Deutschland und Belgien

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Autor: Ignaz Kuranda
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Titel: Deutschland und Belgien
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aus: Die Grenzboten (1841/1842), 1. Jg., Band 1, S. 1–10
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Erscheinungsdatum: 1841
Verlag: Herbig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Band 1: SUUB Bremen = Commons
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Deutschland und Belgien.
Was wir wollen.


Wir könnten die Erscheinung dieser Blätter mit wenigen Worten motiviren:

Brüssel! – Wenige Städte in Europa bieten gleiche Vortheile der periodischen Presse, durch Lage und Verhältnisse. Innerhalb achtzehn Stunden bringt die Post das Neueste aus Paris hieher. Das Dampfboot aus England landet nach einer regelmäßigen Ueberfahrt von vierzehn Stunden in dem nahen Hafen. Aus Holland bedürfen die Nachrichten kaum eines halben Tages, und in noch kürzerer Zeit vermittelt uns die Eisenbahn mit der deutschen Grenze.

Somit stehen wir im Laufe eines einzigen Tages in der Mitte aller Begebenheiten, die der gestrige in Paris, London, Amsterdam und in den großen Rheinstädten geboren hat. Ungehindert von äußern Verhältnissen steht hier die Presse in dem Mittelpunkte des großen Weltmarkts und sieht die schweren und leichten Wagenzüge der Tagesereignisse von Nord und Süd, von West und Ost durch ihre Thore einfahren. Nicht nur das eigentliche Journal, welches die Begebenheiten Tag für Tag controlirt, auch jede andere periodische Schrift findet hier gesunden Quellboden. Die Zeitfäden spinnen sich dicht unter ihren Augen ab, sie hört wie durch eine spanische Wand die leisesten Athemzüge ihrer Nachbarn, sie lebt die Ereignisse der großen Grenzstaaten mit, als wäre sie eine Bürgerin derselben. Journale, Briefe, Reisende langen Tag für Tag an, benachrichten, widerlegen und ergänzen einander, und bei der Gestaltung der hiesigen Gesellschaft wird jede Nachricht bald das Eigenthum Aller, und Vieles was anderswo heimlich einander ins Ohr geflüstert wird, liegt klar und offen am Tage. – Wir glauben, auf diesen Grund gestützt, nicht unbescheidener Weise in die Reihen der deutschen Zeitschriften zu treten, um so mehr, als wir uns tüchtig gewappnet haben, um die Vortheile unserer Stellung zu benutzen. Aber noch ein zweiter Grund bewegt uns bei unserem Unternehmen, es ist dieses der Boden selbst aus dem diese Blätter hervorwachsen sollen: Belgien!

Als wir dem Titel dieser Zeitschrift, die Bezeichnung: „Blätter für Deutschland und Belgien“ hinzufügten, so verhehlten wir uns nicht, daß wir gegen ein gewisses Vorurtheil zu kämpfen haben werden. So poetisch und Interesse erregend der Name Niederland dem Deutschen klingt, so fremdartig und unsicher scheint ihm der Name Belgien. An das Wort Niederland knüpfen sich gar theure Erinnerungen der deutschen Geschichte. Der deutsche Religionszwiespalt hat da seine heißesten Kämpfer gefunden, die deutsche Wissenschaft hat da ihre Grundstützen (Erasmus, Justus Lipsius, Grotius, Spinoza, Vesal u. s. w.) gewonnen, die deutsche Kunst hat da ihre kräftigste Ammenmilch gesogen, und die deutsche Poesie hat daher auch diesen Namen zu ihrem Lieblingsfeld erhoben und Schiller und Göthe haben ihn ins Herz der begeisterten Jugend gelegt, die für Egmont und Posa schwärmt. Der Name Belgien aber – so uralt das Wort auch ist – steht doch andererseits zu jung und zu fremdartig dem Deutschen gegenüber, um ihm populär zu sein. Wir brauchen nicht erst auf die Ereignisse von 1830 hinzuweisen. Es ist leicht begreiflich, daß Deutschland die Trennung der südlichen Niederlande von den nördlichen mit Unmuth betrachtete, daß es den Kopf schüttelte, da es die germanischen Elemente den gallischen weichen sah. Sein Interesse wendete sich seitdem mit ziemlicher Kälte von Belgien weg, und wenn die politischen Ereignisse es nicht zur Aufmerksamkeit nöthigten, wenn nicht Belgien selbst, durch seine Industrie, durch die glänzende Thätigkeit seiner Eisenwerke ihm die Beachtung abzwang, da blieb es mißmuthig mit dem Rücken ihm zugekehrt. Und wahrlich, es ist nicht gut, daß es so gekommen ist. Belgien hat in diesen zehn Jahren einen riesenhaften Fortschritt gethan, und Deutschland hätte mit mehr Aufmerksamkeit auf die Entwickelung dieses Landes in Kunst und Gewerbe, in socialer und sogar in politischer Beziehung, manche schöne Erfahrung erwerben können.

