Des deutschen Reiches zweiter Kanzler
[259] Des deutschen Reiches zweiter Kanzler. (Zu dem Bildniß S. 229.) Seit beinahe zwanzig Jahren steht unser junges Deutsches Reich aufgerichtet, geachtet, wohl auch gefürchtet nach außen, verwachsend und sich festigend im Innern. Und diese ganze Zeit über war es ein Mann, der als des Reiches oberster Beamter Deutschlands Geschicke lenkte, der auf seinen Schultern eine riesige Geschäftslast und eine noch riesigere Verantwortung trug, und der die Fäden der europäischen Politik in seiner nervigen Hand straff und fest zusammenhielt – ein Mann, beispiellos in der Geschichte unseres Volkes, beispiellos fast in der Geschichte der Menschheit!
Er ist heute nicht mehr Kanzler des Deutschen Reiches! – Es ist nicht dieses Ortes, die Gründe und Stimmungen zu erörtern, die den Fürsten von Bismarck bewogen, seine Aemter in die Hände seines Kaisers zurückzulegen. Genug, er schied – und mit stummer Ehrfurcht schaut Europa auf den gewaltigen Mann, wie er hinausschreitet aus seinem Amtszimmer und die Thür hinter seinem politischen Leben schließt.
Aber die Welt steht nicht still, auch wenn der größte Mann freiwillig oder unfreiwillig die Hände sinken läßt. In den Palast an der Wilhelmstraße zu Berlin hat ein anderer seinen Einzug gehalten: Georg Leo von Caprivi de Caprara de Montecuculi heißt des Deutschen Reiches zweiter Kanzler.
Müßte man Bände schreiben, um das Werk des scheidenden Kanzlers zu erschöpfen, die Geschichte des neuen ist fast noch ein unbeschriebenes Blatt. Ein Soldat, der ein Leben lang seinen Dienst mit Auszeichnung gethan, ein Mann, der auch in weniger vertrauten Verhältnissen einen klaren Kopf und eine kräftige Hand bewiesen hat – das ist der Nachfolger eines Riesen, der einem Jahrhundert eine andere Gestalt gab.
Georg Leo von Caprivi ist am 24. Februar 1831 zu Charlottenburg als Sohn des Obertribunalraths von Caprivi geboren. Er trat mit 18 Jahren in die Armee, war seine neun Jahre Sekondelieutenant, kam aber bald in die Dienste des Generalstabs. Den Feldzug von 1866 hat er als Major im großen Generalstabe bei der I. Armee (Prinz Friedrich Karl), den Krieg von 1870 als Chef des Generalstabs des X. Armeecorps mitgemacht. Als Abtheilungschef im preußischen Kriegsministerium hat er nach dem großen Kriege eine wichtige Stellung bekleidet und den großen russischen und französischen Manövern als besonderer Abgesandter beigewohnt. Dann folgten sich die höheren Kommandos der Brigade und der Division, bis ihn plötzlich – es war am 20. März 1883, genau sieben Jahre vor seiner Erhebung zum Reichskanzler eine kaiserliche Ordre an die Spitze der Admiralität stellte. Fünf Jahre lang hat er diesen Posten bekleidet, dann aber ließ ihn Kaiser Wilhelm II. seinem Wunsche entsprechend in das Landheer zurücktreten und gab ihm das Kommando desselben Armeecorps, als dessen Generalstabschef er einst im siebziger Kriege, besonders in den Tagen der Schlachten um Metz, wesentliche Dienste geleistet hatte. Und nun hat ihn ein neuer Willensakt seines obersten Kriegsherrn von seinem Generalkommando zu Hannover weg auf die höchste Stelle berufen, die dem Deutschen Kaiser zu verleihen gegeben ist, auf den Platz von „des Deutschen Reiches Fahnenträger“.
Man findet, Caprivi habe Aehnlichkeit mit Bismarck, seine Hünengestalt, sein kräftiger, runder, sparsam behaarter Kopf mit weißem Schnurrbart und mit stark ausladenden, buschigen Augenbrauen erinnern lebhaft an den „eisernen Kanzler“. Unser Bild bestätigt diese Aehnlichkeit, und sie mag, äußerlich wenigstens, dazu beitragen, den Uebergang zu erleichtern von des Reiches erstem zu seinem zweiten Kanzler. =