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Des Paschas Billardbein

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Textdaten
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Autor: M. Eyth
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Titel: Des Paschas Billardbein
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 14, S. 504–510
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1898
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger G. m. b. H. in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[504]

Des Paschas Billardbein.

Erinnerung aus dem Leben eines Ingenieurs.
Von M. Eyth.


Ein unerklärlicher Kindertraum hat mich als Jungen jahrelang mit heimlicher Sehnsucht erfüllt. Ich sprach mit niemand darüber, wie man nicht über Dinge spricht, die unser Innerstes bewegen. Doch ganz ohne Aeußerung blieb dieses Gebilde kindischen Traumlebens nicht. Meine Schulhefte und vor allem eine Schulausgabe von Ciceros Reden gegen Catilina, die einen breiten weißen Rand hatte, wimmelten von Pyramiden. Die Herren Professoren, außer dem alten Zeichenlehrer, den niemand beachtete, schüttelten die Köpfe. Denn man hielt sie für Dreiecke und sah darin einen unpassenden Hang zur Geometrie und zu anderen unklassischen Ällotria. Daneben fand sich wohl manchmal auch ein kleiner, mißgestalteter Hund, für den ich rückhaltlos ausgescholten wurde. Sogar der Zeichenlehrer mußte hier den Kopf schütteln. Ich schwieg still, im Gefühl erlittenen Unrechts. Es war gar kein Hund. Es war die Sphinx, das Rätsel alles Lebens, am Fuß der Grabdenkmale der ältesten Könige der Welt. Welche Erbärmlichkeiten waren dagegen die Republik Rom und die ganze römische Plebs samt dem langen Cicero! Das Ziel meiner kindlichen Sehnsucht war Aegypten.

Mein Traumland aber mit seinen ernsten geheimnisvollen Göttern, die keine unübersetzbaren Dummheiten machten wie Zeus und Aphrodite und Hermes, mit seinen tausendjährigen Menschen, die mit offenen Augen in ihren Felsengräbern lagen, als ob sie morgen aufstehen und ihre braunen, steifen Arme strecken wollten, mit seinem heiligen Strom und dem stillen Mörissee abseits in der Wüste, am Ufer Flamingos und Pelikane und ein schlummerndes Krokodil: das alles schien so unsäglich fern, unerreichbarer als der Himmel! Und nun hatte ich es doch erreicht. Völlig unerwartet, fast plötzlich. Gestern noch, schien es mir, war ich im Schnee des Brenners stecken geblieben; heute brannte die Sonne Afrikas auf meinen Schädel. War es zu verwundern, daß es mir seit sechs Wochen manchmal zu Mute war, als sei ich hinter dem Cicero eingeschlafen und träumte noch immer meinen alten Kindertraum; besonders morgens, kurz vor dem eigentlichen Erwachen, wenn die Mosquitos satt waren und ringsum Friede herrschte, im stillen Schimmer des erwachenden Morgens.

Vollends heute stand ich thatsächlich vor dem allzufrühen, unvermeidlichen Erwachen. Es war mein letzter Morgenritt von Kairo nach Schubra. Wir dachten wenigstens so, mein Esel, ich und selbst der kleine braune Eselsjunge Ali-Machmud, mit dem ich mich seit vier Wochen notdürftig zu verständigen gelernt hatte. Eine große Wehmut lag über uns und dem milden ägyptischen Frühlingsmorgen, der täglich heißer und mir trotzdem täglich lieber geworden war.

Mein Esel, welcher mit dem feinen Sinn orientalischer Höflichkeit je nach der Nationalität seines Reiters abwechslungsweise den Namen Radetzky, Palmerston und Napoleon führte, betrauerte den prächtigen ägyptischen Klee, in dem er tagsüber, während ich meiner Arbeit nachging, unbelästigt von verkehrten Eigentumsbegriffen, auf den mit Dampfkraft bewässerten Wiesen von Schubra botanisieren durfte. Ali-Machmud beweinte einen Herrn, den er seit einem Monat ohne Schwierigkeit täglich um fünf Piaster prellen konnte, und ich empfand zum voraus eine Art Heimweh nach dem träumerischen Nilbild, von dem ich noch so wenig gesehen hatte und das ich jetzt schon, vielleicht auf Nimmerwiedersehen, verlassen sollte.

Denn ich befand mich nur auf der Durchfahrt in Aegypten. Mein Reiseziel war eine Indigoplantage am Brahmaputra in Assam, wohin ich zwei Dampfpflüge bringen sollte, die vorläufig noch zwischen der Kapstadt und Kalkutta auf dem Indischen Ocean schwammen. Mein Koffer barg, gestempelt und gesiegelt, einen zweijährigen Vertrag mit einer indisch-englischen Jndigogesellschaft, neben einer blechernen Chininkapsel, groß genug, ein halbes Bataillon der britischen Armee den giftigsten Sumpffiebern zu entreißen. In dem Vertrag verpflichtete sich der Unterzeichnete, ohne Verzug und mit möglichster Beschleunigung bei der Firma Prescott & Co. in Kalkutta einzutreffen. Der für mich bestimmte Piäno-Dampfer[1] sollte spätestens in drei Tagen von Suez abgehen. Prescott und die Chininkapsel sollten dann weiter helfen. Doch wer konnte voraussehen, wie sich in den kommenden zwei Jahren mein Vertrag und diese Kapsel zusammen vertragen würden? Assam klingt nicht sonderlich vertrauenerweckend. Wenn ich nicht so entsetzlich europamüde gewesen wäre, so wären beide, Vertrag und Kapsel, wohl nie dazu gekommen, mein Leben zu [505] beherrschen. Nun war ich aber in Afrika, im Land meiner alten kindischen Sehnsucht, und noch keineswegs afrikamüde.

