrigen Abende oder in der vergangenen Rächt nach Hause gekommen sei.

Sie seien nach Beendigung der Kunststücke auf dem Schloßhofe Alle zusammen zurückgekommen und sofort in die Scheune gegangen. Dort habe er nach Dunkelwerden nichts weiter von ihnen gehört. Sie wollten um sechs Uhr Morgens aufbrechen, da hätten sie sich wohl früh zur Ruhe gelegt. Ob Einer später die Scheune wieder verlassen habe, wußte der Wirth nicht; die Scheune hatte einen besonderen Ausgang unmittelbar in’s Freie.

Die Gensd’armen waren vom Gasthofe schnell angekommen. Ich trat mit ihnen in die Scheune. Gerade ging die Sonne auf; ihre ersten Strahlen fielen durch ein breites Fenster in den Raum.

Welch ein Bild beschienen, zeigten sie! Halb bekleidet, halb nackt lagen über ein Dutzend menschlicher Gestalten am Boden, bunt durch einander; Männer, Weiber, Kinder; kräftige Glieder, abgemagerte und abgehärmte Figuren, vom Schnaps des gestrigen Tages noch geröthete, von Hunger und Kummer gebleichte Gesichter, Eine leichenblasse Frau, einen Säugling an der Brust, in der Brust die Schwindsucht, über Brust und Kind unordentlich dichte, lange, glänzend schwarze Haare herabhängend, vergesse ich nie. Auch nicht ein Mädchen von zwölf bis dreizehn Jahren, schön wie ein Engel, aber auch bleich wie der Todesengel. Man konnte kein schöneres schlafendes Gesicht sehen. Wie könnte ich je das ganze Bild vergessen! Die Frau schlief nicht, sie war die Erste, die uns sah. gleich bei unserem Eintreten.

„Gensd’armen!“ schrie sie laut auf.

Sie mochte wohl noch mehr als die Auszehrung in der unglücklichen Brust tragen. Im Nu waren sie Alle aufgesprungen, nur die Kinder suchten sich zu verkriechen, nicht unter Decken, denn die hatten sie nicht, aber in den ärmlichen Lumpen, mit denen sie ihre Blöße halb bedeckt hielten. Ein riesiger Mann mit schwarzem Barte stand vor mir. Er wäre ein schöner Mann gewesen, wenn er nicht gar zu verkommen und gemein ausgesehen hätte. Er stand halb drohend und halb erschrocken da. Er war der Signor Trapani Simo, der, den ich suchte. Ich redete ihn deutsch an, trotz seines italienischen Namens.

[579] „Ich bin Signor Trapani Simo!“ antwortete er stolz.

„Richtig, Sie suchte ich. Folgen Sie mir. Ihr Uebrigen rührt Euch nicht von hier. Gensd’arm, Sie sind mir dafür verantwortlich.“

Einer der Gensd’armen blieb in der Scheune zurück. Der andere mußte den Gaukler mir in eine Stube der Schenke nachführen. Dort befragte ich ihn.

„Wie heißen Sie jetzt?“

Er war auffallend kleinlaut geworden.

„Heinrich Hochmann.“

„Aus –?“

„Aus Sachsen.“

„Treiben Sie Ihr Handwerk schon lange?“

„Meine Kunst,“ sagte er.

Er war fast ängstlich geworden, aber Künstler wollte er bleiben.

„Ihre Kunst denn?“

„Seit meinen Kinderjahren. Mein Vater war gleichfalls Künstler.“

„Kennen Sie Jemanden Namens Johansen?“

„Nein,“ sagte er fest, bestimmt, aber zu fest und zu bestimmt für die bis jetzt völlig beziehungslose Frage. Er hatte sich auf sie vorbereitet und mußte für die Antwort sich dennoch Gewalt anthun. Ein Geheimniß lag sicher da vor. Durfte ich auch schon eine Schuld annehmen? Aber welche?

„Waren Sie in Amerika?“ fuhr ich fort.

„Nein.“ Er war schon sicherer geworden.

„Waren Sie nie außerhalb Deutschlands?“

„O ja, oft, in Italien, in den Niederlanden, in Ungarn, Frankreich –“

„Und niemals in Amerika?“

„Niemals.“

„Sie haben heute auf dem benachbarten Schlosse Ihre Künste producirt?“

„Ich habe eine Vorstellung gegeben.“

„Bei der Gelegenheit sind Sie an einen fremden Herrn herangetreten, der zum Besuch kam?“

„Ich erinnere mich.“

„Sie haben eine Gabe von ihm gefordert?“

„Ein Zutrittsgeld. Er war ein fremder, vornehmer Herr.“

Wir wurden unterbrochen. Ein Polizeidiener trat in die Stube, eilig, mit einem wichtigen, zugleich Schrecken verkündenden Gesichte. Er bat mich allein sprechen zu dürfen. Ich verließ mit ihm das Zimmer. Bei dem Gaukler ließ ich den Gensd’armen zurück. Der Polizeidiener kam vom Schlosse; der dort eingetroffene Polizeidirector hatte ihn zu mir geschickt. Er überbrachte mir eine Nachricht, die mich eben so sehr überraschte als erschreckte.

„Der Amerikaner, der gesucht wird, ist todt gefunden.“

„Und der Herr von Holberg?“ war meine Frage, die die höchste Angst mir eingab.

„Von ihm ist noch immer keine Nachricht da.“

Ein furchtbarer Schlag hatte mich getroffen. Ich durfte es nicht zeigen.

„Wo ist der Amerikaner gefunden?“

„Im Schloßparke.“

„In welcher Gegend?“

„Hinten am Parke fließt ein Bach vorbei, eigentlich ein Fluß, er ist tief und reißend.“

„So ist es; ich kenne ihn.“

„Vom Parke aus führt eine hölzerne Brücke mit einem verschlossenen Thore hinüber.“

„Nicht weit von der Chaussee, nach dem Gasthofe hin.“

„Dreißig Schritte unterhalb der Brücke wurde der Leichnam gefunden. Er lag in den Zweigen einer Weide, die in das Wasser hineinreichten. Der Strom mußte ihn dahin getrieben haben.“

„Wer hat ihn gefunden?“

„Einer der Diener vom Schlosse, beim Nachsuchen nach dem Herrn.“

„Wann?“

„Vor etwa einer halben Stunde, als es angefangen hatte, hell zu werden.“

„Hat man die Leiche aus dem Wasser genommen?“

„Auf Befehl des Herrn Polizeidirectors, der sogleich herbeigerufen war und hineilte.“

„Hat man Verletzungen, Spuren von Gewalt gefunden?“

„Keine.“

„Eine Beraubung des Todten?“

„Durchaus nicht. Uhr und Börse waren noch in den Taschen.“

Und Holberg war noch immer nicht wieder da, man hatte noch nicht die geringste Nachricht von ihm! Ich sprach es nicht aus, desto schwerer lastete der Gedanke auf mir.

„Ich werde sogleich zum Schlosse kommen,“ sandte ich den Polizeidiener dahin zurück.

Ein anderer Gedanke war mir plötzlich gekommen. Der Gaukler, Heinrich Hochmann, der in der Welt herumstreichende Mann des gemeinen Aussehens, der nach Allem mit dem verstorbenen Amerikaner bekannt gewesen sein mußte, der ihn dennoch abgeleugnet, der bei meinem und der Gensd’armen Erscheinen sich erschreckt hatte! Wie hatte ich auch an Holberg denken können, den stolzen, edlen, ritterlichen Mann? Wie konnte er ein Mörder, ein gemeiner Meuchelmörder sein? Freilich was hätte jenen bewegen können, den Amerikaner ums Leben zu bringen? Umgekehrt hätte es wohl in den Interessen des Amerikaners liegen mögen, den Gaukler, den ehemaligen Cameraden aus dem Wege zu räumen, der ihn verrathen, sein ganzes Glück vernichten, ihn sogar auf das Schaffot bringen konnte. Indeß die beiden ehemaligen Gesellen konnten auch in Streit gerathen sein, mit einander gekämpft haben, und in dem Kampfe konnte der riesige Seiltänzer den Gegner, dessen er sich vielleicht nicht anders zu erwehren wußte, in das Wasser geworfen haben.

Aber mußte denn nothwendig ein Mord, nur ein gewaltsamer Mord vorliegen? Ueber Alles, auch über das letztere, mußte mir eine sofortige Fortsetzung der abgebrochenen Befragung des Gauklers, wenn auch nicht ein klares Licht, eine bestimmte Auskunft, doch irgend einen Anhalt zu weiterer Aufklärung geben. Ich traute mir wenigstens so viel Gewandtheit des Inquirirens und der Beobachtung zu, um für meine innere Ueberzeugung Anzeichen darüber zu gewinnen, ob, wenn eine gewaltsame Tödtung verübt worden, der Gaukler der Thäter sei oder nicht.

Ich kehrte zu ihm zurück und konnte die gleichgültigste Miene von der Welt annehmen. Er empfing mich mit der nämlichen Ruhe und Kaltblütigkeit. Aber aus dem äußersten Winkel seines Auges sah er mich forschend an, und tief hinten im Auge konnte eine Angst sich nicht verbergen. Wir hatten einen Kampf mit einander begonnen, den Kampf des Inquirenten mit dem Inquisiten.

Wie viele hundert Mal hatte ich ihn schon durchgekämpft! Meist war ich der Sieger geblieben. Wie oft aber auch war der Verbrecher siegreich daraus hervorgegangen, frech und verstockt, oder listig und gewandt! Wenn ich ihm nachher das ganz oder gewöhnlich nur vorläufig freisprechende Urtheil publiciren mußte, dann hatte der lauter und freier triumphirende Blick mir wohl deutlich genug meine Niederlage verkündet, bei der es doch nun einmal bleiben mußte. Aber ich hatte redlich meine Schuldigkeit gethan, als Richter und auch als Mensch, und ich dankte doch Gott, daß ich – kein Geschworner war.

Wer sollte jetzt der Sieger bleiben? Jenes Lauern aus dem Augenwinkel, jene Angst hinten im Auge, sie waren schon zwei Kampfesblößen, die er sich gegeben hatte. Er hatte vorhin das etwas Außerordentliches und Schreckhaftes verkündende Gesicht des Polizeidieners gesehen. Nur sein Schuldbewußtsein konnte die Nachricht, die mir mitgetheilt worden, auf sich beziehen. Aber hatte ich nicht vielleicht in demselben Augenblicke auch ihm schon eine Blöße gegeben? Es war mir um das Herz wahrhaftig immer schwer und traurig genug gewesen, wenn ich mich als Inquirent von der Schuld eines Menschen überzeugen mußte. Aber jenes Zeichen eines Schuldbewusstsein wollte mir das Herz leichter machen. Deutete ich es richtig, so war mein Freund Holberg kein Schuldiger. Ich, knüpfte das Verhör mit ihm wieder an, wo ich es hatte abbrechen müssen. Er nahm eben so ruhig denselben Faden wieder auf.

