Die Achillesferse

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Autor: Emil Roland
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Titel: Die Achillesferse
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aus: Die Gartenlaube, Heft 26, S. 820, 822–824
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1892
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Die Achillesferse.

Skizze von Emil Roland.

Er hatte nun einmal im Lebenstheater seinen Platz im zweiten Range.

Zuweilen sah er mit stiller Sehnsucht denen zu, die sich dank größerer Energie, vielleicht auch dank einer stolzeren Einbildung auf das theure Ich bei Zeiten besser „abonniert“, ihren Stuhl auf einen dankbareren Boden gesetzt hatten. Neid empfand er dabei nicht, seine Gutmüthigkeit schloß das aus, aber ein dumpfes Gefühl, gemischt aus Hoffnung und Wehmuth, überkam ihn. Sein Dasein war zwar kein unangenehmes; Straßenbettler, verschuldete Kaufleute und hungernde Künstler beneideten ihn zu Dutzenden. Und doch fehlte diesem Leben etwas – das Dasein gab ihm manches Gute, nie das Beste! Es war eben eine Existenz vom zweiten Range, ein Schicksal zweiter Güte!

Die Menschen, die ihn kannten, wußten niemals etwas Böses über ihn zu sagen, und da sich nicht einmal eine lustige Glosse an seinen rothblonden Durchschnittskopf hängen ließ, so erwähnten sie seiner kaum. Plötzlich aber kam eine Zeit, in der jeder von ihm sprach, wo sein Name von Lippe zu Lippe flog und genannt ward im abfälligsten Ton, den „freundliche“ Mitbrüder füreinander haben. Er hatte ein großes Unrecht begangen – eine Braut verlassen, eine ehrbare Familie bloßgestellt, seinen eigenen bürgerlichen Ruf erschüttert. Zwei Monate lief er so Spießruthen in seiner Vaterstadt – dann verließ er sie und siedelte sich anderswo an.

Es ist nicht leicht, „anderswo“ anzufangen, wenn man sich das Dasein in der Heimath selbst verschüttet hat und einen blessierten Ruf mitnimmt, der wie ein Theatergeist immer wieder aus der Versenkung steigt, meist gerade dann, wenn er am nothwendigsten unter derselben hätte bleiben müssen. Die Eisenbahnnetze, die Reisewuth, unter deren Zeichen die Kinder unserer ruhelosen Zeit stehen, lassen keine Achillesferse im Verborgenen. So leicht kommt jemand von dort nach da, fragt, was aus dem Landsmann geworden, zuckt die Achseln, deutet an, wird bestürmt und erzählt – scheinbar ungern, in Wahrheit mit Lust.

So kam auch sein wunder Punkt bald genug zu Tage. Die Mütter warnten ihre Tochter vor ihm, die Männer hielten mit ihrem Vertrauen zurück; die „jeunesse“ streifte ihn mit einem Blicke des Staunens, weil dieser Don Juan sich so gut verstellte, weil er scheinbar so schuldlos einherging und die Belastung seines Gewissens nicht einmal in dem treuherzigen Blicke seiner blauen Augen erkennen ließ.

Ob er das alles merkte? Wer weiß! Still und resigniert ging er seines Weges, einer jener Einsamen, die vielleicht eine Welt in sich tragen, denen aber die Welt der anderen gleichgültig ist, gleichgültig oder beängstigend; nicht gerade ein Unglücklicher, aber doch ein Glückloser, ein Abonnent vom zweiten Range, dessen Schuld allein darin lag, daß er sich ein einziges Mal zum ersten hatte erkühnen wollen.