Das wäre nicht leicht gewesen unter den Sykomoren, die den Weg von Kairo nach Schubra überdachen. In der Nähe der Stadt, wenn man die Geleise der nach Alexandrien führenden Bahn überschritten hat, haben wir uns durch ein buntes, lustiges Gewimmel von wunderlichen Menschen und Tieren zu kämpfen. Hier sehen wir Ketten von Kamelen, die in behaglich schwingendem Gang und sich mürrisch räuspernd nach den Steinbrüchen des Mokattam ziehen, wandelnde grüne Berge von Klee, unter denen die emsigen Füßchen der Esel kaum zu sehen sind. Dort begegnen wir Rudeln halbverschleierter, aber trotz dieser mangelhaften Hülle lachender und kreischender Fellahweiber, die Eier, Ziegenbutter, Melonen und Orangen kunstvoll auf dem Kopfe wiegen; dazwischen erscheint ein stattlicher Dorfschech, hoch zu Roß, ein grünbeturbanter, würdiger Imam, auf weißem Esel, von zwei Saisen (Dienern) mit sorgsamer Verehrung geleitet. Dann rollt unter lautem Geschrei: „Platz, Platz, ihr Gläubigen! Links! Rechts, ihr Hundesöhne!“ eine schwerfällige Haremskutsche hinter dem prachtvollen Arabergespann, eine Herde Ziegen mitten entzweispaltend. Ein lautes, farbiges Gedränge; das lebendige Blut, das der alten Khalifenstadt aus dem unerschöpflichen Delta zuströmt!

Fellahpflug. Dampfpflug.
Das Pflügen der Baumwollfelder in Unterägypten.
Nach einem Aquarell von M. Eyth.

Nach einer Viertelstunde wird die Masse lichter, die Umgebung stiller. Der reizende Palast, den Said Pascha für die viceköniglichen Gäste hatte erbauen lassen, liegt hinter uns. Rechts zwischen den riesigen Baumstämmen der Allee hindurch erblickt man halbzerfallene Häuser in verwilderten Gärten, in denen Aloe, Kaktusbirnstauden und stumpige Dattelpalmen sich zu wirrem Gestrüpp verschlingen; links das weite Nilthal, das sich nach dem Delta hin grün und sonnig ausbreitet: denn die Schubraallee ist gleichzeitig der Damm, der das Überschwemmungsgebiet des Stroms begrenzt.

Die Pumpstation von Schubra bei Kairo.
Nach einem Aquarell von M. Eyth.

[506] Da und dort blitzt der Spiegel des Flusses, der bereits, Ende Februar, tief in sein Bett zurückgesunken ist. Entlang der Ufer prangt schon das glänzende Grün des ägyptischen Maises, und hin und wieder, in noch hellerer Farbe, das eines kleinen Zuckerrohrfeldes. Der Weizen schießt üppig aus dem kaum getrockneten Nilschlamm empor. Weiter hinaus erheben sich über der blaugrünen Fläche des Deltas in wundervoller Zartheit zahlreiche Gruppen von Palmen, die die Lage von Fellahdörfchen bezeichnen. Dazwischen, als ob sie durch die Kleefelder glitten, wie Schmetterlinge, die hoch aufgerichteten, weißen Segü zahlloser Nilboote. Am Horizont endlich die gelbe Libysche Wüste, starr und glühend im schattenlosen Sonnenlicht, und dort drüben die zwei großen Pyramiden von Giseh, jene unverwüstlichen Grabdenkmale einer Vergangenheit, die auch heute noch nicht zu sterben vermag.

Eine stille Welt voll unerschöpflichen Lebens. In dem tiefen Staub der grünüberwölbten Straße versinkt jeder laute Ton. Vogelgezwitscher kennt der ägyptische Frühling nicht. Was singt, ist schon auf dem Wege nach dem kühleren Norden. Das Krächzen eines hundertjährigen Schöpfrades im nahen Buschwerk wird lauter und verstummt wieder, während wir vorüberreiten. Lautlos stehen ein paar schwarze Büffel im Sumpf am Wege; lautlos breitet dort ein Araber seinen Gebetsteppich aus und beginnt, gegen Mekka hin, seine feierlichen Verbeugungen und seine stillen Gebete, ohne daß es jemand einfällt, ihn auch nur anzusehen.

Jetzt pfeift es in weiter Ferne, kaum hörbar. Wir spitzen die Ohren, der eine von uns dreien in hervorragender Weise. Nach drei Minuten ein zweiter, und – Gott sei Dank! – nach sechs Minuten ein dritter Pfiff. Das war die Sorge und Freude meines Lebens. Der erste ägyptische Dampfpflug läuft noch! Das aufmerksame Langohr, das seinen Frühstücksklee wittert, erhält einen erfrischenden Hieb, Ali-Machmud schreit sein Schimala! Yemenak! (Rechts! links!), obgleich uns die ganze Straße zur Verfügung steht, lauter, und in thatenfreudigem Galopp geht es weiter. Durch die Bäume schimmert jetzt ein mächtiges, himmelblau angestrichenes Gebäude, in dem orientalischen Stile, wie sich ihn die Italiener und Franzosen zurechtgelegt haben. Es ist der von Mohammed Ali erbaute Sommerpalast von Schubra, heute – wir schreiben 1863 in der Christenwelt – das Schloß oder, wie man es hier nennt, das Harim seines einzigen noch lebenden Sohnes Halim Pascha, welcher der erbberechtigte Nachfolger des seit einigen Monaten regierenden Vicekönigs Ismael Pascha ist. Der kluge und gewaltthätige Begründer der viceköniglichen Familie Aegyptens hatte sich in seinen alten, friedlicheren Tagen diesen Wohnsitz am Ufer des Nils inmitten eines prächtigen Parks und eines Landgutes von etlichen tausend Hektaren geschaffen, um Landwirtschaft zu treiben, und machte hier seine Versuche mit Baumwolle und Opium, Zucker und Thee, Indigo und Pfeffer, schweizer Kühen und arabischen Pferden. Hier wohnte heute noch Halims Mutter, eine Beduinin von Geburt, somit eine Araberin, die den Aegyptern deshalb näher stand als die andern Glieder der türkischen Herrscherfamilie. Sie war infolge hiervon zur Zeit die einflußreichste Frau am Hofe von Kairo und teilte das innere Regiment des Harims mit ihrem Sohne, der, wie es sich später zeigen sollte, vergebens auf den ihm nach mohammedanischem Rechte gebührenden Thron wartete.