„Wir sprachen von dem Herrn, dem Sie eine Gabe oder ein Zuschauergeld abforderten.“

„Er war ein fremder Herr, der bezahlen konnte.“

„Und Sie kannten ihn nicht?“

„Ich kannte ihn nicht.“

„Er hat Sie erkannt!“

„Hat er das gesagt?“ .

„Sein Blick hat es Ihnen selbst gesagt.“

„Ich habe den Blick nicht gesehen.“

[580] „Später, als es dunkler Abend war, haben Sie mit ihm gesprochen.“

„Ich?“ – Er sprach das Wort völlig unbefangen.

„Gewiß, Sie.“

„Wo wäre das gewesen?“

„Im Schloßpark.“

„Ich war nicht in dem Park.“

„In der Nähe des Flusses, der den Park auch von der Feldmark dieses Dorfs trennt.“

Ich hatte ihn fest und scharf angesehen, absichtlich, daß er es merken, das Stechen meines Blicks gleichsam fühlen sollte. Er mußte wirklich plötzlich die Augen niederschlagen. Aber es dauerte keine halbe Secunde lang.

„Ich war da nicht,“ sagte er, und er sah mich eben so fest an, wie ich ihn.

Er log. Auch ohne das Zeugniß des Bedienten, der ihn gesehen hatte, wußte ich es. Aber mußte die Lüge sich auf den Tod des Amerikaners beziehen? Konnte sie nicht im Gegentheil eben so sehr und noch mehr zum Zweck haben, den Amerikaner nicht zu verrathen?

„Wann hatten Sie Ihre Vorstellung auf dem Schloßplatze gestern Abend beendet?“ fuhr ich fort.

„Es konnte gegen acht Uhr sein.“

„Wohin gingen Sie von da?“

„Wir kehrten hierher zurück.“

„Sie mit den Andern?“

„Wir Alle zusammen.“

„Auf geradem Wege?“

„Auf dem kürzesten, am Rande des Parks entlang.“

„Hierher in diese Schenke?“

„In jene Scheune.“

„Haben Sie die Scheune seitdem verlassen?“

„Nein. Doch, ich war einmal auf dem Hofe nebenan, um nach meinem Wagen zu sehen, ob er zur morgenden Abreise im Stande sei.“

„Wann war das?“

„Unmittelbar vorher, ehe ich mich zum Schlafen legte, vielleicht um halb zehn Uhr.“

„Waren Sie lange draußen gewesen?“

„Vielleicht zehn bis fünfzehn Minuten.“

„Hat Jemand Ihre Rückkehr bemerkt?“

„Ich weiß es nicht; die Leute schliefen schon.“

„Sind Sie verheirathet?“

„Ja.“

„Ist Ihre Frau mit hier?“

„Sie gehört zur Gesellschaft.“

„Wer ist das blasse Mädchen von ungefähr zwölf Jahren?“

Die plötzliche Frage erschreckte ihn sichtlich; sie hatte ihn völlig unvorbereitet getroffen.

„Das Mädchen?“ wiederholte er, mit verwirrt umher irrenden Augen.

„Sie lag in der Nähe der blassen Frau mit dem Säugling im Anne.“

„Das war meine Frau mit unserem Kinde.“

Er wollte durch die Antwort Zeit gewinnen, sich von seinem Schreck zu erholen.

„Und das Mädchen?“ fragte ich.

Er hatte sich erholt.

„Sie ist von ihrer frühesten Kindheit bei meiner Gesellschaft.

Ein früheres Mitglied, ein liederlicher Mensch, ging mir durch und ließ sie mir zurück.“

„Er war ihr Vater?“

„Ja. Die Mutter war schon früher gestorben.“

„Sein Name?“

„Rosenberg hieß er.“

„Wo ist er jetzt?“

„Ich habe nie wieder von ihm gehört.“

Er hatte alle diese Fragen bestimmt und ruhig beantwortet. Mit dem Mädchen war es doch ein Geheimniß. Wieder ein neues Geheimniß? Weitere Fragen, die ich an den Gaukler stellen konnte, hätten sich unmittelbar auf den Tod des Amerikaners beziehen müssen. Sie wären jetzt noch verfrüht gewesen. Ich mußte vorher seine Frau und das Mädchen vernehmen, und auch dann ging ich sicherer, vor irgend einer Erwähnung des Todes oder der Auffindung der Leiche des Amerikaners ihn nach der Stelle des Auffindens zu führen und zu beobachten, welche Eindrücke das allmähliche Näherkommen zu der Stelle und darauf der Anblick der Leiche auf ihn machen werke. Ich ließ ihn in sicheren Verwahrsam bringen und dann seine Frau vorführen.

Es war die kranke, blasse Frau mit der Auszehrung in der Brust. Sie hatte das schöne, lange und dichte schwarze Haar geordnet. Man sah, wie schön sie einst gewesen war. Jetzt war sie ein Bild des Elends, des Hungers, des in seiner Blüthe rasch dahin schwindenden Lebens. Sie konnte kaum fünfundzwanzig Jahre zählen. Auch ihr innerliches, geistiges Leben war schon tief angefressen, gebrochen. Ein gewisser Stumpfsinn sah aus den starren, grauen Augen hervor; tägliches Elend von so mancherlei Art, Sünde und Laster, und die Unmöglichkeit, aus dem Allem je herauszukommen, können den Geist völlig abstumpfen. Ihren Säugling trug sie im Arme; er schlief. Das Kind war schon blaß, wie die Mutter; die Muttermilch war ihm schon der Todestrank geworden. Ich konnte der armen Frau nicht wehe thun.

„Sie sind gestern Abend mit der übrigen Gesellschaft vom Schlosse hierher zurückgekehrt?“

„Ja.“

„War auch Ihr Mann dabei?“

„Er war mit dabei.“

„Ist er später wieder fortgegangen?“

„So viel ich weiß, nicht.“

„Soviel Sie wissen?“

„Ich bin bald eingeschlafen, ich war müde.“

„Sind Sie in der Nacht nicht erwacht?“

„Nur einmal, als mein Kind Nahrung forderte.“

„War zu der Zeit ihr Mann da?“

„Ich weiß es nicht. Ich habe mich nicht nach ihm umgesehen, und es war dunkel in der Scheune.“

Sie antwortete Alles leise, etwas schüchtern, mit jenem Stumpfsinn, als wenn es sich der Sache nach um nichts handle. Ich fragte sie nur noch: „Kennen Sie einen Menschen Namens Johansen?“

Sie besann sich eine Weile ruhig.

„Ich habe den Namen nicht gehört,“ sagte sie dann in der vorigen Weise.

Wußte sie wirklich von nichts? Oder war es ihr, vielleicht mit in Folge langjähriger Drohungen und Mißhandlungen von Seite ihres Mannes, zur Gewohnheit geworden, nur gleichgültige, nichts gestehende und nichtssagende Antworten zu geben? Ich ließ noch das bleiche Mädchen vorführen. Ihr Geheimniß zog mich an, und wie leicht konnte ich, durch oder ohne dieses Geheimniß, von ihr eine wichtige Auskunft erhalten!

War sie im Schlafe einem schönen Engel, wenn auch dem Engel des Todes, gleich gewesen, jetzt war sie das Bild eines wunderbaren menschlichen Lebens. Sie war groß, schlank, zart gebaut. schon früh mitten auf dem Wege zur Entwicklung der Jungfrau. Große, schwarze Augen lagen wie dunkle Kohlen in dem schönen, schneeweißen Gesichte, ein wildes Feuer ausströmend. Ihre Lippen waren stolz und trotzig aufgeworfen. Sie sah mich neugierig, aber zuversichtlich an, als sie eintrat. Die Neugierde gehörte dem Kinde, die Zuversicht aber einem schon reiferen, bewußten Wesen.

„Wie heißt Du?“ fragte ich sie.

„Amelie.“

„Mit Deines Vaters Namen?“

„Ich kenne ihn nicht.“

Ihre Antworten waren rasch und bestimmt; es ging eine gewisse klare Entschlossenheit aus ihnen hervor.

„Dein Herr hat ihn Rosenberg genannt.“

„Der Signor!“ warf sie verächtlich die Lippen auf.

„Was willst Du sagen?“

Sie hatte eine schnelle Gegenfrage: „Der Signor hat ein Verbrechen begangen, nicht wahr, mein Herr?“

„Wüßtest Du mir etwas davon zu sagen?“

„Also nicht?“

[593] Die Augen des Mädchens hatten bei der ersten Frage erwartungsvoll aufgeblitzt. Bei dieser zweiten schlug sie sie enttäuscht, traurig nieder. Dann auf einmal erhob sie sie wieder, trotzig, entschlossen.

„Gleichviel. Der Signor ist doch ein Verbrecher. Mich hat er gestohlen. Rosenberg? Ich habe einen anderen Vater. Ich will bei dem Menschen, bei der Gesellschaft nicht langer bleiben.“

„Und wer wäre Dein Vater?“ fragte ich sie.

„Ich kenne ihn nicht. Der Signor hat ihn mir nie genannt.“

„Und Du behauptest doch, der Signor habe Dich gestohlen?“

„Ich weiß es.“

„Wann wäre es geschehen?“

„Als ich noch ein ganz kleines Kind war.“

„Du erinnerst Dich dessen noch?“

„Mein Herz sagt es mir.“

„Und weiter hast Du keine Beweise?“

Sie brach plötzlich in Thränen aus.

„Wie könnte ich Beweise haben? Er wird es nicht gestehen. Ach, mein Herr, Sie gehören zur Polizei oder zu den Gerichten; nehmen Sie sich meiner an, daß ich zu den Menschen nicht zurück muß. O, wenn ich Ihnen sagen könnte –!“

Sie konnte nicht weiter sprechen. In dem Kinde war gewiß Vieles überspannt, durch Erzählungen Anderer, durch ihr eigenes abenteuerliches Leben. Aber war ihre Lage, ihr elendes Handwerk, ihr ganzes jetziges Leben nicht ein wirkliches, schweres Unglück für sie?