Es ist ein gewöhnlicher Fehler, daß man die französische Revolution von 1830 mit der gleichzeitigen belgischen zusammenkettet,ohne zu betrachten, wie die Folgen beider ganz verschieden sind. Frankreich zielte im Jahr 1830 nach einer Republik und gelangte nur bis zu einer Veränderung der Dynastie. Sein Wille erfüllte sich nur halb, und die andere nicht erfüllte Hälfte blieb als ein klaffender Riß, als eine eiternde Wunde, welche an dem gesunden Theile des Staates zehrt und ihn nie zur Ruhe und gesunden Entwickelung kommen läßt. Dieß ist keinesweges mit Belgien der Fall; die Revolution von 1830 zielte hier nur nach einer Loslösung von dem holländischen Mitstaate; sobald dieses geglückt war, und die Aufregung, die einer so gewaltsamen Operation folgen mußte, Zeit hatte, sich auszutoben, da trat wieder die Ordnung in ihr monarchisches Gleis und keiner Opposition kommt es in den Sinn, dem Königthume den Krieg machen zu wollen. Ueber dem Haupte Frankreichs hängt das Schwert der Anarchie wie an einem Haare; ein Luftzug, ein unbewachter Augenblick – und Alles ist geschehen. Diese anarchischen Elemente sind Belgien fremd. Wenn die Gegner des constitutionellen Princips mit Recht auf Frankreich deuten: Seht dort den Erfolg parlamentarischer Kriege; seht jenes Land mit einem üppigen, unerschöpflichen Boden, mit den ungeheuersten Kräften, den reichsten Hilfsmitteln ausgestattet, mit Häfen, Schifffahrt, Colonieen, früher mit seiner Industrie den ganzen Continent überschwemmend, seht nur, wie es seine Zeit und Kraft vergeudet in eitlen Wortkämpfen, ein Spielball ehrgeiziger Redner, ein Heerd von Partheileidenschaften, zurückgeblieben ist auf dem Wege des fleißigen Jahrhunderts; wie es alle seine Nachbarn den Vorsprung gewinnen ließ auf den unermeßlichen Bahnen der Industrie, des Handels, des Ackerbaues und der Viehzucht – so können die Vertheidiger der constitutionellen Verfassungen ihnen entgegnen: Seht dieses Belgien, wo der parlamentarische Kampf, die Meinungsverschiedenheit, noch offener und mit größerer Freiheit ausgefochten wird, und dennoch hat das Land, dieser kleine Staat von vier Millionen Einwohner, innerhalb dieser zehn Jahre einen Anlauf genommen, wie keiner der großen Staaten des Festlandes sich eines gleichen rühmen kann. Wir wiederholen es, die belgische Revolution und der Geist seiner Partheikämpfe muß scharf geschieden werden von dem, was in Frankreich vorgeht. Diese Kämpfe athmen keine Anarchie. „Vor dem Sclaven, wenn er die Kette bricht, vor dem freien Manne zittere nicht!“ Frankreich war durch Jahrhunderte ein Sclave; Ludwig der Eilfte, Franz der Erste, Richelieu und der vierzehnte Ludwig haben dem Volke wenig Raum gelassen, über seine Rechte nachzudenken. Die erste französische Revolution eröffnete für Frankreich eine ganz neue Geschichte, eine neue Welt, ein unbekanntes Amerika, und rasend wie die Spanier in dem neuen Welttheile, stürzte es sich über die ehemaligen Besitzer und tränkte mit ihrem Blute den gefundenen Reichthum. Gewiß, die Entdeckung von Amerika und die französische Revolution haben der Welt eine ganz andere Gestalt gegeben; aber ihren Urhebern sind sie die Quelle großen Uebels geworden. Die Revolution in Frankreich war eine durchaus moderne Erscheinung, ein tiefer Strich, der seine neuere Geschichte von seiner ältern abschnitt; unerfahren auf dem eroberten Gebiete, hat selbst eine wiederholte Umwälzung es noch nicht zum ruhigen, fruchtbringenden Genusse geführt. Die belgische Revolution hingegen ist keine moderne Erscheinung, sie ist nur die Fortsetzung der alten Landesgeschichte, eine Fortsetzung jener uralten Kraftäußerung, wie sie die auf ihre Freiheit stolzen, eifersüchtigen Städte und Adelsgeschlechter unter den burgundischen Herzögen, unter den Lütticher Bischöfen, unter Kaiser Max, unter Karl dem Fünften, unter Spanien und Oesterreich ausübten. Dieser Geist datirt sich wahrlich nicht erst von 1789 oder von 1830, es ist nicht die plötzliche Wuth eines langgepeinigten, ausgesogenen, centralisirten Volkes; – fragt die alten Städte: Gent, Brügge, Lüttich, Antwerpen, ob sie ihre Freiheitslust erst von dem modernen Frankreich lernen mußten? Es ist dieß der Geist der alten Communalverfassung und Communalfreiheit, der im Mittelalter alle germanischen Städte beseelte, der die Hansa, die schwäbischen Reichsstädte, so mächtig werden ließ. Nur daß in Deutschland der Adel unklugerweise gegen die Städte sich wandte, sie schwächte und ihre Macht zerstören half, während der niederländische Adel meist Hand in Hand mit dem Volke ging, von der glorreichen Sporenschlacht, bis auf den Geusenbund, bis auf den Tod Friedrichs von Merode. Und hier sind wir wieder bei einem unterscheidenden Charakterzuge der französischen und belgischen Revolution. In Frankreich wie in Belgien hat der Adel seine Privilegien verloren, aber in Frankreich hat er mit seinem politischen Einflusse auch seinen bürgerlichen eingebüßt, während er in Belgien noch immer von dem Volke als sein erster Bürger betrachtet wird. Die Arembergs, die Ligne, die Beauforts, die Merodes etc. sind hier noch immer populäre, beliebte Gestalten – eben weil die Revolution nicht die Geschichte auseinandergeschnitten hat.