Unaufgefordert nahm mein verständiges Langohr die gewohnte Wendung nach rechts und trottete einem Bewässerungskanal entlang, welchen die erste und älteste Dampfpumpe des Landes um diese Jahreszeit mit dickgelbem Nilwasser füllte, das sie drei Meter hoch zu heben hatte. Gleichzeitig kamen aus der Richtung von Heliopolis, dessen einsamer Obelisk, der einzige Rest der alten Priester- und Königsstadt, nur dreiviertel Stunden von hier in einem Weizenfeld steht, all die gewohnten Töne über die weiten, flachen, von Kanälen in allen Richtungen durchschnittenen Felder des Gutes: das Rasseln und Klingen der Stahlräder, das stockende Pusten des Dampfes, so oft die Maschinen vorrückten, ihr emsiges Keuchen, wenn sie den Pflug von Maschine zu Maschine über das Feld zogen. Dort schreiten fünf Kamele mit gefüllten Wasserschläuchen einher, die mein Anblick in gelinden Trab versetzt, denn ihr Führer kennt den unter meinem Befehl arbeitenden Stecken des kleinen Ali-Machmud, wenn er ihn auch nicht fürchtet; hier liegt ein umgestürzter Kohlenkarren echt ägyptischer Konstruktion, d. h. aus den Trümmern eines Pulverwagens und einer Staatskutsche mit zahllosen Dattelpalmstricken kunstvoll zusammengefügt, in einem Bewässerungsgraben. Aber es pfeift; es pfeift in regelmäßigen Zwischenräumen. Das sind die Signale der sich antwortenden Doppelmaschinen. Das Fuhrwerk läuft noch! Niemand, der die Jugendzeit der Dampfkultur nicht mit erlebte, kann sich vorstellen, mit welcher Freude mich damals jeden Morgen dieses Pfeifen erfüllte, mit welchem Kummer ich ungefähr ebenso oft der Todesstille entgegenritt, die mir anzeigte, daß der Kuckuck wieder los war. Arabisches Dampfpflügen war kein Kinderspiel in jenen Tagen.

Der Stand der Dinge war nämlich der folgende: Im Jahre zuvor, während der halb internationalen „Battersea“-Ausstellung der englischen Landwirtschaftsgesellschaft hatte die französische „Illustration“ nach ihrer Art ein überaus phantasievolles Bild eines Fowlerschen Dampfpfluges des damals siegreichen „Clipdrum“-Systems veröffentlicht. Halim Pascha hatte dieses Bild gesehen und sagte sich, als morgenländischer Fortschrittsmann, der er war: Dieses Ding muß ich auch haben! So kam, von zwei der besten Arbeiter Fowlers geführt, im Herbst 1862 der erste Dampfpflug nach Aegypten, gerade rechtzeitig, um im Nilschlamm des Deltas, welcher im Oktober infolge der jährlichen Überschwemmungen ein Minimum von Tragfähigkeit besitzt, bei jeder Bewegung bis an die Achsen zu versinken. Schließlich brach, bei einem gewaltsamen Versuche, die Maschine aus ihrem selbstgegrabenen Grabe herauszuwinden, ihre Hinterachse, und unsere beiden Dampfpflüger, tüchtige Arbeiter, denen die Sache zu Herzen ging, ergaben sich dem Trunk, woran der eine, zwei Jahre später, elend gestorben ist.

Zur selben Zeit baute die Fowlersche Fabrik ihren ersten Doppelmaschinenapparat, an dem ich mich deshalb lebhaft beteiligt fühlte, weil durch meine Erfindung der Wickelvorrichtung des Drahtseils das Wesentliche dieser Konstruktion, die horizontale Windetrommel, möglich geworden war, die dem System seine noch heute geltende Bedeutung erhalten hat. Diese sich soeben vollziehende Umgestaltung im Bau der Dampfpflüge wurde Halim Pascha mitgeteilt, als die Nachricht von der versunkenen Clipdrummaschine nach England kam. Die telegraphische Bestellung eines Doppelmaschinenapparates war seine Antwort. Die ersten Versuchsmaschinen des neuen Systems arbeiteten damals noch mit Ach und Krach in Wakefield bei Leeds. Der zweite Apparat ging nach Aegypten, um in Fellahhänden mit Büffeln und Kamelen den Kampf ums Dasein aufzunehmen.

So ganz einfach war die Einführung eines neuen Dampfpflugsystems damals nicht. Wenige Wochen später brachte ein Telegramm nach dem andern jammernde Berichte aus dem Lande der Pharaonen. Dieses brach und jenes brach. Pflug und Pflüger waren im Begriff, den arabischen Afritis, den Dämonen der Wüste, zu erliegen. Ich wunderte mich keineswegs. Auch der angelsächsische Teufel spielte bei Wakefield meinem Wickelapparat und der Drahtseiltrommel die tollsten Streiche. Ich freute mich, mit Zittern und Zagen, auf die Indigoplantage am Brahmaputra und die indische Teufelswirtschaft, der ich dort entgegen ging.

Da sagte mir Mr. Fowler einige Tage vor meiner Abreise, es sei doch eigentlich schade, mich in Kalkutta sechs Wochen lang müßig auf meine Maschinen warten zu lassen, die den langen Weg ums Kap der guten Hoffnung zu machen hatten. Ich könnte jedenfalls die Zeit nützlicher mit einem Versuch vergeuden, Ordnung in Aegypten zu schaffen. So kam ich nach Kairo und zu meinem täglichen Morgenritt nach Schubra.

Die Hauptschwierigkeit, mit der ich zunächst zu kämpfen hatte, war diese: Der Hebel, der das auf die Windetrommel auflaufende Seil zwischen zwei Rollen führt und durch eine langsam auf und ab gehende Bewegung das richtige Aufwickeln desselben bewirkt, hat unter Umständen einen gewaltigen Druck auszuhalten, namentlich wenn das Seil angefangen hat, eine falsche Lage auf der Trommel einzunehmen. Wie groß diese Widerstände würden, konnte nur die Erfahrung zeigen. Thatsächlich war der Hebel viel zu schwach und zeigte eine verzweifelte Doppelneigung: zu biegen und zu brechen. Ja, es blieb nicht bei der Neigung. Am zweiten Tag meiner Anwesenheit in [507] Schubra sah ich, was ich mit blutendem Herzen schon in Wakefield gesehen hatte. Unser dritter Hebel brach mit einem zermalmenden Krach.