„Beruhige Dich, Kind,“ tröstete ich sie. „Ich werde sehen, was für Dich zu thun ist. Antworte mir jetzt noch auf einige Fragen, aber die volle Wahrheit. Der Signor war gestern Abend mit Euch Anderen hierher gegangen?“

„Ja, mein Herr.“

„Ging er nachher wieder fort?“

„Ja.“

„Wann war das?“

„Als Alle schliefen, als er es wenigstens meinte. Ich weiß auch, wohin er ging.“

„Du wüßtest das?“

Ich mußte und konnte sie so gleichgültig wie möglich fragen. Ich war im höchsten Grade überrascht, gespannt, aber ich durfte es ihr nicht zeigen; schon darum nicht, um nicht ihrer lebhaften, überspannten Phantasie und ihrem Hasse gegen den Seiltänzer Veranlassung zu Erfindungen oder Uebertreibungen zu geben.

„Ja,“ sagte sie, ebenso zuversichtlich, wie im Tone der Wahrheit. „Als wir vom Schlosse zurück waren, befahl der Signor mir, mich schnell umzukleiden und zum Schlosse zurückzueilen, aber nicht in das Schloß zu gehen, sondern mich in der Allee, die zur Chaussee führt, aufzustellen und dort auf einen Herrn zu warten, der aus dem Schlosse kommen werde. Es sei ein großer, hübscher Herr, in einem braunen Rocke, mit einem großen schwarzen Barte. Wenn der Herr komme, so sollte ich ihm sagen, der Signor erwarte ihn im Schloßpark an der Brücke, die über den Fluß führe. Weiter nichts. Ich solle dann gleich zurückkehren, aber keinem Menschen etwas sagen. Ich richtete meinen Auftrag aus, uns als ich zurückkam, war der Signor schon fort.“

Das war eine Mittheilung, die auf einmal ein Licht verbreitete, auf das ich nie hatte hoffen, das ich eine Minute vorher nicht hatte ahnen können. Und das Kind erzählte mit allen Zeichen der vollsten Wahrheit. Hatte ich danach nicht auf einmal den Mörder? Aber ich hatte noch Fragen an das Kind.

„Kam der Fremde allein aus dem Schlosse?“

„Ganz allein. Er schien eilig zu sein.“

„Um welche Zeit war es?“

„Ich hatte nicht sehr lange auf ihn gewartet. Es war schon dunkel geworden. Vielleicht war es neun Uhr.

“Was sagte der Herr, als Du ihm Deinen Auftrag ausgerichtet hattest?“

„Er werde kommen.“

„Wurde er nicht überrascht?“

„Nein. Es kam mir sogar vor, als wenn er so etwas erwartet hätte. Aber als er mich sah – ich war auf einmal hinter einem Baume hervorgetreten – meinte ich, daß er sich erschreckt habe. Und dann sah er mich mit so sonderbaren, durchbohrenden Augen an.“

„Und er sagte Dir sonst nichts, als daß er kommen werde?“

„Kein Wort. Er ging dann sogleich weiter.“

„Wohin?“

„Nach der Chaussee hin.“

„Und wo bliebst Du?“

„Ich kehrte auf dem geradesten Wege, an dem Park entlang, hierher zurück.“

„Hattest Du den fremden Herrn schon früher gesehen?“

„Niemals.“

„Der Signor war schon fort, als Du hier ankamst?“

„Ich sah ihn nicht mehr.“

„Hast Du ihn zurückkehren sehen?“

[594] „Nein. Ich schlief bald ein; ich war müde und habe die ganze Nacht geschlafen, bis Sie mit den Gensd’armen kamen.“

Ich konnte von dem Kinde nicht mehr erfahren. Aber es war ja so viel, was sie mir mitgetheilt hatte. Nur ein Zweifel wollte nicht von mir ablassen: ob auch Alles wahr sei, was sie mir gesagt, ob sie mir nicht ein Märchen aufgebunden habe. Der Seiltänzer war ihr verhaßter Meister, von dem sie befreit sein wollte; sie wußte oder setzte voraus, daß er von mir wegen eines Verbrechens verfolgt werde; von ihrer überspannten Phantasie glaubte ich schon einmal eine Probe gehabt zu haben; ähnliche, aus der Luft gegriffene Erfindungen, gerade von Kindern in ihrem Alter, waren in meiner kriminalistischen Praxis mir schon mehrfach vorgekommen. Sie hatte zwar das Aeußere des Amerikaners zutreffend beschrieben – er trug auch gewöhnlich einen braunen Rock. Aber sie konnte ihn gesehen haben und er konnte ihr aufgefallen sein, als der Seiltänzer ihm nachgegangen war und eine Gabe von ihm gefordert hatte. Ich hatte noch eine Probe.

„Hast Du gehört, daß der fremde Herr ermordet ist?“

Sie erschrak heftig.

„Wer?“ rief sie mit zitternder Stimme.

„Der, den Du bestellt hattest.“

„Ich bin unschuldig!“ schrie sie auf.

Sie war unschuldig. Sie hatte auch nicht gelogen. Ich ließ sie unter besonderer Aufsicht des Wirthin in der Schenke zurück und begab mich nun mit dem Seiltänzer zu dem Schloßpark und zu der Stelle, wo der Leichnam des Amerikaners gefunden war. Es war das Nächste, was ich amtlich zu thun hatte. Gern wäre ich vorher zum Schlosse selbst gegangen, um mich nach den dortigen Ereignissen zu erkundigen. Ich muß hier die Oertlichkeit beschreiben.

Das Dorf Alsleben war von dem Schlosse Holbergen ungefähr eine Viertelstunde entfernt. Ein ziemlich gerader Weg führte durch Ackerland dahin. Zu seiner rechten Seite lag der Schloßpark, an dem der Weg mitunter unmittelbar lief. Der Park war durch einen hohen Zaun eingeschlossen. Jenseits des Parks war die Chaussee, an welcher der Gasthof lag. Durch den Park floß der breite und tiefe, einem Flusse gleichende Bach, der Alsbach genannt. Bei seinem Ausflusse aus dem Park hatte er eine zum Gehen und Fahren bestimmte hölzerne Brücke, in deren Mitte, also auch gerade über der Mitte des Wassers, sich ein verschließbares, aber gewöhnlich nur in das Schloß gelegtes Thor befand. Die Brücke war ungefähr in der Mitte zwischen dem Dorfe Alsleben und dem Gasthofe an der Chaussee, von Beiden etwa zehn Minuten entfernt. Ein Fußweg, der von dem Gasthofe direct nach dein Dorfe führte, lief kaum fünfzig bis sechzig Schritt weit daran vorbei.

Zu der Brücke war der Amerikaner durch das Mädchen bestellt worden. Welchen Weg dahin er genommen hatte, war mir ungewiß. Im Gasthofe war er nicht wieder gewesen. Wahrscheinlich war er gleich von der Schloßallee in den Park gegangen; er konnte sich auch erst in der Nähe des Gasthofs von der Chaussee aus auf jenem Dorfwege zu der Brücke gewendet haben, ohne vorher den Park zu berühren.

Der Seiltänzer war unzweifelhaft direct vom Dorfe aus hingegangen. Denselben Weg führte ich ihn jetzt. Ich mußte vor Allem sehen, welchen Eindruck schon dieser Weg auf ihn machen werde. Er hatte kein Wort von dem Auffinden der Leiche erfahren. Das leiseste Zeichen, daß er von dem Tode etwas wisse, war daher sein Verräther; schon eine Unruhe mußte ihn verdächtig machen. Ich beobachtete ihn genau; ich konnte es. Die Sonne stand schon eine Weile am Himmel, es war ein schöner, klarer Sommermorgen. Er ging ruhig zwischen mir und dem Gensd’armen. Ich sprach kein Wort, er schwieg ebenfalls; den Gensd’armen machte der Dienst stumm, wenn er nicht von mir gefragt wurde.

Wir hatten die Nähe der Brücke erreicht; er war ruhig und unbefangen geblieben. Von der Brücke führte in gerader Linie ein schmaler Fußsteig zu dem Wege, den wir gingen. Ich bog schweigend in den Fußsteig ein. Er mußte dieselbe Richtung nehmen.

Auf einmal stutzte er; es war, als wenn sein Fuß unwillkürlich zögere, voranzuschreiten; er hatte sich verfärbt. Das Zeichen, das ihn verräth, rief es in mir. Aber ich hatte einen Fehler gemacht. Hinter der Brücke, an dem jenseitigen Ufer des Flusses, standen Leute, Diener des Schlosses, Polizeidiener, Gensd’armen, Neugierige. Ein menschlicher Körper lag auf dem Boden. Es hätte sich Niemand zeigen, der Leichnam hätte verborgen sein müssen. Ich hatte vergessen, das vorher anzuordnen.

Das jetzige Erschrecken des Menschen, nachdem er das Alles gesehen hatte, konnte dem Ungewöhnlichen, das er sah, gelten, ohne Zeichen eines Schuldbewußtseins zu sein. Ja, es konnte, zumal nach der Behandlung, die ihm widerfuhr, nur zu leicht von der Furcht erzeugt sein, unschuldig für den Schuldigen eines Verbrechens gehalten zu werden, auf das er nach Allem sofort schließen mußte. Ich hatte einen großen Fehler gemacht, der nicht mehr zu verbessern war und dessen Folgen sich schnell zeigen sollten. Ich mußte ihn weiterführen, als ob ich, nichts bemerkt, auch in nichts gefehlt hätte. Wir überschritten die Brücke und traten zu den Leuten. Sie umgaben die Leiche, die nur nach dem Wasser hin frei lag; es war der Amerikaner. Ich ließ sie aus einander treten und führte den Gaukler dicht, unmittelbar an die Leiche.

„Heinrich Hochmann, kennen Sie diesen Todten?“

„Nein,“ sagte er, aber mit trocken angeklebter Zunge und die Augenlider zwinkerten ihm und die Lippen schienen leise zu beben.

„Besinnen Sie sich wohl, Hochmann. Eine Lüge kann hier eine schwere Schuld für Sie werden.“

„Nein,“ wiederholte er. „Ich kenne den Mann nicht.“ Und er konnte diesmal fester und freier sprechen.

Mit ihm war vor der Hand nichts mehr zu verhandeln. Ich ließ ihn zu einem ein paar hundert Schritte entfernten Pavillon des Parks abführen. Es mußte jetzt zunächst zur gerichtlichen Gewißheit erhoben werden, ob ein Verbrechen vorliege und von welcher Art. Aber vor allen Dingen mußte ich Anderes wissen.