Man spricht in Deutschland stets von den französischen Sympathieen Belgiens, und schlägt die germanischen Elemente in demselben nur sehr wenig oder gar nicht an. Allerdings hat sich Frankreich mehr Mühe gegeben, als Ihr. Seit Jahrhunderten buhlt es um den Besitz dieses Landes; lange noch vor der Zeit, ehe die schöne Maria von Burgund ihr reiches Erbe dem schlanken deutschen Kaisersohne zugebracht, spann die französische Eroberungslust ihre Fäden um dasselbe, und dieses Gespinnst setzte sie fort von Jahr zu Jahr, von Geschlecht zu Geschlecht, von einem Regenten zum andern. Wenn man den vielhundertjährigen Aufwand überschaut, den Frankreich zur Erringung dieses Landes in Bewegung setzte: an Intriguen und Gewalt, Krieg und Verführung, Glanz und Schrecken; so fragt man sich erstaunt, wie ist es möglich daß dieses kleine Belgien noch selbstständig dasteht? Wie ist es möglich, daß in den flandrischen Provinzen, in Antwerpen und Brabant dieser eigenthümliche Geist, diese unbeugsame Liebe für die alte sächsische Sprache und Sitte nicht längst erlöscht und ausgegangen ist? Wie ist es möglich, daß Lüttich, Namur und das Hennegau nicht längst von dem mächtigen sprachverwandten Nachbar aufgesogen wurde? Wie ist es möglich, daß nachdem dieses Land durch ein Vierteljahrhundert sogar schon ein Besitz von Frankreich gewesen ist, in welchem nichts gespart wurde, um seine nationale Selbstständigkeit in Sprache, Sitte und Gesetz zu demoliren, diese Nationalität doch wieder auflebte? Diese Nationalität muß also doch tiefer liegen, als man glaubt, diese Farben, die trotz aller Mühe, die man seit Jahrhunderten sich gibt, sie zu übertünchen, immer wieder von neuem hervorbrechen, müssen also doch stärker sein als die neu aufgetragenen; diese germanischen Elemente müssen also doch nicht so unbedeutend und ohnmächtig sein!

Aber in Lüttich, im Hennegau, in den wallonischen Provinzen, wo nie ein deutscher Laut erklang, wie ließe sich da ein germanisches Atom als Ursache angeben?