Wir hatten noch zwei Reservestücke – und den Telegraphen. Der letztere war aber ein schlechter Trost. Sechs Wochen, wenn alles gut ging, mußten vergehen, um neue stärkere Hebel von Leeds nach Schubra zu bekommen. Und ein Dampfpflug, der sechs Wochen im Felde steht, ohne sich rühren zu können, hätte damals genügt und genügte heute noch, mir das Herz zu brechen.

Im Laufe der nächsten Woche kam es fast so weit: die zwei letzten Hebel brachen. An ein Schweißen so großer Schmiedestücke war in den arabischen Schmiedefeuern Schubras nicht zu denken. Ich konnte zwar berechnen, daß nunmehr acht Stück Gibraltar erreicht haben mußten und die Hilfe mit jeder Stunde um zwölf Seemeilen näher rückte. Besser aber war, daß ich mich schon etwas zu Hause fühlte und die Anfangsgründe der Fellah-Ingenieurkunde zu erfassen begann. Das war freilich eine andere Wissenschaft als die, welche man mir am Polytechnikum zu Stuttgart beigebracht hatte.

Mein Esel war nicht ratloser als ich selbst, während wir gesenkten Hauptes am Abend nach dem Bruch des letzten Hebels nach Kairo zurückkehrten. Munter trabten wir am andern Morgen wieder ins Feld, er sichtlich entschlossen, den saftigen Bersim (ägyptischen Klee) von Schubra nicht so leichten Kaufs aufzugeben, ich gewillt, zu pflügen oder zu sterben. Nicht ohne große sprachliche Schwierigkeiten ließ ich einen zehn Fuß langen Balken holen und einen Bock zimmern, der vor die gebrochene Maschine gestellt wurde. Der Bock diente als Stützpunkt des einen Balkenendes, das andere hielten vier kräftige Fellachin. Ueber die Mitte des Balkens lief das Seil. Die Fellachin hatten nun ihr Ende des Balkens langsam zu heben und dann wieder zu senken und auf diese Weise das richtige Aufwickeln des Seils auf der Trommel zu bewirken. Nach ein paar Stunden der Uebung arbeitete die Vorrichtung vortrefflich, wenn auch begleitet von dem lauten Klagelied des Fellahquartetts, das Ermüdung und Schmerzen in den Armen besang. Alle zwei Tage sägte das Drahtseil einen Baum in Stücke. Aber ich habe wochenlang in dieser Weise dampfgepflügt und damit viele tausend Pfund Sterling der kommenden Baumwollernte gerettet.

Denn es war Saatzeit und es war das Jahr 1863. Der Krieg in den Vereinigten Staaten hatte das größte Baumwollland der Welt, das Mississippithal, geschlossen. In Lancashire standen die noch heute nicht vergessenen Schrecken der Baumwollhungerjahre vor der Thüre. Die Baumwolle galt schon damals das Doppelte des Normalpreises und sollte in zwei Jahren auf das Vier- und Fünffache steigen, so daß der Rohertrag auf gutbewässertem ägyptischen Baumwollland, wie es Schubra war, 140 Lstr., d. h. 2800 Mark für den Hektar betrug. Es war kein Wunder, daß zu jener Zeit der Vicekönig zu mir sagte, als ich ihm Stahltrommeln vorschlug, denn auch die damals gußeisernen Seiltrommeln waren anfänglich ein schwacher Punkt der Doppelmaschinenapparate: „Machen Sie Ihre Trommeln aus Gold, Herr Eyth, ich werde sie bezahlen; aber machen Sie sie so, daß man ein Jahr lang damit pflügen kann.“ – Ich reite jetzt quer über ein Feld, das wir vor einigen Tagen zum drittenmal gepflügt hatten. Die Jahreszeit für die Bodenbearbeitung durch die Fellachin mit ihren Zinken aus dem Pharaonenzeitalter ist längst vorüber. Bis Januar zerkrümelt die Erde, welche vom zurücktretenden Nil im November zum letztenmal angefeuchtet wurde, vor diesem primitiven Geräte, daß es eine Freude ist. Dann aber, unter der steigenden Sonnenhitze, wird sie hart wie Backstein. Tausend handbreite klaffende Sprünge, die sich bis in die Tiefe von einem Meter in den Boden ziehen, durchfurchen die Oberfläche nach allen Richtungen. Will der Fellah jetzt noch ein Saatbett herstellen, so kratzt er, kaum einige Centimeter tief gehend, acht bis zehnmal in die Kreuz und Quer über das Feld. Der gewöhnliche Dampfpflug bricht diesen Boden in Blöcken von der Größe eines Achtel-Kubikmeters auf, für welche Eggen und Walzen von entsprechender Wucht noch gebaut werden mußten. Vorläufig konnten auch wir nur durch ein drei- und viermaliges Pflügen und Walzen ein einigermaßen brauchbares Saatbett erzielen. Dasselbe wird sodann in Dämme von 1 bis 11/4 Metern Entfernung aufgeworfen. An der einen Seite der Dämme werden mittels eines hölzernen Dorns Löcher eingedrückt, in welche 6 bis 8 Baumwollsaatkörnchen gelegt werden. Dann wird das Feld bis zur Höhe der Dämme unter Wasser gesetzt. – Hundert lachende und singende Mädchen sind an der Arbeit des Pflanzens. Ein paar Schechs in langen Talaren, auf mannshohe Stöcke gestützt, halten Ordnung und Eifer wach, ohne die schrille Fröhlichkeit zu dämpfen, mit der eine fünfzehnjährige Vorsängerin in regelrechten Ghaselen die Baumwollkultur besingt. „Der Weg zur Buße ist offen“ und „Mögen die Gläubigen ihr Thun bereuen“ lauten abwechslungsweise die nicht sehr ermutigenden Kehrreime eines ihrer unzähligemal wiederholten Lieder.