„Ist der Freiherr wieder da?“ fragte ich einen alten Diener des Schlosses, der unter den Anwesenden war.

„Nein,“ war die traurige Antwort des alten Mannen.

„Auch keine Nachricht von ihm?“

„Nicht die geringste.“

„Was machen die Damen?“

„Der Herr Director können es sich denken.“

„Wissen sie von dem Auffinden der Leiche?“

„Ja.“

Die Leute des Schlosses standen alle mit traurigen, niedergeschlagenen Blicken da. Es war, als wenn sie Alle Theil an einem Morde hätten. Welches Zeugniß dafür, daß hier ein Mord verübt war, und zugleich gegen den Mörder! Als ich mit dem Seiltänzer anlangte und ihn zu der Leiche führte, mochte wohl in mancher Brust ein Hoffnungsstrahl aufzucken wollen; aber als der Mensch so entschieden leugnete, den Todten zu kennen, verschwand auch schnell der schwache Strahl wieder. Die feineren Zeichen, die für seine Schuld sprechen konnten, waren ihnen entgangen.

Es wurden folgende Thatsachen festgestellt: Beim Anbruche des Tages waren zwei von den Leuten den Schlossen auf den Gedanken gekommen, nach dem vermißten Schloßherrn im Alsbache zu suchen; es könne ihm in der Nacht ein Unglück zugestoßen sein.

Dreißig Schritte unterhalb der aus dem Park in das Feld führenden Brücke hatten sie im Wasser, und zwar am Parkufer, einen menschlichen Leichnam gefunden. Der Strom mußte ihn dahin getrieben haben; eine Weide, die mit ihren Zweigen weit in das Wasser hineinreichte, hatte ihn aufgehalten. Die Leiche war sofort für die des Amerikaners erkannt. Sie war übrigens mit dem braunen Rocke bekleidet, in welchem auch das Mädchen von der Seiltänzertruppe den Amerikaner gesehen hatte. Spuren einer Gewalt waren an ihr nicht zu finden. Nur in dem Innern der linken Hand war eine kleine, frische Wunde, ein Holzsplitter stecke noch darin.

Wie der Körper in das Wasser gekommen war? Die an sich so unbedeutende Wunde sollte darauf hinweisen. Nirgends am Wasser waren Spuren eines Kampfes oder Ringens, ober andere Fußtritte als von den Personen, die nach dem Schloßherrn gesucht hatten, zu entdecken. Aber die Brücke über den Fluß war mit einem hölzernen Geländer versehen, in welchem jedesmal einen halben Fuß von einander hölzerne Stäbe, oben zugespitzt, aufrecht standen. Unmittelbar an dem in der Mitte der Brücke befindlichen Thore, nach der Parkseite hin, war die Spitze eines dieser Stäbe abgebrochen, und der Holzsplitter in der Handwunde paßte genau zu dem Holze des abgebrochenen Stabes. Dort also – es war der nächste Schluß – auf der Mitte der Brücke war der Körper in das Wasser gelangt, über das Geländer hinüber; im Hinüberfliegen war die Hand mit dem Stabe in Berührung gekommen, [595] die Spitze war abgebrochen, ein Splitter war in die Hand gedrungen.

War diese Annahme gerechtfertigt, stand ferner fest, was freilich noch zu ermitteln war, daß der Verstorbene erst in dem Wasser seinen Tod gefunden, so war auch nicht anzunehmen, daß er sich selbst freiwillig in den Fluß gestürzt habe. Die Hand konnte dann nur Hülfe suchend, um sich im Falle festzuhalten, nach der Stange gegriffen und diese abgebrochen haben. Es war dann aber auch kein Unglücksfall anzunehmen; das Geländer war vier Fuß hoch, also immer zu hoch. als daß jemand durch einen Zufall hinüber fallen konnte. Es blieb also nur ein gewaltsames Hinüber, und Hinunterwerfen durch einen Dritten übrig; ob in einem Ringen und Kämpfen, oder ob durch einen hinterlistigen Ueberfall, darüber fehlte es an irgend einem Anhalt. Für eine gewaltsame Tödtung durch die Hand eines Dritten sprach also mindestens eine dringende Vermuthung. Welchem Dritten gehörte diese Hand?

Das Brückenthor hatte bei dem Auffinden der Leiche offen gestanden. Es war kein Schluß daraus zu ziehen. Die Leute des Schlosses waren beim Aufsuchen ihres Herrn die ganze Nacht über die Brücke hin- und hergegangen. Ob am gestrigen Abende das Thor verschlossen gewesen, war nicht zu ermitteln; für gewöhnlich wurde es im Sommer nicht verschlossen gehalten. Zu dem Schlosse waren mehrere Schlüssel vorhanden, die sich im Besitze von Gärtnern, Knechten und Arbeitern befanden. Ein Raubmord lag auf keinen Fall vor. An der Leiche waren Uhr, Börse, Brieftasche unversehrt gefunden.

Der Polizeidirector war sofort nach Entdeckung der Leiche zu der Stadt zurückgefahren, um die Sachen des Todten in Verwahr zu nehmen und zugleich die Gerichtsärzte und einen Protokollführer für mich herbeizuschaffen. Sie kamen. Die Aerzte stellten bald fest, daß der Verstorbene lebend in das Wasser gekommen war; er hatte in diesem durch Erstickung seinen Tod gefunden. Sie traten auch nach der Lage und Beschaffenheit der Handwunde meiner Vermuthung bei, daß der Verstorbene über das Brückengeländer hinüber in das Wasser geworfen sei und im Falle, um sich daran zu halten, nach der Stange gegriffen und diese abgebrochen hatte. An einer Tödtung durch die Hand eines Dritten war also vernünftigerweise nicht mehr zu zweifeln. Wer war nur dieser Dritte?

Ich hatte das Mädchen von der Seiltänzertruppe herrufen lassen. Sie erkannte in dem Todten mit der größten Bestimmtheit den Herrn, den sie für ihren Herrn gerade hierher hatte bestellen müssen. Ich ließ sie zur Seite bringen, um dann den Seiltänzer wieder vorführen zu lassen. Vorher mußte ich noch den Gutsknecht vernehmen, der den Seiltänzer mit dem Verstorbenen hatte sprechen sehen.

Er war anwesend. Er sah den Ermordeten; er halte vorher den Seiltänzer bei mir gesehen. Er kannte auch außerdem Beide, den Seiltänzer aus dessen Vorstellung; der Amerikaner war auch schon einige Male auf dem Schlosse gewesen. Er versicherte mit voller Bestimmtheit, daß er sie Beide gestern Abend zusammen im Parke angetroffen habe. Er hatte seine Geliebte, die die Vorstellung der Seiltänzer mit angesehen, nach deren Beendigung nach Hause gebracht. Sie wohnte am Ende des Dorfs Alsleben; seinen Rückweg hatte er durch den Park genommen, da er das Brückenthor über dem Alsbache, wie er vermuthete, offen gefunden hatte.

Er war bis zu der Brücke langsam gegangen, in dem Sandwege also auch leise. So wie er die Brücke hatte betreten wollen, stutzte er. Er hörte jenseits der Brücke, im Parke, zwei Stimmen mit einander reden, die ihm im ersten Augenblicke beide unbekannt waren. Bald darauf glaubte er sie Beide zu erkennen, es mußte der Amerikaner und der Seiltänzer sein. Was sie sprachen, konnte er nicht verstehen; sie redeten, wenn auch nicht gerade leise, doch mit gedämpfter Stimme. Er war neugierig, was die beiden fremden und, seiner Meinung nach, auch einander fremden Menschen in dem Schloßpark, in der späten Abendstunde geheimnißvoll mit einander könnten zu verhandeln haben. Er trat leise auf die Brücke, bis an das Thor. Das Thor lag nur angelehnt, nicht einmal im Schlosse. Er wollte es leise weiter öffnen, um hindurch zu gehen. Vorher lauschte er noch einmal; er hörte die Stimmen deutlicher; er erkannte sie nun auch bestimmt. Sie sprachen deutsch mit einander; verstehen konnte er aber nur einzelne Worte, aus denen nicht im Geringsten auf den Sinn oder Gegenstand ihrer Unterredung zu schließen war. Als er dann die Thür weiter öffnen wollte, knarrte diese trotz seiner Vorsicht in ihren Angeln. Augenblicklich war das Gespräch verstummt. Er ging dennoch auf die Stelle zu, wo er es gehört hatte, es war vorn in dem Gebüsch, das wenige Schritte vor der Brücke begann. Es war Alles still da. Als er hineingehen wollte, trat ihm der Amerikaner entgegen und sah ihn fragend an, was er hier wolle, „so recht vornehm,“ sagte der Zeuge. Das vornehme, befehlende Wesen des fremden Herrn, der bei dem Schloßherrn zum Besuche war, hatte den Knecht eingeschüchtert, und er hatte, ohne etwas zu sagen, ohne sich weiter umzusehen, ohne wieder zu horchen, seinen Weg durch den Park zum Schlosse fortgesetzt. Es war, nach seiner Berechnung, kurz vor zehn Uhr gewesen. Von dem Schloßherrn hatte er nichts gesehen und gehört.

Die Thatsache, daß um diese Zeit der Seiltänzer und der Ermordete beisammen gewesen, mußte danach in Verbindung mit der Aussage des dreizehnjährigen Mädchens als ausgemacht feststehen. Seitdem war der Ermordete nicht wieder gesehen worden. Um dieselbe Stunde oder etwas später war nach dem Gutachten der Aerzte, wahrscheinlich der Tod des Amerikaners erfolgt. Ein Anderes stand zugleich fest, daß das Brückenthor schon vor der That offen gewesen war. Wann es geöffnet worden, war auch jetzt nicht zu ermitteln, der Knecht hatte vorher einen andern Weg genommen, und die sämmtlichen übrigen Personen, die über die Brücke gegangen waren, hatten sie erst später, beim Nachsuchen nach dem Schloßherrn, überschritten.

Der Seiltänzer Hochmann, als er wieder vorgeführt wurde, erschien mit seiner vollen Sicherheit und Unbefangenheit, die ihn vorhin, beim Anblick der Leiche, nur auf einen Moment verlassen hatte. Aber er sollte nicht so bleiben.

„Sie kennen den Leichnam nicht?“ fragte ich ihn wiederholt.

„Nein,“ wiederholte auch er, vollkommen fest und sicher.