Ja, wenn man germanisches Leben nur auf Sprache und einzelne Gewohnheiten bezieht, wenn man glaubt, Deutschland und Frankreich unterscheiden sich nur darin, daß hier das Kind Vater ruft und dort Père, daß hier die Haare blond und dort schwarz sind! – – Aber die Race und die Sprache ist es nicht allein, was die Völker trennt und verbindet; die Geschichte ist die Hauptperson, welche den verbindenden Kitt mischt, oder das trennende Schwert wetzt.

Was Frankreich von Deutschland scheidet, das ist seine Centralisation. Die meisten glücklichen und unglücklichen Gänge der französischen und deutschen Geschichte, des französischen und deutschen Geistes haben darin ihren Hauptgrund, daß dort, in Frankreich, die theuersten Erinnerungen, Freiheiten, Gesetze und Ueberlieferungen der einzelnen Länder und Gebiete dem Ganzen weichen mußten; daß eine einzige Stadt monarchisch alle übrigen beherrscht, während in Deutschland, selbst bei den kleineren Communen, die heiße Anhänglichkeit für das alte Herkommen, für das von Geschlecht zu Geschlecht überlieferte Gesetz, keiner Rücksicht und selbst keinem Vortheile weichen wollte[1]. Diese patriarchalische Treue für ihre provinzielle Gesittung, für ihre angeerbten Localrechte, war zu allen Zeiten ein germanischer Charakterzug; er hat viel Unglück über Deutschland gebracht, aber er hat auch all das Große geschaffen, was man an dieser Nation bewundert. In dieser Beziehung aber stehen die wallonischen Provinzen weit näher zu Deutschland als zu Frankreich. Diese Anhänglichkeit für ihre alte Communaleinrichtung, diese unbeugsame Liebe für ihre provinzielle Verfassung und Ehre, haben Lüttich und Gent oft genug mit ihrem Blute bezahlen müssen. Und ist dieß nicht das Hauptmotiv, das gemeinschaftlich Nationale, was Flamänder und Wallonen an einander kettet? Die Racen, die Sprachen haben nichts Gemeinschaftliches, aber die Geschichte, die Liebe zu ihrem Glauben, zu ihren Sitten, verbindet sie, und wie oft auch die Wellen der Verhältnisse über sie zusammenschlugen, immer tauchten sie Hand in Hand wieder auf. Der große Mißgriff der holländischen Regierung bestand eben in nichts anderem, als darin, daß sie das germanische Wesen einzig und allein an Wort und Sprache gebunden glaubte, und ein Centralisationssystem einführte, gegen welches der innerste Sinn des Volkes sich sträubte. Hätte jene Regierung der provinziellen Sitte, Mundart und Eigenthümlichkeit der belgischen Provinzen, mehr Geltung zugestanden, wäre sie dem Beispiele gefolgt, welches das staatskluge Oesterreich in früheren Zeiten hier gegeben, dann hätten die Niederlande, trotz aller inneren Verschiedenheit, ein festes äußerliches Band gebildet, wie dieß ja eben bei dem mächtigen österreichischen Staatskörper der Fall ist. Aber jene Regierung wollte einen centralisirten Staat sich schaffen, sie wollte Eine Sprache, Einen Charakter allen seinen Theilen aufprägen, sie wollte einen französischen Staatsgrundsatz auf einem Boden einführen, der in seiner langen Verbindung mit dem deutschen Reich seine Selbstständigkeit geschont zu sehen gewohnt war – und das war die Klippe, an welcher sie strandete.