In größerem Maßstabe wurde der Baumwollbau erst von Mohammed Ali in Aegypten wieder eingeführt. Ein Mameluck des alten Herrn, der nunmehrige Leibadjutant Halim Paschas, Rames Bey, erzählte mir, wie die Saat zu wiederholten Malen aus Nubien und Ostindien, aus Amerika und China eingeführt und eine Reihe von Versuchsfeldern unter Mohammed Alis eigener Aufsicht aufs sorgfältigste gepflanzt worden waren. Die Pflänzchen gingen lustig auf, erkrankten aber ohne Ausnahme nach einigen Wochen in unerklärlicher Weise und starben langsam ab. Der Vicekönig war wütend; aber das Klima Aegyptens, oder das Wasser, oder der Boden schienen der Baumwolle tödlich zu sein. Eines Nachts begegnete Rames Bey, der zufällig noch spät durch die Versuchsfelder ging, einem kleinen Jungen mit einem Topf Suppe. Er hielt den Knirps an: Was er hier noch mache? – Er bringe seinem Vater das Essen. – Was sein Vater mache? Er habe heute Nacht Dienst. Rames folgte nun dem Jungen und fand ein Dutzend Fellachin in den Furchen des Baumwollfeldes liegen, die mit großer Sorgfalt jedes Pflänzchen, ohne es auszureißen, ein wenig aus dem Boden zogen. Nach wenigen Tagen starben natürlich die dieser sinnreichen Behandlung wiederholt unterworfenen Sprößlinge, ohne daß jemand die Ursache ihres Siechtums ahnen konnte. Die Fellachin, welche mit großem Scharfblick viele unnötige Mühe und Arbeit durch die Baumwollkultur ins Land kommen sahen, hatten auf diese Weise versucht, dem Unheil vorzubeugen. Am folgenden Morgen trat ein ad hoc ernannter ägyptischer Ausschuß für Pflanzenschutz unter dem Vorsitz des großen Paschas selbst in Thätigkeit. Die würdigen Schechs des Dorfes wurden mit ihren eigenen Herrscherstäben bedient und ihr Organisationstalent für nächtliche Fronarbeit reichlich belohnt. Heulen und Zähneklappern herrschte vierundzwanzig Stunden lang in dem lieblichen Schubra. Die Baumwolle aber gedieh von diesem Tage an wie an wenigen Punkten der Erde. Jetzt und für die nächsten drei Jahre sollte sie das Land mit Gold überschwemmen.

Noch ehe ich das Feld erreichte, in dem der Dampfpflug arbeitete, verriet ein unruhiges Pfeifen und Signalisieren der Maschinen, daß mein Herannahen bemerkt wurde. Ich nahm dies meinen arabischen Maschinenwärtern nicht übel, die viel mit deutschen Schuljungen gemein hatten, nur daß sie etwas intelligenter dreinsahen und in der Nähe eines Stockes größere Arbeitsfreudigkeit an den Tag legten. Allerdings mußten buchstäblich an jede Stelle, die in Europa ein Mann einnahm, zwei dieser Burschen gestellt werden: einer, der die Arbeit verrichtete, der andere, der ihn kommandierte. Kopf- und Handarbeit waren streng getrennt zu halten. Dann aber ging, wenn kein Unglück über uns hereinbrach, die Sache keineswegs schlecht.

Häufig fand ich schon zu so früher Stunde Halim Pascha in Begleitung seines Adjutanten, des erwähnten Rames Bey, im Feld. Zwei originelle Figuren. Der kleine Halim, dessen zierlicher, sehniger Bau das Beduinenblut verriet, in schwarzer europäischer Kleidung, abgesehen vom dunkelroten Tarbusch und hellroten Pantoffeln, saß gewöhnlich mit den Füßen in der zuletzt geöffneten Furche auf dem Boden und spielte, dem Pflug nachblickend, mit Erdstückchen oder seiner Cigarette. Ein dunkles, scharfgeschnittenes Gesicht und schwarze, blitzende Augen paßten nicht übel zu der lebhaften, im reinsten Pariser Französisch geführten Unterhaltung, in welcher selbst Sprachwendungen des Quartier latin nicht ganz fehlten. Ernsthaft stand der riesige Tscherkesse, der seinem Herrn in echt orientalischen Abenteuern schon zweimal das Leben gerettet hatte, in prachtvoller türkischer Tracht, grün und gold, das elfenbeinerne Cigarrenetui in der [508] Hand, hinter ihm und langweilte sich, mit der Ergebung des echten Moslem.

Heute war die Sache anders. Am fernen Ende des Pflugapparates standen, etwas unruhig beim Keuchen und Rasseln der Dampfmaschinen, zwei prächtig aufgezäumte, milchweiße Araber. Auf dem einen saß Rames Bey, der mir lebhaft winkte. Der andere war frei. Ich steuerte, nichts Gutes ahnend, mein etwas widerspenstiges Langohr querfeldein nach der gefährlichen Gruppe.

„Effendini will Sie sofort sprechen. Bitte, aufsitzen!“ stotterte der Tscherkesse höflich in seinem keineswegs musterhaften Französisch.

Ich hatte nun allerdings meine Bedenken. In meinem Leben war ich noch nie zwischen den Hörnern eines türkischen Sattels gesessen. Zum erstenmal sollte ich ein arabisches Pferd besteigen; ja, auch meine sonstigen Pferdebesteigungen ließen sich damals an den Fingern einer Hand aufzählen. Ich fühlte, daß ein kritischer Augenblick meines Lebens nahte; aber ich war entschlossen, dies vorläufig als Privatgeheimnis zu behandeln.

Die Uebersiedlung vom Esel aufs Pferd, ein an sich ermutigendes Omen, gelang über Erwarten, obgleich es keine Kleinigkeit war, nach europäischer Art des Aufsteigens über das goldene Horn zu voltigieren, welches die Rücklehne des für mich bestimmten Prachtbaues bildete. Gewaltig aber stieg mein Vertrauen, als ich saß. Dieses herrliche, thronartige Sitzgeräte bot Anhaltspunkte, von denen man bei einem englischen Sattel nicht die Spur findet: links und rechts die Füße in einer Art von Panzerschiffen, hinten und vorn Schutztürme, über die man kaum mit Hilfe von Dynamit geschleudert werden konnte. Ich beschloß, was mir auch bevorstehen möge, einen derartigen sogenannten Sattel unfreiwillig nie mehr zu verlassen.