„Sie wissen nicht, daß der Todte Johansen geheißen hat?“

„Nein.“

„Haben Sie einen Mann dieses Namens gekannt?“

„Ich habe es Ihnen schon einmal verneinen müssen.“

„Bleiben Sie dabei, den Verstorbenen gestern Abend im Park nicht gesprochen zu haben?“

„Ich bleibe dabei, ich habe ihn nicht gesprochen.“

„Sie hatten ihn sogar hierher bestellen lassen.“

„Wer? Ich?“ fuhr er auf. „Das ist nicht wahr! Das ist bei Gott nicht wahr’.“

Die Worte, die Heftigkeit, mit der er sie sprach, bezeugten, daß es doch wahr war, bezeugten wiederholt, daß das Mädchen die Wahrheit gesagt hatte. Er hatte auf die Frage, als eine mögliche, sich vorbereitet; sie erschreckte und verwirrte ihn dennoch, und um das zu verbergen, übertrieb er in Worten und in Entrüstung.

„Ich bringe Ihnen einen Zeugen,“ sagte ich ruhig.

„Wen?“ rief er.

„Nachher. Ich werde Ihnen vorher noch einen Zeugen Ihrer Zusammenkunft selbst mit dem Todten bringen.“

„Der Mensch schwört falsch. Wo wäre das gewesen?“

Er gab sich immer mehr Blößen. In Betreff des Zeugen der Bestellung hatte er sich noch auf eine allgemeine Frage nach ihm beschränken können. Jetzt verrieth er durch den Ausdruck „der Mensch“ schon, daß er wußte, von wem die Rede war.

„Wo es gewesen wäre?“ erwiderte ich ihm. „Hier, in jenem Gebüsche.“

„Es ist nicht wahr!“

Er mußte auch noch hinsichtlich des Mädchens zum Verräther gegen sich werden. In der Verwirrung, in der er einmal war, wurde er es leicht.

„Wir sprachen schon im Dorfe von der Amelie Rosenberg.“ fuhr ich ohne weiteren Uebergang fort.

Er konnte mich kaum den Namen aussprechen lassen.

„Das ist eine Lügnerin,“ rief er. „eine schlechte Person, ein faules Geschöpf, die ich habe strenge halten müssen, und die aus Haß, aus Rache dafür durch ihre Lügen mich verderben will.“

„Sie sprachen vorhin nichts Böses von dem Kinde,“ sagte ich.

„Warum sollte ich?“

„Warum sollen Sie es jetzt?“

„Aber sie ist eine Lügnerin, eine durch und durch verlogene Person. Fragen Sie meine ganze Gesellschaft. Sie lügt immer von mir.“

„Und was sollte sie jetzt von Ihnen gelogen haben?

[596] Da war es ihm auf einmal klar, wie er sich verrathen hatte.

„Ich weiß es nicht,“ sagte er kleinlaut.

Ich mußte den Augenblick benutzen.

„Sie wissen nur zu wohl, daß sie nicht gelogen hat. Dieser Todte, der hier vor Ihnen liegt, ist von dritter Hand ermordet. Der Mörder ist bis jetzt unbekannt. Aber Sie haben den Ermordeten früher gekannt; Sie haben in Verbindungen mit ihm gestanden, von denen Niemand Näheres weiß. Sie sind gestern plötzlich wieder mit ihm zusammengetroffen; das Zusammentreffen ist ihm unangenehm gewesen; Sie sind darauf nochmals in seiner Gesellschaft gesehen worden; Sie mit ihm allein; kurze Zeit vor der Stunde, in welcher der Mord verübt sein muß, ganz in der Nähe des Orts, wo der Mord verübt ist. Seitdem hat den Todten lebend Keiner wiedergesehen. Sie hatten sogar zu dieser Zeit und zu diesem Orte ihn im Geheimen hinbestellen lassen. Jeder Unbefangene kann nicht mehr Gründe fordern, um Sie des Mordes verdächtig, dringend verdächtig zu halten. Sie könnten diesen Verdacht nur einzig und allein dadurch von sich ablenken, daß sie die offenste Wahrheit angäben über alle jene Gründe, die Sie so verdächtig machen. Statt dessen leugnen Sie Alles ab, wollen den Zeugen Lügen und Meineid vorwerfen –“

Ich hielt plötzlich inne. Er war schon seit einer Weile blaß, dann tief nachsinnend, dann unruhig geworden. Er wagte nicht, mich anzusehen; er sah mich auf einmal mit einem sonderbaren Blicke fest an. Er hatte etwas auf den Lippen.

„Sie haben mir etwas zu sagen?“ sagte ich.

Er sah sich um. Ich hatte, als ich das Verhör begann, wie es die Vorschrift erforderte, die sämmtlichen übrigen Personen sich entfernen lassen. Nur ich und der Protokollführer waren allein mit ihm. Ich vernahm ihn im Freien, an der Stelle der That.

Er sah sich um, ob Jemand in der Nähe, etwa im Gebüsche versteckt sei, der ihn behorchen könne. Er hatte mir ein Bekenntniß zu machen. Er sah uns völlig allein.

„Ja, Herr Director,“ sagte er, „ich habe Ihnen die Unwahrheit gesagt, ich muß es bekennen. Ich sehe ein, welch’ einen Fehler ich gemacht habe. Ich, selbst habe mich dadurch verdächtig gemacht, denn an dem Morde bin ich unschuldig; glauben Sie es mir. Ein Kind kann nicht unschuldiger sein, als ich an dem Tode dieses Mannes.“

Seine Worte wälzten wieder einen schweren Stein auf meine Brust. Er sprach mit allen Zeichen der Wahrheit und zugleich jener inneren Herzensangst des Lügners, der es plötzlich einsieht, wie er durch Unwahrheit den Schein einer schweren Schuld auf sich geladen hat. Er ist nicht der Mörder! rief es in mir.

„Sagen Sie mir die Wahrheit,“ ermahnte ich ihn.

„Sie sollen sie vollständig von mir hören. Ich kenne diesen Todten schon lange, schon seit zwanzig Jahren. Wir waren als junge Burschen zusammen in einer Seiltänzertruppe; später waren wir längere Zeit gemeinschaftlich Principale. Manchmal waren wir auseinander gekommen, wir kamen immer wieder zusammen. Er war nicht sehr verträglich, er wollte immer befehlen, und er war ein roher und harter Mensch. Im vorigen Jahre hatten wir uns zum letzten Male getrennt; er sagte, er wolle nach Amerika gehen, um da auch einmal sein Glück zu versuchen. Ich hatte seitdem nichts wieder von ihm gehört, bis ich ihn, völlig unvermuthet, am gestrigen Abende hier wieder sah. Er war ein vornehmer Herr geworden. Er erschrak, als er mich, als ich ihn erkannte. Davon mußte ich profitiren. Ich bin ein armer Teufel; ich muß oft hungern mit Weib und Kind und Leuten, und Hunger thut weh. Er war reich, er trug eine Uhr mit schwerer goldener Kette; er besuchte als Freund den reichen Schloßherrn. Ich schickte das Mädchen, die Amelie, ihm nach und ließ ihn hierher bestellen. Er durfte nicht ausbleiben, da ich ihn durch sein Geheimniß immer in meiner Gewalt hatte. Er kam. Ich bat ihn um Geld, um Unterstützung. Er gab mir und versprach mir noch mehr. Ich hatte ihn als Freund gebeten; er hatte auf meine Freundschaft gerechnet, daß ich ihn nicht verrathen werde. So schieden wir auch als alte Freunde. Ich ging mit meinem Gelde nach meinem Dorfe zurück; er blieb im Park, hier, diesseits der Brücke, wohl um von Niemandem mit mir zusammen gesehen zu werden. Außerhalb des Parks, jenseits der Brücke, hatten wir mehrmals Menschen hin- und hergehen gehört. Er gab mir drei Goldstücke; Sie werden sie bei meiner Frau finden; sie hat deren fünf, zwei hat mir der Baron des Schlosses für die Vorstellung gegeben. Ich habe Ihnen jetzt die volle Wahrheit gesagt. Von dem Tode des Mannes weiß ich nichts; ich bin unschuldig daran. Ich hatte keinen Streit mit ihm, und wenn ich ihn hätte berauben wollen, so hätte ich ihm seine Uhr genommen und seine Börse, in der er noch viel Geld hatte. Das muß Ihnen Beweis für meine Unschuld sein.“

Er hatte Recht. Uhr und Uhrkette und die noch volle Börse. was Alles auf dem Todten gefunden worden, waren redende Zeugen seiner Unschuld; noch mehr war es die unverkennbare Wahrheit, mit der er sprach. Es begann für mich der schwerere Theil der Ausübung meines Amtes. Fast nur noch in Beziehung auf ihn mußte ich den Menschen weiter verhören.

„Wie hieß der Todte?“

„Er hat viele Namen geführt. Er war oft mit Polizei und Gerichten in Streit gerathen. Sein eigentlicher Name war Christoph Richter. Er war aus dem Badischen gebürtig.“

„Hat er auch den Namen Johansen geführt?“

„Mehrere Male. Unter ihm war er als geschickter Voltigeur am bekanntesten.“

„Erzählte er Ihnen von seinem Aufenthalte in Amerika?“

„Es sei ein schlechtes Land. Aber er habe dort einen reichen alten Herrn kennen gelernt, der ihn lieb gewonnen und zu seinem Erben eingesetzt habe. Daher habe er sein Vermögen.“

„Nannte er den Namen ?“

„Es sei ein Herr Jones gewesen. Er müsse nach dem Testamente jetzt dessen Namen führen.“

„Theilte er Ihnen sonst nichts mit?“

„Nein. Wir sprachen nur noch über mich und über unsere alten Bekannten.“

„Waren Sie lange mit ihm zusammen ?“

„Ungefähr eine halbe Stunde.“

„Sie sagten, es seien während dieser Zeit Menschen vorübergekommen. Haben Sie Niemanden erkannt?“

„Niemanden. Sie gingen jenseits der Brücke. Einer kam herüber. Er mußte uns gehört haben. Richter trat ihm entgegen; er ging darauf weiter. Richter sagte mir, es sei ein Knecht vom Schlosse gewesen. Bald nachher gingen wir auseinander.“

„Wie waren Sie in den Park gekommen?“

„Das Brückenthor stand offen. Ich hatte es schon am Tage so gefunden.“

Nach meiner inneren, sogenannten subjectiven Ueberzeugung war ich mit ihm fertig. Objectiv war noch Verdacht gegen ihn da, und ich mußte ihn einstweilen in fernerer Haft behalten. Ich ließ ihn wieder in Verwahrsam bringen. Aber was nun weiter ?