An dieser Klippe muß aber auch Frankreich scheitern, sobald es die Hand erobernd ausstrecken will. Man weiß hier aus früherer Erfahrung, welche traurige Last es ist, eine französische Departementsstadt zu sein. Man will in Belgien keine Haupt- und Centralstadt wie Paris. Die mit jedem Tage zunehmende Bevölkerung Brüssels wird sogar von den Kammern nicht ohne Besorgniß betrachtet, und wir könnten manches Beispiel citiren, wie man bemühet ist, die Oberherrschaft der Hauptstadt unmöglich zu machen. Man bemerke nur den stürmisch begeisterten Ton, mit welchem die junge Literatur, die seit einigen Jahren in Belgien sich erhebt, von ihrer nationalen Unabhängigkeit spricht, ihre Anknüpfung der alten Geschichten des Landes, die wahrhaft rührenden Anstrengungen zur Stärkung eines selbstständigen Geistes, und man wird die Ueberzeugung gewinnen, daß es mit dieser Liebe zur Nationalität ein heiliger, ungeheuchelter Ernst ist. Allerdings ist es möglich, daß das materielle Interesse des Landes, der Mangel an Ausfuhrkanälen u. s. w., zu einem Vertrag mit Frankreich es nöthigt; doch dürfte Frankreich sich irren, wenn es seinen politischen Eroberungsgedanken auf diesem Wege einen bedeutenden Vorschub zu verschaffen glaubt. Der preußische Zollverein hat Deutschland verbrüdert, denn die Völker haben aus Erfahrung gelernt, wie nöthig die Bruderhand dem Bruder ist; was die Traktate materiell begonnen, trachten die Herzen und Geister moralisch zu vollenden. Anders ist es der Fall mit Belgien; dieses hat aus langer Erfahrung kennen gelernt, was Frankreich von ihm will, es ist nicht so bornirt, zu glauben, daß Frankreich ihm seine Märkte öffnen wolle aus sentimentaler Freundschaft, aus frommem Drang zur Erfüllung des Gebotes: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.“ Auch Holland bot Belgien reiche Handelsvortheile, viel größere, als es bei Frankreich erwerben kann; hat die Vereinigung darum eine Dauer gehabt? Fürchten wir nicht; der geschichtliche Gott, der diese schönen Provinzen aus den absolutistischen Händen Ludwig des Eilften, Ludwig des Vierzehnten, und Napoleons gerettet hat, der wird auch die constitutionellen Finger des neuern Frankreichs fern davon halten.

Fassen wir das so eben Gesagte in kurzen Worten, so finden wir, daß die Unabhängigkeit und die moralische Kraft Belgiens keine bessern Wächter erhalten könne, als indem es das germanische Element, welches stärker oder schwächer die Nation durchzieht, zu einem höhern Leben anzufachen sucht. Hierin liegt seine beste Garantie gegen alle Uebergriffe seines Nachbars. Dieß ist auch die Meinung aller jener edlen und besonnenen Männer, denen die theuer erworbene nationale Unabhängigkeit ernstlich am Herzen liegt. Schon durch seine geographische Lage wird das Land aufgefordert, deutschem Geistesleben seine Poren zu öffnen, durch seine politische Lage wird es dazu gespornt. So lange Belgien gewöhnt ist, französisches Unterrichtswesen, französische Gesetzgebung, französische Wissenschaft, französische Poesie, als das Höchste zu betrachten, so lange wird es auch in steter Gefahr schweben, unwillkührlich in die Arme seines Nachbars zu sinken, und die Eroberung materiell zu vollenden, die er geistig längst gemacht. Dieses wird von Vielen tief gefühlt und erkannt. Allenthalben lebt der Wunsch, ein Gegengewicht in die Schale werfen zu können, daher das Bestreben, der deutschen Geistesthätigkeit näher zu rücken, welches in letzterer Zeit auf so vielen Punkten des Landes sich kund gibt.

Aber Deutschland bleibt kalt und thut keinen Schritt entgegen, um diese Annäherung zu erleichtern. Wir wollen nur ein Beispiel anführen. Wenn je ein Verein von Männern, welche der Fortpflanzung nationaler Ideen, der Verbreitung von Bildung, Wissenschaft und Literatur unter dem Volke ihr Leben widmen, Ansprüche auf Theilnahme und Hochachtung machen kann, wenn je Menschen Bewunderung verdienen, die unter tausend Hindernissen, Mühen und trotz des abschreckendsten Undanks, dennoch unermüdet und unerschütterlich den hohen Zweck verfolgen, den sie sich zur Aufgabe ihres ganzen Strebens gemacht, so müssen wir diese Hochachtung, Theilnahme und Bewunderung jener kleinen, aber compakten Masse flamändischer Schriftsteller zollen, die in Mitte der Uebermacht, mit welcher die französische Literatur das Land umschlungen hält, ohngeachtet der Umstände, welche die französische Sprache zur Sprache der Kammern, der Gesetzgebung, des höhern Unterrichtes und der Mode machen, dennoch fest und treu an dem Geist und Ausdruck ihrer germanischen Voreltern halten, und an die alten übrig gebliebenen kostbaren Schätze der niederdeutschen Poesie neue Produktionen reihen, und mit dem Volke in seiner Sprache sprechen, und Belehrung, nationalen Geist und poetische Empfänglichkeit unter der Masse der zwei Millionen Flamänder verbreiten, die keine andern Laute kennen, als die alte niederdeutsche Mundart, welche sie von ihren Eltern und Ureltern ererbt und gelernt haben.