*  *  *

Achilles Schmitt – er war wirklich auf den Namen Achilles getauft, die Ferse fand sich erst später dazu – brachte das Kunststück fertig, dreißig Jahre in der Welt zu sein und noch keine Kleinigkeit erlebt zu haben, die vom Gewöhnlichen abwich. Er war wohlbestallter Bankbeamter, weder hübsch noch häßlich, ohne jeden hervorstechenden Zug, ohne eine komische Angewohnheit, ein Mensch, den man oft gar nicht gewahrte, wenn man ihn ansah, der aber – von der höheren Moral aus betrachtet – über vielen glänzenden Existenzen stand. Er war ein stiller Wohlthäter der Armen, ein rührender Sohn, der die Schulden seines Vaters in langjähriger Arbeit abbezahlt und es schließlich dank seinem unermüdlichen Fleiß zu einem leidlichen Wohlstand gebracht hatte.

Gereist war er kaum, gelesen hatte er wenig. Nie auch strich der Zufall oder ein besonderes Erlebniß an die lyrische Saite, die in jedem Herzen aufgespannt ist und nur des Griffes wartet, damit sie tönen kann. Nicht einmal der erblühende Lenz hatte Macht über ihn. Pflicht und Arbeit machten ihn blind, aber nicht, weil er blind sein wollte, nur weil er nicht ahnte, wie schön das Sehen ist.

Da trat eine Wendung ein. Als blaue Pappkarte fiel sie ihm in die Hand, zufällig, ohne daß er ihre Wichtigkeit ahnen konnte.

Ein junger Architekt schob ihm besagte Karte beim Mittagessen über den Tisch. „Schmitt,“ sagte er dabei, „ich muß auf fünf Wochen nach Berlin. Nehmen Sie mir doch das Ding da ab! Es ist wirklich bildend und ich brauche bar Geld, damit ich wenigstens ‚vierter‘ fahren kann – fünfter giebt’s ja leider nicht!“

Achilles nahm das „Ding“. Es war eine Abonnementskarte für Vorlesungen im Stadthaus. „Was soll ich damit?“ fragte er. Am liebsten hätte er dem jungen Manne, der ihm mit dem Anstand eines lustigen Königs gegenübersaß, die Summe geschenkt. Er wagte es aber nicht, zog die Börse und zahlte den Betrag in die gesunde, dankbar sich hinstreckende Hand. Dann steckte er die blaue Karte arglos in seine Brieftasche.

Von dort aus fiel sie ihm täglich in die Hand, wenn er – peinlich ordentlich, wie ihn die Natur und sein Beruf gemacht – etwas aufschrieb oder dem braunen Schildkrötleder einen Geldschein entnahm. Halb zerstreut las er dann auch wohl die Daten der Vortragsabende. Zwei davon waren schon vorüber, der dritte stand unmittelbar bevor. Bildungsbedürfniß stak von jeher in seiner Seele, nur daß er nicht die Zeit oder bloß ein Konversationslexikon gehabt hatte, ihm zu genügen. Auch erschien ihm die gedruckte Karte wie eine Verpflichtung – kurzum: als es an dem betreffenden Tage sieben Uhr schlug, saß Achilles Schmitt wirklich auf Stuhl 102 und schaute gespannt durch seine goldene Brille allem Kommenden entgegen.

Diesmal kam die „Bildung“ von einem Recitator. Er konnte ein ganzes Heldengedicht auswendig, und nachdem er auf einem Stuhle langsam Platz genommen hatte, so, daß sämmtliche Zuhörer die Eleganz seiner übertrieben spitzen Stiefeletten und seiner seegrünen Handschuhe bewundern konnten, begann er ohne Umschweife oder Einleitungsworte die schönen Verse über zweihundert lauschende Häupter hinzuschmettern.

Hinter Achilles verfielen zwei Backfische sofort in krampfhafte Lachzustände, zwei unartige Mädchen mit langen Gliedern und langen Zöpfen, die das Leben im allgemeinen komisch fanden und den Recitator insbesondere. Darüber entrüstete sich neben ihm auf dem Stuhl 103 ein ältliches Fräulein, einer jener [822] weiblichen Vortragsmarder, die es viel zu billig finden, für eine einzige Mark von einem zugereisten Genie aus der Tagesprosa in reine Höhen gehoben zu werden. Sie sah in dem Kichern eine Entweihung und wandte sich drohend um. Unwillkürlich rückte Achilles ein wenig nach rechts, und zufällig streifte da sein Blick den Seitendivan, neben dem er saß. Himmel! dachte er, ist so etwas denn möglich?