Holberg war noch immer nicht zurück; es war noch immer keine Nachricht von ihm da. Man hätte es mir zuerst mitgetheilt.

Dagegen hatte die Frau von Holberg wiederholt zu mir geschickt, sobald ich Zeit hätte, zum Schlosse kommen, sie wünsche dringend mich zu sprechen. Ich konnte mir denken, wie heißes Verlangen sie tragen mochte, von mir zu erfahren, ihr Herz gegen mich auszuschütten; seit dem Auffinden der Leiche des Amerikaners hatte sie mich nicht gesprochen; über den Tod konnte sie genaue und zuverlässige Mittheilungen nur durch mich erhalten, und – ihr Mann war noch immer nicht da. Die arme Frau!

Ich hatte nach der Vernehmung des Gauklers einen freien Moment. Die auf dem Ermordeten gefundenen Papiere hatte ich schon vorher durchgesehen. Sie hatten sich nur in seiner Brieftasche befunden und enthielten nichts, was für die Untersuchung oder sonst von Interesse gewesen wäre. Auf der Brust des Todten hatte sich noch eine kleine, rundlich glatte blecherne Kapsel gefunden, die an einem um den Nacken geschlungenen starken ledernen Riemen hing. Ich war neugierig, was sie enthalten möge. Allein sie war verschlossen, der Schlüssel fehlte, und ich durfte sie um so weniger gewaltsam aufbrechen, als ihr Inhalt ein leicht zerstörlicher sein konnte.

[609] Als ich mich auf den Weg zum Schlosse machen wollte, kam jenseits der Brücke von der Chaussee her im Galopp ein Reiter angesprengt. Er warf sich vom Pferde und kam in den Park. Es war ein reitender Bote, den mir der Polizeidirector mit einem versiegelten Packet aus der Stadt schickte. Ich mußte bleiben. Ich riß das Siegel auf und fand mehrere Papiere. Wenige Zeilen des Polizeidirectors lagen bei. Er habe in der Wohnung und unter den Sachen des Todten genaue Nachsuchung gehalten; Näheres über dessen Person habe er nicht vorgefunden; die beikommenden, aufgefundenen Papiere würden aber auf eine in so mancher Hinsicht bedauerliche Weise ein weiter zu verfolgendes Licht auf das aller Wahrscheinlichkeit nach vorliegende Verbrechen eines vorher überlegten Mordes werfen.

In dem Schreiben war noch ein sehr kleiner Schlüssel eingeschlossen; er habe in einer verborgenen Schublade eines Secretairs gelegen und werde zu der auf der Brust des Todten gefundenen Kapsel passen. Der Polizeidirector war erst nach einer äußerlichen Untersuchung der Leiche von Holbergen abgegangen. Ich las zuerst die Papiere, die ein Licht über die That verbreiten sollten. Sie gaben ein für mich entsetzliches Licht. Es war zunächst eine Correspondenz zwischen Holberg und einem Herrn Frank in New-York.

Die Briefe Holberg’s waren im Original da, die Frank’s in zurückbehaltenen Abschriften. Sie waren ungefähr drei Jahre alt und ergaben Folgendes:

Holberg und Frank hatten früher in New-York ein Compagniegeschäft betrieben, unter der Firma Schuler und Compagnie. Frank hatte damals den Namen Schuler geführt. Später war Holberg nach Deutschland zurückgekehrt und hatte hier ein neues Geschäft begonnen, unter seiner eigenen und alleinigen Firma Friedrich Holberg. Es war gleichwohl ein Compagniegeschäft zwischen ihm und Frank, gegründet mit ihrer Beider gemeinsamen Mitteln und auf gemeinsame, gleiche Rechnung. Frank sollte nur nicht als Compagnon genannt werben. Das New-Yorker Geschäft war unterdeß ganz das bisherige Compagniegeschäft geblieben. Einige Jahre später aber hatten die Compagnons sich getrennt; Holberg war aus dem amerikanischen und Frank-Schuler aus dem deutschen Geschäfte ausgetreten. Jeder Austretende war mit seinem Antheile an der bisherigen Gemeinschaft abgefunden. Frank hatte aus dem deutschen Geschäfte baare dreißigtausend Dollars erhalten.

Mit dieser Darlegung früherer Verhältnisse begann der erste Brief der Correspondenz. Er war von Frank an Holberg. Er fuhr aber fort, Holberg habe ihn bei jener Auseinandersetzung betrogen; das deutsche Geschäft habe zur Zeit der Theilung anstatt der sechzigtausend Dollars, die Holberg angegeben, und von denen er mit jener Hälfte zu dreißigtausend Dollars abgefunden sei, ein Vermögen von dreimalhunderttausend Dollars gehabt. Hiervon fordere er nun seine Hälfte, nach Abzug der bereits erhaltenen Summe, mit noch einhundertundzwanzigtausend Dollars, nebst Zinsen seit zehn Jahren. Die Beweise für seine Forderung besitze er in Documenten von Holberg’s eigener Hand, wie dieser wohl wisse. Wenn er seine Rechte nicht früher geltend gemacht, so beruhe das in eigenthümlichen Umständen, die Holberg ebenfalls kenne und zu deren Bekanntmachung dieser ihn nicht zwingen möge.

Es folgte die Antwort Holberg’s. Sie lautete einfach dahin, er sei dem Herrn Frank nichts mehr schuldig. Seine, Holberg’s, Bücher ergäben den klaren Beweis. Welche Bewandtnis es mit den Documenten habe, auf welche Frank sich beziehe, wisse dieser am besten.

Ein zweiter Brief Frank’s erwiderte, er bestehe auf seiner Forderung. Seine Documente seien echt, Holberg’s Bücher, wenn sie anders lauteten, könnten daher nur gefälscht sein.

Holberg entgegnete, er sehe ferneren Schritten Frank’s ruhig entgegen; dieser möge dabei nur bedenken, daß er ein noch immer in Deutschland steckbrieflich verfolgter Betrüger sei.

Hiermit schloß die Correspondenz. Eine Notiz von fremder Hand auf dem letzten Briefe bemerkte, daß Frank bald nach dessen Empfang gestorben sei. Beigefügt war ein Rechnungsabschluß von Holberg’s Hand. Er betraf das deutsche Compagniegeschäft Holberg’s und Frank’s und lautete in der That auf ein reines Geschäftsvermögen von dreimalhunderttausend Dollars.

Holberg, der edle Freiherr von Holberg, der weit und breit hochgeachtete Kaufmann, mein treuester, liebster Freund, also wirklich Betrüger und Fälscher! Betrüger nach seinem eigenen Zeugnisse, und Fälscher nach einem Vorwurfe, auf den er nur mit einer Drohung hatte antworten können! Und jetzt gar, seit der heutigen Nacht –! Ich konnte den Gedanken nicht ausrenken, den ich dennoch nicht von mir weisen konnte. Es schüttelte mich wie Fieberfrost.

Fast mechanisch nahm ich nur noch den kleinen Schlüssel, den der Polizeidirector mitgesandt hatte, um damit die auf der Leiche gefundene Kapsel zu öffnen. Er paßte zu dem kleinen Schlosse. Ich öffnete es. Es lagen zusammengefaltete Papiere darin. Das erste, das ich entfaltete, war ein Taufschein für einen Sohn von Frank. Das zweite ein Originalbrief Frank’s an Holberg. Bei seinem Lesen ergriff mich eine fast tödtliche Angst.

Er war wenige Wochen älter, als jener Vermögensabschluß [610] Holberg’s über das gemeinsame deutsche Geschäft. Frank bat Holberg darin, dem deutschen Geschäfte, als diesem gehörig, eine Reihe speciell benannter Capitalien zum Betrage von mehr als zweimalhunderttausend Dollars zuzuschreiben und ihm darnach unter Hinzurechnung dieser Capitalien schleunig den Vermögensabschluß des deutschen Geschäfts zu übersenden. Den Grund zu dieser Bitte wolle er ihm in seinem nächsten Schreiben angeben; es fehle ihm jetzt an Zeit, da die Sache eilig sei und der Brief sofort zu dem wartenden Dampfboote müsse.

Ich hatte auf einmal Licht. Wie der Brief in die Hände seines Schreibers zurückgekommen war, blieb mir ein Räthsel. Alles Andere stand klar vor mir.

Wenige Monate nach der Zeit, da der Brief geschrieben, war in Amerika eine jener Handelskrisen ausgebrochen, mit denen Schwindel aller Art jenes Land mitunter heimsucht. In den Schwindel hatte sich unzweifelhaft auch Frank hineingeworfen, der erfahrene, gewandte Betrüger. Um ihn mehr zu benutzen, hatte er sich von Holberg den falschen Vermögensabschluß geben lassen; unter Vorzeigung desselben und seines Gesellschaftsvertrags mit Holberg konnte er sich natürlich einen großen Credit verschaffen. Holberg, der ihn erst später als den Betrüger kennen lernte, hatte sich durch sein Vertrauen zu dem Mann, der sich in Amerika zuerst seiner angenommen und dem er den Grund seines Glückes verdankte, zur Aufstellung des Abschlusses verleiten lassen. Die Krisis hatte bald nachher Frank mit ergriffen. Auch seine Trennung von Holberg und die dreißigtausend Dollars, die er dadurch baar erhielt, halten ihn nicht retten können. Später, vor ungefähr drei Jahren, nachdem wahrscheinlich seine Gläubiger selbst unterdeß gestorben, verdorben und verloren waren, hatte er von dem Abschlusse gegen Holberg Gebrauch gemacht, zu der Aufstellung der Theilungsforderung in jener Correspondenz.

Der alte Schurke war darüber gestorben. Sein Sohn, nicht besser als der Vater, hatte sich in neuerer Zeit auf den Weg nach Deutschland gemacht, um die Ansprüche des Vaters an Ort und Stelle zu verfolgen. Vielleicht hatte er nur den Brief Holberg’s an diesen verkaufen wollen. Er war unterwegs von dem verbrecherischen Abenteurer Richter ermordet worden. Diesen hatte jetzt eine andere Mörderhand getroffen. Und dieser zweite Mord? Der erste hatte seinem Urheber keine Früchte eintragen sollen, und der zweite –?