Billardraum des Pavillons auf der Gabeleia bei Schubra.
Nach einem Aquarell von M. Eyth.

Rames Bey flüsterte, soviel ich bemerken konnte, ein kleines Gebet und blinzelte mit den Augen. Dies genügte, um die beiden Tiere wie Pfeile von einem unsichtbaren Bogen zu schnellen. Der hintere Turm meines Sattels gab mir einen unerwarteten Stoß ins Kreuz, dann aber durchschnitten wir die Luft wie in einer geflügelten Zauberwiege. Es war herrlich. Sobald ich Atem holen konnte, fing ich an, mich neben meinem grünen Mamelucken stolz als Pascha zu fühlen. Zehn Minuten später blinzelte Rames Bey wieder. Mein Vorderturm gab mir einen Stoß in den Bauch. Es war dies auf arabisch das Zeichen, daß stillgehalten wurde und daß wir absteigen möchten. Das kurze Vergnügen, das meine Achtung vor mir selbst aufs höchste gesteigert hatte, der Ritt auf der Hamam (der Taube), einer der edelsten Stuten jener Tage im ganzen Orient, war zu Ende.

Wir traten durch das prachtvolle Parkthor, das, obgleich modern, in dem reizenden Arabeskenstil der besten Khalifenzeit gehalten ist (vgl. Abbildung S. 509). Vor demselben saß auf einem jämmerlichen, grüngestrichenen Holzstühlchen Halims erster Eunuche, ein schwarzer, gutmütiger Fleischklumpen, mit dem ich später sehr befreundet wurde. Langsam stand er auf, grinste mich an und salaamte. Ich that das Gleiche, so gut ich konnte.

Es ist in Aegypten nicht leicht, einen guten Park zu erhalten. Die Luft ist zu trocken, so daß für ein üppiges Wachstum mancher Pflanzen selbst die reichlichste Bewässerung nicht genügt. Die Gärten von Schubra jedoch waren, damals wenigstens, als die schönsten des Landes berühmt und verdienten diese Bezeichnung. Allerdings gab ihnen nicht bloß die Pflanzenwelt ihren eigentümlichen Reiz. In dem geheimnisvollen himmelblauen Palast am Nilufer, der sie nach der einen Seite begrenzte, ahnte man einen der schönsten Harims des Orients. Am entgegengesetzten Ende des Gartens liegt, von einer Säulenhalle umgeben, ein ebenso großartiges als zierliches Marmorbad. In der Mitte des Parks erhebt sich die sogenannte Gabeleia, zu deutsch das Bergchen, eine dicht bewaldete Erhöhung, deren Gipfel ein großer, orientalischer Pavillon krönt. Derselbe besteht aus einem Mittelsaal in bunter arabischer Ornamentik, unter dessen Kuppeldach ein Springbrunnen plätschert. Durch jede der vier Seitenwände führt ein Ausgang ins Freie, an welchen sich rechts und links je zwei kleine Zimmer anschließen, wahre Schatzkästchen, welche die Phantasie von „Tausend und einer Nacht“ ausschmückte. Rings um diesen Bau führt eine luftige marmorgepflasterte Veranda, in deren vier Ecken je ein kostbares französisches Billard stand (vgl. untenstehende Abbildung). Hier pflegte Halim seine Besuche zu empfangen. Von militärischen Wachtposten war nichts zu sehen, obgleich er damals Kriegsminister war; dagegen hatte man auf der schattigen Marmortreppe, die nach der Veranda hinaufführte zwischen zwei indischen Pantherkatzen, und weiter oben zwischen einem bengalischen Tiger und einem sudanesischen Löwen emporzusteigen, welche zum Glück kurz angebunden waren. Oben traf man ein halbes Dutzend junger Mamelucken in schwarzen Stambulröcken und roten Tarbuschs, die flüsternd unter sich oder mit einem persischen Zwerg, dem offiziellen Spielkünstler des Hofstaats, Schach spielten. Sonst herrschte eine tiefe, feucht-schwüle Stille, wenn nicht der kleine Elefant hinter der Gabeleia trompetete, oder ein Kakadu im dichten Buschwerk von Bananen und Tamarisken krächzte, oder auch die Billardkugeln am entfernteren Ende des Pavillons zusammenschlugen.

Halim spielte nämlich nach seinem Morgenritt gerne eine Partie Billard, und bei dieser Beschäftigung traf ich ihn auch heute. Sein Gegner war ein Engländer Namens Roß, ein früherer Reiteroffizier, der den Krimkrieg und den berühmten Ritt bei Balaklawa mitgemacht hatte. Jetzt war er Direktor des ältesten ägyptisch-englischen Geschäftshauses Briggs & Co. in Alexandrien. Das Haus hatte die Agentur für Fowler übernommen. Ich kannte deshalb Roß gut, der mir eifrig „Guten Morgen“ zunickte.

„Bon jour, Monsieur Eyth!“ rief der Prinz. „Spielen Sie auch Billard?“

„Fast so gut, als ich reite,“ antwortete ich, denn wir hatten uns über diesen Punkt schon früher unterhalten. Er behauptete nämlich, ich sitze zu Pferd wie die alten Römer, und ich meinte, das könne nicht schlecht sein, denn sie pflegten ohne Bedenken vom Ebro bis an den Euphrat zu reiten. Ein paar kritische Billardstöße unterbrachen das Gespräch, das überhaupt nur stoßweise geführt wurde.

„Wie geht der Dampfpflug heute?“

„Nicht schlecht, Monseigneur! Wir kommen morgen in ein neues Feld, wenn es den Tag über so fort geht.“

„Jnschallah! Ihr Holzhebel zum Seilwickeln ist eine großartige Erfindung, hat aber vorgestern einem meiner Fellachin durch einen Schlag den Arm gebrochen. „Malisch“ („es macht nichts“) sagte mir der Bursche heute früh. Er läuft schon wieder herum. – Was – Sie wollen uns verlassen?“

„Ich bin an die Jndier verkauft, Hoheit,“ sagte ich, wohlgemut.