Diese Bemühungen der flamändischen Literatur, abgesehen von ihrer nationalen Wichtigkeit, sind auch wegen ihres innern Werthes einer Aufmerksamkeit werth. Die Produktionen eines Legedank, Delaet, Conscience etc. sind von einem so unmittelbar germanischen Geist durchweht, daß die deutsche Poesie, die durch die Einflüsse der Philosophie und der Nachahmungen des Auslandes auf manche Abwege gerieth, an der naiven Kraft dieser Flamänder manchmal sich erfrischen könnte.

Aber wie wenig Aufmerksamkeit schenkt man in Deutschland dieser Literatur. Höchstens daß hie und da ein Zeitungsartikel davon spricht, wie man über China oder indische Literatur berichtet, höchstens daß hier und dort ein Gelehrter die wichtigen Forschungen eines Willems zu Rathe zieht. Der Masse des deutschen Publikums, der Masse der deutschen Literaten selbst, ist sie gänzlich unbekannt. Und doch, von welcher Wichtigkeit könnte es werden, wenn die Seitenzweige deutscher Sprache und Poesie die durch Flandern und Brabant in ihrer alterthümlichen Rinde sich ziehen, in eine innigere Verbindung mit dem Hauptstamme träten. Wie ein lang verborgen gelegenes Pompeji würden sie mit reichen Formen und alten Schätzen unsere Sprache bereichern, während wir für unsere Literatur ein neues Feld und neue Volksmassen gewönnen und zwei Millionen Stammgenossen mehr zu Zuhörern und Theilnehmern hätten.

Und ist es auf dem Gebiete der Kunst anders? „Die flamändische Schule!“ Es ist ein in Deutschland viel gebrauchter Ausdruck, aber man denkt dabei noch immer an Rubens, Van Dyk, Teniers etc.; den großartigen Aufschwung, den die neueren belgischen Maler genommen, kennt man nur vom Hörensagen. Den besten Beweis lieferte hiervon das große historische Gemälde de Keysers, welches durch besondere Umstände nach Deutschland verschlagen wurde, und in Frankfurt, Leipzig etc. zur Ausstellung kam. Dieses Bild hat bei der deutschen Kritik eine unendliche Begeisterung hervorgebracht, während man es in Belgien bloß als ein Bild zweiten Ranges betrachtet, welches keinen Vergleich aushält mit den andern Schöpfungen de Keysers, Gallaits, Wappers etc. Und Geefs, und Verboekhoven, und Brakelaer, und der ganze Phalanx der herrlichen belgischen Maler und Bildhauer, wie wenig ist er in Deutschland gekannt! Und was ist die Folge? Der belgische Künstler, der lange genug auf die Theilnahme des kunstverwandten Deutschlands vergebens gewartet hat, zieht es vor, seine Bilder nach Paris zur Ausstellung zu senden, wo man durch Bewunderung, Beifallsbezeugungen und Ehrenkreuze ihn zu belohnen und seiner Nation zu schmeicheln sucht. Welch ein glänzender Vortheil könnte daraus entstehen, wenn die deutschen und belgischen Malerschulen sich einander die Hand reichten und gegenseitig ihre Werke zur Ausstellung sich zusenden würden. So aber mußten wir es erleben, daß unlängst, da die Durchreise unseres Cornelius von einem Zeitungsblatte angezeigt wurde, ein bekannter belgischer Maler uns fragte, wer denn Cornelius sei; und Bendemann brachte den ganzen Sommer in Ostende zu, ohne daß man auf den Namen und die Anwesenheit des Meisters im Mindesten aufmerksam gewesen wäre.