Holberg war kein Betrüger, kein Fälscher. Er hatte wahrscheinlich – nach seiner Unterredung mit mir am vorigen Abende erschien es mir unzweifelhaft – objectiv falsche Eintragungen in seine Bücher gemacht, aber nicht um zu betrügen, sondern nur um sich gegen einen frechen Betrug zu schützen, gegen den er kein weiteres Schutzmittel hatte. Es war ein Fehler, ein großer Fehler; aber es war kein Verbrechen. Wurde der Grund bekannt, es konnte kaum seiner Achtung, die er überall genoß, Abbruch thun. Und die ganze Sache blieb begraben, wenn der Ermordete wenige Stunden früher noch lebend wäre betroffen worden. Welchen furchtbare Schicksal hatte eine bis dahin fleckenlose Hand zum Morde geleitet!

Ich mußte zum Schlosse. Frau von Holberg hatte von Neuem mich bitten lassen. Es war ein schwerer Gang. Ich trat in ein Trauerhaus. Die Diener schlichen gesenkten und bleichen Hauptes einher. Zu der Trauer hallen sich Schreck und Angst gesellt. Ich wurde durch das todtenstille Haus zu dem Zimmer der Baronin geführt. Aus dem Wege dahin öffnete sich leise eine Thür. Therese, die Tochter Holberg’s, stand darin. Sie hatte mich ankommen sehen und winkte mit den, blassen, verweinten Gesichte mich zu sich. Ich konnte nicht an ihr vorbeigehen. Sie ergriff meine Hand.

„O, wo ist der Vater? Wissen auch Sie es nicht?“

Ich wußte es ja so wenig wie sie.

„Und was ist noch mehr vorgefallen? Die Mutter will keins von uns Kindern zu sich lassen, und wir dürfen nicht aus unseren Zimmern. Die Bedienten schütteln stumm, aber weinend den Kopf, wenn wir sie fragen. Es muß noch ein großes Unglück geschehen sein, das wir nicht erfahren sollen.“

Die Arme, sie wußte von dem Tode des Amerikaners noch nichts. Ich mußte sie mit allgemeinen Worten trösten.

„Ich gehe zu Ihrer Mutter, Therese. Ich selbst wünsche von ihr noch so Manches zu erfahren. Vertrauen Sie auf den lieben Gott, der die Schicksale der Menschen regiert.“

Sie nahm noch einmal meine Hände. „Wenn Sie zur Mutter gehen, so bitten Sie sie, daß sie mir verzeiht. Es war ein unbedachtes Wort, das ich zu ihr sprach. Sagen Sie ihr das. Ich will gern Alles thun, um den Vater zu retten.“

Eine schwere Ahnung durchflog mich. „Was müßte die Mutter Ihnen verzeihen? Was hätten Sie zu ihr gesprochen?“

„Als der Mr. Jones fort war, als die Mutter mit dem Vater gesprochen hatte, theilte sie mir mit, daß der Vater Verbindlichkeiten gegen den Mann habe, die er nicht lösen könne, und daß der Amerikaner dafür meine Hand gefordert habe. Ein Schreck fuhr mir durch den ganzen Körper, ein Grausen. „Mutter, es ist nicht möglich!“ mußte ich rufen. „Nie kann der Mensch mein Gatte werden!“ Es war unbedacht, unüberlegt von mir. Ich will ja gern Alles für meinen braven Vater thun. Sagen Sie das der Mutter. O, wenn ich wüßte, wo der Vater ist, ich würde selbst zu ihm eilen, auf der Stelle, und es ihm sagen, daß ich morgen, heute die Frau des Amerikaners werden will.“

„Braves, braves Kind! Ja, Du bist die Perle unter seinen, unter allen Kindern.“ – Armes, armes Kind! mußte ich draußen fast laut aufweinen.

Ich kam zu der Mutter. Sie flog mir mit dem leichenblassen Gesichte entgegen. Weinen konnte sie nicht; die furchtbarste innere Angst hielt ihre Thränen zurück. Mit den trocknen, heißen Augen starrte sie mich an, als wenn sie in meinem Gesichte Leben oder Tod suche.

„Er ist ermordet?“ rief sie.

Ich konnte es ihr nicht verschweigen. „Alle Anzeichen sprechen bis jetzt für eine gewaltsame Tödtung.“

„Und wer ist der Mörder? O, verhehlen Sie mir nichts. Martern Sie mich nicht mit Ungewißheit, wecken Sie keine leeren Hoffnungen in mir.“

„Der Thäter ist noch nicht ermittelt.“

„Der Seiltänzer ist es nicht?“

„Ich halte ihn nicht dafür.“

„So ist er, nur er es – nur er –“

„Gnädige Frau,“ rief ich entsetzt, „wie können Sie selbst –? Nein, nein! Wen halten, wen können, wen dürfen Sie für den Mörder halten?“

„O mein Gott, wenn Sie meinen armen, unglücklichen Gatten gesehen hätten!“

Ich nahm ihre Hand und führte sie zum Sopha. „Setzen wir uns, gnädige Frau, um über den wichtigsten und zugleich schrecklichsten Gegenstand so viel möglich mit derjenigen Ruhe zu sprechen, deren seine Erörterung für uns Beide bedarf. Noch ist kein Beweis da, noch ist der Name Ihres Gatten nicht ausgesprochen. Es liegt eine gewaltsame Tödtung vor. Das Verbrechen ist aller Wahrscheinlichkeit nach an der Parkbrücke verübt. Von der Brücke ist der Amerikaner in das Wasser geworfen worden, in dem er seinen Tod gefunden hat. Weiter ist bis jetzt nichts ermittelt. Theilen Sie mir jetzt Alles mit, was Sie wissen und mir vielleicht noch nicht vollständig gesagt haben. Wir gelangen auf diese Weise vielleicht am ersten zu den Spuren des Thäters; mögen sie dann führen, wohin das Schicksal sie einmal bestimmt hat.“

Sie hatte sich gefaßt.

„Ich hatte Ihnen heute Nacht nicht Alles gesagt,“ sagte sie.

„Ich ahnte es. Sie hatten Geheimnisse, die Sie mir ohne die größte Noth nicht anvertrauen durften.“

„Es galt die Ehre meines Mannes. Verzeihen Sie mir.“

„Sie haben gehandelt, wie Sie handeln mußten. Jetzt kann ich Ihnen sagen, daß die Ehre Ihres Mannes gerettet ist.“

Sie erblaßte doch von Neuem. „Wie?“ rief sie in einer schrecklichen Ahnung.

„Niemand kann Holberg mehr zu einem Betrüger und Fälscher machen. Ich habe die Beweise in den Händen.“

„Allmächtiger Gott, und jetzt ist er ein Mörder!“

Es war ein furchtbarer, herzzerreißender Aufschrei. Sie konnte sich erst nach langer Zeit wieder erholen. Ich theilte ihr dann von den Papieren mit, die der Polizeidirector in der Untersuchung, und die ich auf der Reiche den Amerikaners gefunden hatte; ich legte sie ihr vor, ich hatte sie mitgebracht; ich setzte sie von den weiteren Ermittelungen über die Person dieses letzteren in Kenntniß. Ich fügte meine Combinationen hinzu.

„Sie haben richtig combinirt,“ sagte sie. „Auch in Betreff [611] der Bücher meines Mannes. Nachdem Frank, sein früherer Compagnon, die Gesellschaftsverträge aufgelöst und seinen Antheil herausbezahlt erhalten hatte, fiel meinem Manne seine Unvorsichtigkeit bei Ertheilung des unrichtigen Abschlusses über das Geschäft in Deutschland schwer auf das Herz. Er forderte ihn von Frank zurück. Dieser antwortete nicht. Mein Mann reiste selbst nach Amerika; die Sache war ihm wichtig genug; seine Ehre stand auf dem Spiele. Frank verhöhnte ihn, und erst jetzt lernte mein Mann den Betrüger kennen, der sich lange vor ihm zu verbergen gewußt, weil er zugleich mit dem geachteten Namen meines Mannes speculirt hatte. Er drohete meinem Manne, wenn er ihn noch ferner belästige, ihn als Betrüger verhaften zu lassen, auf Grund jenes falschen Abschlusses, der nur zu betrügerischen Geschäften habe gemacht werden können. Dagegen war mein Mann nun zwar gesichert durch den Brief, in welchem Frank ihn um den Abschluß gebeten hatte. Aber wie groß war sein Schreck, als er von dem Betrüger in seinen Gasthof zurückkehrte und den Brief nicht mehr vorfand! Er hatte ihn nach Amerika mitgenommen, um ihn, wenn Frank es verlange, gegen den Abschluß auszutauschen. Während er bei Frank gewesen, war ihm der Brief mit anderen Papieren aus seinem Zimmer entwendet worden. Der Dieb war durch Nachschlüssel in das Zimmer gelangt. Man hatte zu der Zeit einen verdächtigen jungen Menschen am und im Hause umherschleichen sehen. Frank’s Sohn war in dem gleichen Alter. Mein Mann sah jetzt klar, in welchen Händen er sich befand. Er reiste nach Deutschland zurück. Er hatte nur Einen Gedanken, wie er sich vor dem Verdachte des doppelten Betrugs gegen die Gläubiger Frank’s und gegen diesen selbst schützen könne. In seiner Angst – Sie waren damals noch nicht hier, einen anderen Freund, dem er sich anvertrauen mochte, hatte er nicht – so kam er in seiner und meiner Angst auf den unglücklichen Gedanken, falsche Eintragungen in seine Bücher zu machen. Es hat nachher schwer genug auf ihm gelastet, auf ihm und auf mir, so schwer, daß wir selbst Ihnen uns nicht anvertrauen konnten. – Sie sehen jetzt zugleich das Räthsel gelöst, wie jener Brief in die Hände Franks zurückgekommen ist.

Und mit jenen betrügerischen Ansprüchen unser halbes Vermögen und noch mehr, zuletzt unser Kind fordernd, kam, wie wir meinten, der Sohn des Betrügers hierher, selbst ein gemeiner, frecher Betrüger, wie wir jetzt erfahren, ein gemeiner Mörder, sondirte wochenlang Boden, Personen, Zustände, Verhältnisse, verbarg sich halb und gab sich halb zu erkennen, ließ drohende Winke fallen und schmeichelte wieder, zeigte uns täglich das tödtente, selbst die Ehre vernichtende Schwert über unseren Häuptern, wälzte centnerschwere Last auf uns, nahm meinem Manne seine Kraft und seinen Muth, um dann auf einmal mit einem letzten, gewaltsamen Schlage uns ganz zu vernichten, für sich Alles zu gewinnen. Gestern führte er den Schlag aus.