„Wie – Sie gehen gern?“

„Nicht ungern, obgleich mir der Nil so lieb ist als der Ganges.“

[509] „Sapristi!“ Der Ausruf des Prinzen galt nicht mir, sondern dem Billard. Major Roß hatte ein paar gute Stöße gemacht.

Die drei Bälle lagen für ihn aber jetzt sehr ungünstig, der seine in der entferntesten Ecke, das Band berührend. Plötzlich setzte sich dieser von selbst in Bewegung, lief erst langsam, dann immer schneller über das ganze Billard und karambolierte mit den andern, wie es der beste Spieler nicht bester hätte wünschen können.

„Da haben wir’s wieder!“ rief Halim ärgerlich. „Es ist unerträglich. Hassan! Abdallah-Mansur!“

Er klatschte in die Hände. Die sechs Mamelucken stürzten herbei. Sie wußten offenbar bereits, was sie zu thun hatten. Fünf hoben mit vereinten Kräften das Billard an dem vom Prinzen bezeichneten Ende, der sechste schob drei Spielkarten unter das freigewordene Bein. „Sehen Sie,“ sagte er zu mir, „diese Komödie haben wir alle Tage. Jeden Morgen lasse ich die Tische genau einstellen, und jeden Mittag stehen sie wieder schief.

Macht es die Feuchtigkeit im Boden oder die Hitze in der Lust – der Allwissende mag es wissen. Die Marmorplatten heben und senken sich aus irgend einem gelehrten, physikalischen Grunde, und mein Freund Roß gewinnt das Spiel mit Hilfe der unterirdischen Mächte. Was sagen Sie dazu?“

Das Parkthor des Palastes zu Schubra.
Nach einem Aquarell von M. Eyth.

Da ich nichts zu sagen wußte, schüttelte ich entrüstet den Kopf. „A propos,“ fuhr er fort, „ich habe schon öfter daran gedacht: Sie könnten mir einen Gefallen thun! Konstruieren Sie mir ein Billardbein, das ich selber mit einem Ruck um einen oder um ein paar Millimeter länger oder kürzer machen kann. Das sollte ein Ingenieur fertig bringen.“

„Das sollte er in der That, Hoheit!“ erklärte ich zuversichtlich.

„Sehr gut! Bringen Sie mir morgen Ihre Idee. Dann wollen wir Freund Roß zeigen, was Billardspielen heißt. Kommen Sie, Roß! Sehen wir nach dem Engländer, der meine Araber schlagen soll.“ Dies bezog sich auf Pferde und eine Wette zwischen Halim und Roß, die sich seit Monaten darüber stritten, ob ein englisches Pferd an der Seite eines arabischen eine Gazellenjagd aushalten könne. „Auf morgen also, Monsieur Eyth!“

Roß winkte mir lebhaft zu, ohne daß ich verstand, was er mir telegraphieren wollte. Zu Erklärungen war keine Zeit.

Beide, Halim voran, die sechs Mamelucken hinterher, schritten rasch die Treppen der Gabeleia hinunter und verschwanden im Gebüsch des Parks. Ich blieb allein, zog mein Notizbuch aus der Tasche und skizzierte die reichornamentierte Ecke des Billards, um meinen noch etwas nebelhaften Plan zum mindesten stilgerecht durchführen zu können. Dann ging auch ich.

Am Parkthor warteten der Esel und Ali-Machmud, der Eselstreiber, die mir eiligst vom Felde gefolgt waren. Der Eunuche salaamte und ich galoppierte nach Kairo, mein Billardbein vergnüglich im Kopfe hin und her drehend. Die Sache war ja einfach genug. Eine messingene Lotosblume sollte den Untersatz bilden. Aus ihrem Kelch tritt statt der Griffel und Staubfäden eine Stahlschraube heraus. Auf dieser ruht das Mahagonibein des Tisches, das in ähnlich blumiger Weise ausgestattet wird. Eine Drehung der Staubfäden hebt und senkt den Tisch. Diese Verbindung von morgenländischer Blumenpoesie mit abendländischer Schraubenprosa schien mir alles zu sein, was man von einem Dampfpflüger erwarten konnte. In steigendem Kunstenthusiasmus schlug ich auf meinen Esel los, der noch nie mit solcher Begeisterung von Schubra nach Kairo rennen mußte wie an jenem Vormittag.

In der Muski, der halb europäischen, halb orientalischen Hauptstraße Kairos, die damals weit morgenländischer aussah als heutzutage und Hildebrandt und Werner zu einigen ihrer wirkungsvollsten Aquarelle verlockt hat, befand sich ein kleiner Kunst- und Papierladen deutschen Ursprungs. Unter tiefen Staubschichten fand ich dort mit Hilfe des ganzen Geschäftspersonales Tusche, Zeichenpapier, ein paar Farben, drei Skorpione in einer zerbrochenen Tuschschale und ein Dutzend Heftstifte. Gegen Abend war eine leidliche Skizze des Gedankens zu Papier gebracht, und am nächsten Vormittag trabte ich mit meinem Billardbein nun wirklich, wie ich glaubte, zum allerletztenmal nach Schubra.

Um die Gabeleia herrschte Todesstille. Selbst der Tiger und die Kakadus schliefen. Mit Mühe wurde mir von verschiedenen Parkwächtern und Gärtnerburschen klar gemacht, daß Effendini schon in aller Frühe mit Major Roß über Heliopolis hinaus in die Wüste geritten sei, um Pferde zu probieren. Keiner der höheren Beamten des Hofs war zu entdecken. Nur der [510] Eunuche saß in träumerischer Behaglichkeit auf seinem grünen Stühlchen und salaamte, als ob wir schon seit Jahren die besten Freunde wären. Ihm übergab ich schließlich das Billardbein, und er schien in einer Unterhaltung, die aus Französisch, Türkisch, Italienisch, Arabisch und Englisch kunstvoll zusammengestellt war, zu versprechen, die Zeichnung dem Pascha einhändigen zu wollen. Wenigstens wickelte er die Rolle vor meinen Augen mit allen Zeichen liebevoller Besorgnis in ein grünseidenes, goldbefranstes Taschentuch, nachdem er ihr durch mehrfaches energisches Zusammenknicken die Größe und Gestalt eines Briefumschlags gegeben hatte.