Diese und ähnliche Umstände haben wir bei der Begründung dieser Blätter im Auge. Eine große und edle Aufgabe sehen wir vor uns liegen: Zwei Länder, die von der Natur, von der Geschichte, von unzähligen innern und äußern Beziehungen, geistigen und materiellen Lebenspulsen dazu bestimmt scheinen, in dem innigsten Verständniß, in dem freundlichsten Verkehr mit einander zu gehen, stehen durch eine Reihe von Vorurtheilen, durch ein Verkennen ihres gegenseitigen Interesses schroff und fremd einander gegenüber. Diese Vorurtheile zu heben, dieses Verkennen auszurotten, die Scheidewand zu untergraben und die Brücke zu einer geistigen Vereinigung und gegenseitigen Anerkennung zu bauen, ist eine Aufgabe des besten Strebens würdig. Diese Aufgabe sollen diese Blätter unveränderlich im Auge behalten. Eine zweifache Arena sehen wir unserer Thätigkeit eröffnet. Indem wir einerseits ein deutsches Organ in einem fremden Lande eröffnen, glauben wir den in diesem Lande einzeln zerstreuten, dem deutschem Geistesleben verwandten und geneigten Elementen einen Mittelpunkt zu bieten. Wir denken die Kenntniß deutscher Zustände den damit unbekannten Personen dadurch zu erleichtern, daß wir eine Tribüne in ihre Mitte schieben, die über das geistige, sociale und geschichtliche Leben der deutschen Nation manche nöthige Aufschlüsse geben kann. Wer die ungeheuren Fortschritte, die Deutschland in seiner neuesten Zeit gemacht, in allen Folgen erfaßt, dem ahnt es wohl, daß die Zukunft Europas im Schooße jenes Landes ruht. Der mächtige Aufschwung des preußischen Staats, die industrielle Ausdehnung Oesterreichs, die Concentrirung der einzelnen Stämme und Gebiete durch den Zollverein und die Eisenbahnen, Alles dieses zeigt, daß der Stern jener Nation erst im Aufgehen begriffen ist. Wem kann es wichtiger sein, die Entwickelung desselben zu beobachten, als Belgien, das die Garantie seiner Zukunft nur in einem klaren Verständniß der Weltlage findet, und in dem klugen Begreifen, welche Kraft in auf- und welche in absteigender Linie sich bewegt.

Wir haben uns, um nach dieser Seite nützlich werden zu können, der Mitwirkung einiger trefflicher Schriftsteller versichert, von denen jeder in seinem Fache zu den besten Namen zählt, welche die deutsche Literatur gegenwärtig aufzuzeigen hat.

Einen nicht minder edlen Wirkungskreis aber sehen wir uns andererseits eröffnet als Dollmetscher des reichen belgischen Lebens bei seinem deutschen Nachbar. Der kräftige Pulsschlag des Volkes, die mannichfache Reibung zwischen den gallischen und germanischen Elementen, zwischen dem Naiven und Raffinirten, zwischen alten und neuen Institutionen, die glänzenden Erzeugnisse der Kunst, der phantastische Eifer einer sich entwickelnden Literatur, die Riesenthätigkeit der Industrie, die merkwürdigen Resultate des Associationswesens – ein unermeßlicher Stoff, für den man sich begeistern muß, auch wenn man nicht in der Mitte dieses reichen Landes wohnt, unter der steten Aufregung seiner Eindrücke, unter dem täglichen Stachel seiner aufreizenden Lebensthätigkeit.

Auch auf diesem Gebiete haben wir uns mit den gehörigen Kräften zu versehen gesucht, und da wo unsere Kenntniß der Landeszustände unzureichend ist, haben uns mehre der besten belgischen Schriftsteller ihren Beistand zugesagt, und wir werden es uns angelegen sein lassen, die Beiträge, die wir dieser Art in flamändischer oder französischer Sprache erhalten, der Art wiederzugeben, daß ihnen von ihrem ursprünglichen Gepräge so wenig als möglich geraubt werden soll.

Wir gehen mit Eifer und inniger Wärme an unser Werk; möge der Erfolg uns nicht verlassen.

Brüssel, den 28. September 1841.
I. Kuranda.     



Anmerkungen[Bearbeiten]

  1. Um Ein Beispiel von Tausenden anzuführen, erinnern wir nur an die Verfassungskämpfe in Würtemberg 1816, wo die Opposition dem freisinnigen Könige, der eine ausgedehnte,die bisherigen Landesfreiheiten erhöhende Constitution geben wollte, sich entgegenstellte und auf die Einsetzung des Altgebräuchlichen drang, und wo Uhland, der deutscheste Sänger, das Lied dichtete:

    Wo je bei gutem, alten Wein
    Der Würtemberger zecht,
    Da soll der erste Trinkspruch sein
    Das gute alte Recht.