O mein Freund, ich hatte Ihnen nicht Alles gesagt. Ich konnte es unter dem fürchterlichen Drucke, in der entsetzlichen Angst nicht. Mein Mann hatte mich nicht in jener Ungewißheit zurückgelassen. Er theilte mir seine Unterredung mit dem Amerikaner mit; lassen Sie mich ihn noch so nennen. Mit dem kältesten, frechsten Hohne hatte der Mensch ihn geradezu einen Betrüger, einen doppelten Betrüger, genannt, und von ihm die Herausgabe des seinem Vater und dessen Gläubigern geraubten Vermögens gefordert.

Mein Mann, nachdem er sich von dem ersten Schreck erholt, hatte ihm die Thür gewiesen. Der Amerikaner hatte gelacht.

„Pah, Sir, Sie haben in Amerika profitirt und nicht profitirt. Man streitet den Leuten ab, was man ihnen schuldig ist; aber man wirft sie erst zur Thür hinaus, wenn man ihnen bezahlt hat, was man ihnen nicht abstreiten kann. Und bezahlen müssen Sie, denn ich habe Beweise und Sie haben keine. Der Brief von meinem Vater ist Ihnen gestohlen, sagen Sie, und Sie werden vielleicht gar behaupten wollen, ich sei der Dieb –“

„Du Elender bist es,“ rief mein Mann.

„Haben Sie Beweise, Sir?“

„Frecher Schurke –“

„Sir, durch Schimpfen rettet man sich nicht. Auch hier nicht. Man hat hier vortreffliche Gerichte, und ich sage Ihnen, Ihre Million gehört mir und das Zuchthaus gehört Ihnen. Indeß, Sir, das Zuchthaus will ich Ihnen abkaufen. Sie haben eine liebenswürdige Tochter.“

„Unverschämter Bösewicht!“

„Und ich liebe sie –“

„Kein Wort weiter!“

„Und, Sir – ereifern Sie sich nicht, ich kann von hier geradeweges zu den Gerichten gehen – und, Sir, ich bitte Sie hiermit um die Hand Ihrer Tochter –“

Mein Mann hatte die Thür geöffnet.

„Hm. Sir, ich gehe. Ich sehe, Sie sind hier auf Ihrem Schlosse nur halber Geschäftsmann. In Ihrem Comptoir in der Stadt werden Sie traitabler sein. Morgen Mittag um zwölf Uhr werde ich dort bei Ihnen sein, um Ihr väterliches Jawort zu holen und unser ganzes Geschäft abzuwickeln. Sie haben dann die Wahl, ob Sie schon die morgende Nacht als Betrüger im Kerker zubringen wollen –“

Mit der Drohung ging er. Unter ihrer Last, unter der furchtbaren Last des ganzen Gesprächs fand ich meinen Mann. Er theilte es mir mit. Die Mittheilung konnte ihn nicht erleichtern. Sie rief nur neuen Schrecken, neuen Zorn und eine lockende Wuth in ihm hervor. So mußte er in’s Freie. Ich konnte ihn nicht halten. Daß er mit dem Menschen zusammentreffen könne, meine Seele hatte keine Ahnung davon. Und dürfen wir zweifeln, daß er mit ihm zusammengetroffen sei? Dürfen wir zweifeln an dem fürchterlichen Unglück, an dem Verbrechen? Und das Glück, das rettende Glück stand so nahe bei ihm. Zwei. zwei armselige Stunden später! Und jetzt die Ewigkeit des Verderbens! des Verbrechens! O großer Gott im Himmel, warum mußte es so kommen?“

Ich hatte wohl eine Antwort auf die Frage. Aber wäre sie eine tröstende für die arme Frau gewesen? Und ich, hatte gar keinen Trost, keine Hoffnung mehr für sie. Mit jener kochenden Wuth in der Brust war ihr Mann in die Nacht, in den Park gegangen. Er war mit dem Amerikaner, den der Seiltänzer aufgehalten, zusammengetroffen. Der cynische Mensch hatte ihn mit neuem, rohem Hohn behandelt. Ha, Sir, Sie haben sich besonnen! Jetzt schon? Sie kommen mir nach. Sie wollen mir die Hand Ihrer Tochter geben, selber anbieten. Es ist liebenswürdig, es ist verständig von Ihnen! – Da war die auf den Tod kochende Wuth des braven Mannes, des Edelmannes, des an seinem Vermögen, an seiner Ehre, an seinem Herzen, an der Liebe zu der Perle seiner Kinder verletzten und vernichteten Mannes zur vollen, wild lodernden Gluth emporgeschlagen. Er hatte den Elenden gepackt – er war ein fester, kräftiger Greis – er hatte ihn geschüttelt, er hatte ihn die Brücke hinunter in den Strom geworfen.

Meine Phantasie schuf mir das Bild. Aber konnte ich zweifeln, daß ich die klare, nackte, schreckliche Wirklichkeit sah? Was nun weiter? Die entsetzliche Frage trat wieder an mich heran. Ich sollte diesmal eine Antwort nicht suchen müssen. Ein Wagen fuhr auf den Hof des Schlosses. Wir eilten ahnungsvoll an das Fenster. Holberg stieg aus dem Wagen, langsam, mit bleichem Gesichte. Die Frau sprang von den, Fenster zurück. Sie wollte aus dem Zimmer stürzen, dem Gatten entgegen. Mitten im Zimmer brach sie zusammen.

„Allmächtiger Gott!“ schrie sie auf, aus einer Brust, die die Angst zu erdrücken drohte.

Ich mußte sie zu dem Sopha führen. Da wurde es unten, draußen laut. Heller Jubelruf ertönte. Es waren die hellen Stimmen der Kinder. Das Geräusch des Wagens hatte auch sie an das Fenster gezogen. Sie hatten den Vater erkannt, den vermißten, unter Sorgen und Angst die ganze Nacht gesuchten Vater, um den die Todesangst der Mutter das Herz zugeschnürt hatte, um den kein Schlaf in ihre Augen gekommen, um den die liebenden Kinderherzen so sorgen- und angstvoll sich gebangt halten. Er war wieder da.

„Der Vater, der Vater!“ riefen, jauchzten und jubelten sie. „Der Vater ist wieder da!“

Kein Befehl der Mutter, der sie in ihre Stuben gebannt hatte, hielt sie mehr. Sie stürzten in die Corridors, die Treppen hinunter, aus dem Hause, auf den Hof, zu dem Wagen, zu dem Vater.

„Vater! Vater! Du bist wieder da, Vater!“ Sie umfaßten seine Hände, sie hielten sich an seinem Rock, an seinen Armen.

„Zur Mutter!“ riefen sie. „Wie wird die Mutter sich freuen!“ Sein bleiches Gesicht, seine entstellten Züge hatten sie nicht [612] gesehen. Sie sahen ja nur den wiedergefundenen Vater. Sie zogen ihn im Triumphe in das Haus, die Treppen hinauf. Ihr Jubel durchdrang noch das Innere des Hauses. Aber allmählich wurde er stiller und stiller. Der Vater hatte noch kein Wort gesprochen. Seine Hand hatte noch Keins von ihnen geliebkost. Da sahen sie nach seinem Gesichte; sie sahen, wie bleich, wie entstellt es war. Ihr Jubel wurde weniger laut. Als sie das Zimmer der Mutter erreicht hatten, war er ganz verstummt. Und mit bleichen und entstellten Gesichtern traten sie Alle, still, wie ein Leichenzug, zu der unglücklichen Frau. Sie war aufgesprungen. Auch sie sah nicht zuerst in sein Auge. Sie konnte es nicht, die liebende Gattin.

„Du bist kein Betrüger, kein Fälscher, Friedrich!“ rief sie.

„Hier ist der Beweis. Der Brief ist wieder da.“

Sie hielt ihm den Brief hin, den ich in der Kapsel des Amerikaners gefunden hatte. Er warf einen Blick auf das Papier.

Ich nahm die Hände der Kinder.

„Kommt, kommt! Laßt den Vater und die Mutter jetzt allein. Sie haben mit einander zu sprechen. Ihr sollt ihn nachher begrüßen.“

Sie verließen gehorsam das Zimmer. Als ich mich wieder umwandte, stand Holberg mit verhülltem Gesichte da. Betrüger und Fälscher war er nicht.

„Aber ein Mörder!“ rief er. „Ewiger Gott, warum mußte es sein?“

Auch er fragte es. Dann trat er zu seiner Frau.

„Ernestine, kannst Du dem Mörder verzeihen? Du, Du? Die Anderen dürfen es nicht. Aber Du darfst es. Kannst Du es auch?“

Sie lag schon an seiner Brust, sie hielt ihn mit ihren beiden Armen umschlungen.

„Friedrich, Dir gehört mein Herz, meine Liebe, mein Alles, bis zu meinem letzten Athemzuge.“

„Ich wußte es, mein braves Weib. Aber ich mußte es von Dir hören. Darum kam ich noch einmal hierher zurück.“

Er wandle sich zu mir. „Meine That – ich war nicht Herr meiner Vernunft und meiner Sinne, als ich sie verübte; da sie geschehen war, wie entsetzlich klar war es da auf einmal in mir! Für mich war Alles vorbei. Ich floh zur Stadt, zu Dir, nicht zu dem Freunde, zu dem Strafrichter. Du warst nicht da. Ich erfuhr, daß Du hier seist. Ich mußte das Wort Verzeihung von den Lippen meiner Gattin hören. Jetzt – Aber darf ich noch einmal allein auf mein Zimmer gehen, ehe Du mich verhaftest?“

„Geh!“ sagte ich unter einer entsetzlichen Ahnung.

Er ging. Ich nahm die Hand der Baronin. „Meine Freundin, fassen Sie sich.“

Auch sie hatte errathen, was ich ahnte.

„Muß es sein?“ fragte sie.

„Gott wird entscheiden.“

Wir horchten Beide mit angehaltenem Athem, mit klopfenden Herzen, mit zitternden Gliedern. Nach einer Minute fiel ein Schuß; in dem Zimmer des Schloßherrn.

„Es ist geschehen!“

Die Baronin sank vor dem Sopha auf die Kniee. Sie betete still. Es war geschehen. Warum mußte es so kommen? Ich hatte vorher gemeint, eine Antwort auf die Frage zu haben, aber kann der Mensch sich vermessen, auf die Frage zu antworten? Aber bedenken soll er immer und immer, und es sich tief und fest einprägen, daß der eine Fehler, sei er auch noch so klein und unbedeutend, so leicht weiter und weiter bis zuletzt in den Abgrund führt, und daß auch die edelsten Leidenschaften, wenn die Vernunft sie nicht zu zügeln versteht, den Weg zum Verbrechen und zum Verderben bahnen.