Die Morgenstille und dieser ganze Vorgang hatten mich abgekühlt und der ferne Ganges schwoll jetzt mächtig an meinem Horizont, denn in den Hotels war bereits das übliche Telegramm angeschlagen: daß der P. a. O.-Dampfer „Alahabad“ übermorgen, abends 8 Uhr, von Suez nach Bombay, Ceylon, Kalkutta etc. gehen werde. Rasch war ein letzter kurzer Besuch beim Dampfpflug und ein beweglicher Abschied in allgemein verständlichen Naturlauten von meinen Fellahmaschinisten abgemacht, die mir mit einer gewissen, leicht mißzuverstehenden Ostentation immer und immer wieder nachpfiffen, nachdem ich schon halbwegs in Kairo war. Dann ging es ans Packen für die Seereise – an ein neues Blatt in meinem Wanderbuch.

Es wurde Abend, ehe ich fertig war. Nur schweren Herzens konnte ich mich von ein paar Steinen trennen, die ich auf dem Gipfel der Cheopspyramide abgeschlagen hatte und die mich auf meinem ferneren Lebenswege hätten begleiten sollen. Aber sie wollten sich schlechterdings nicht mit der Chininkapsel vertragen, welche ein älteres Recht auf einen Platz in meinem Koffer besaß. Ich schenkte sie deshalb meinem Zimmernachbar, der, gefühllos lachend, sie vor meinen Augen zum Fenster hinauswarf. In diesem peinlichen Augenblick trat Roß ein.

„Sie wollen doch nicht abreisen?“ war sein erstes Wort mit einem Blick auf meinen Koffer.

„Allerdings, Major. Schon fix und fertig aufgepackt! Morgen geht’s nach Suez.“

„Daraus wird nichts, lieber Eyth. Sie müssen hier bleiben. Aus Indien wird nichts.“

Ich lachte, hörte aber auf zu lachen, als sich das Gespräch weiterspann. Roß begann eine längere Auseinandersetzung. Halim Pascha brauche einen Oberingenieur für seine landwirtschaftlichen Unternehmen. Er besitze zwischen Assuan und Damiette an etlichen zehn Punkten des Landes annähernd 80–100000 Hektar Land.

Die Leute, die man ihm bis jetzt zugeschickt habe, ein Franzose und zwei Engländer, seien nicht nach seinem Geschmack gewesen, was ich später verstehen lernte. Und nun sollte in den nächsten Jahren die Kultur von 80000 Hektar in energischer Weise in Angriff genommen werden. Schubra, Ternnis, Talia, Kaffr Schech, El Mutana seien jetzt schon Mittelpunkte der beginnenden Arbeit … Das Billardbein? – Das sei zur Hälfte ein Witz, zur Hälfte eine Kriegslist gewesen, die der Prinz selbst erfunden habe. Uebrigens ein ganz passabler und dazu ernsthafter Witz für uns alle. Halim habe sich überzeugen wollen, ob ich nicht bloß mit hölzernen Wickelhebeln dampfpflügen, sondern auch zur Not einen eigenen Gedanken zu Papier bringen könne, ehe er einen Entschluß faßte. Nun beglückwünsche er mich zu meinem lotosblumenartigen Bein und werde sofort sechzehn Stück in Paris bestellen lassen. Nur eins habe ihm mißfallen: daß ich die niedliche Zeichnung so jämmerlich zerknickt habe.

„Der Kuckuck hole den Eunuchen!“ rief ich mit Wärme.

„Kurz,“ schloß Roß, „ich bin im Auftrag des Prinzen hier, um Sie festzuhalten.“

„Aber was fange ich mit meiner Chininkapsel an,“ bemerkte ich nicht ohne Bewegung, „und mit meinem englisch-indischen Vertrag?“

„Unsinn!“ meinte Roß. „Heute noch telegraphiere ich nach London. Fowler muß einen Stellvertreter für Sie nach Assam schicken. Ob der Mann Eyth heißt oder Braun oder Müller ist den Indiern völlig gleichgültig, glauben Sie mir das! Für Fowler ist es von der größten Bedeutung, in den nächsten drei Jahren einen Mann Ihres Schlages, den er kennt, in Aegypten zu haben. Auch für unser Haus. Wenn die Amerikaner fortfahren, sich die Haare auszureißen, statt Baumwolle zu bauen, ist Aegypten eine Goldgrube für uns alle. Das muß auch Ihnen einleuchten, obgleich Sie ein Deutscher sind. Was sind Ihre Bedingungen?“

Das wußte ich nun wirklich nicht.

Roß bot mir ungefähr das Dreifache von dem, was mein allerdings bescheidener indischer Vertrag festsetzte, und noch ehe es völlig dunkel war, hatte ich meine Koffer wieder ausgepackt. Müde von dem vielbewegten Tage saß ich auf dem flachen Dach des Hotels und sah über die mondbeglänzten Kuppeln der Khalifenstadt. Auf dem kleinen Altan des nächsten Minarets stand der Mueddin, eine scharfgezeichnete Silhouette gegen die volle Scheibe des aufgehenden Mondes, und sang seinen Gebetsruf: „Gott ist groß! Es ist kein Gott, außer Gott!“ in die stille Nacht hinaus. Ein Sternenhimmel von unbeschreiblicher Klarheit und Tiefe spannte sich über das ganze nachthelle Bild mit seinen geheimnisvollen schwarzen Schatten, seinen grellen, grünlichen Lichtern. Nur im Süden, nilaufwärts sah es etwas trüb aus, wie schwüler Nebel oder aufsteigende Sandwolken. Dort brauste ein Wüstensturm, der erste Chamsin des kommenden Sommers. Aber das verhängnisvolle Billardbein hatte seine Wirkung gethan. Die Würfel waren gefallen. Vier Jahre heißen ägyptischen Lebens lagen vor mir.




  1. „Piäno“ ist der im ganzen Orient übliche, abgekürzte Name für die Penninsular and Oriental Steamnavigation Company – kurz P and O –, wodurch nach englischer Art aus einem unbrauchbaren Firmentitel das nicht gerade schöne aber brauchbare Wort Piäno, mit dem Accent auf i, entstand.