Er blickte gerade in das Gesicht eines Mädchens hinein, in ein blondes frommes unbewegliches Gesicht, das dem vortragenden Stutzer mit staunender Aufmerksamkeit zugekehrt war. Schnurgerade saß das Mädchen da, die Hände in braunem Leder sittsam auf dem dunkelblauen Kleide ineinandergelegt; sie rührte und regte sich nicht, sie war ganz wie ein Madonnenbild aus dem Glasfenster eines Domes, die Toilette natürlich zeitgemäß umgestaltet.

In derselben Minute begann der Recitator, „lyrisch“ zu werden – es waren echte Liebeslieder, tiefe Klänge von Lust und Glück. Die Backfische lachten wieder; sie fanden den Mann da oben in seiner unbeweglichen Haltung gar zu komisch; er aber, Achilles Schmitt, saß wie ein Veränderter da, zwiefach gefangen von Poesie und Liebe. Das giebt immer ein fragliches Gemisch und unsichere Folgen – zuweilen eine Heirath, zuweilen ein Unglück, meistens eine Thorheit.

Als Schmitt nach Hause kam, dachte er unaufhärlich an die Nachbarin auf dem rothen Divan. War es denn möglich, daß er, der solide gesetzte Achilles, sich so plötzlich wie ein spazierengehender Primaner verliebt hatte?

Mit Spannung sehnte er den nächsten Vortragsabend herbei. Als dieser endlich kam, ging Achilles vorher zum Friseur, band dann einen modernen Klappkragen um, zog neue Raupenhandschuhe an und war zitternd vor Hoffnung bereits mit den Ersten im Saale. Von der Furcht gepeinigt, daß sie am Ende doch nicht wiederkomme, wartete er ängstlich auf seinem Stuhle. Da plötzlich glitt sie an ihm vorbei; ihm war, als streife ihr Blick über ihn hin – er sah den Saum ihres blauen Kleides, sah, wie sie sich ruhig und gemessen niederließ, und wagte noch immer nicht aufzuschauen. Erst ganz spät – der Wanderprofessor, der heute über ägyptische Dynastien las, war bereits bei Ramses dem so und sovielten angelangt und sezierte selbigen sehr hübsch und übersichtlich für das Verständniß der mitteldeutschen Fabrikstadt – erst nach langem Kampfe wanderte sein Blick zu ihr hin, schüchtern und anbetend. Nein, wie reizend sie war! Ob er wohl den Muth finden würde, ihr beim Fortgehen zu folgen, um zu erfahren, wo sie wohnte, wer sie war? Er taxierte seinen Besitz an Muth – nein, zu einem solchen Wagniß reichte er nicht aus.

Und doch hatte ihn die blaue Karte glücklich gemacht, seinem Leben Inhalt gegeben, seinen Träumen Schimmer. Sonst träumte er stets von Kurszetteln, von den Gesichtern fremder Buchhalter – wenn es schlimm kam, von Bankerott und Unterschlagung. Jetzt lugte zu jeder Ecke seines Traums eine wie auf Glas gemalte Heilige herein, und dunkel kam ihm die Ahnung, daß sein Leben doch schöner werden könne, daß er nicht immer im zweiten Range zu sitzen brauche; schließlich tauchte der vermessene Gedanke an eine Heirath auf. Sie wird doch nicht gerade die Tochter des Oberbürgermeisters sein, hoffte er, vielleicht ist sie verwaist, vielleicht hätte sie doch die Güte, mich zu nehmen; das nächste Mal will ich jedenfalls etwas kühner sein.

Und „das nächste Mal“ kam; mit ihm ein Vorleser aus Ungarn, der sich stolz als „Ritter“ ankündigte, eine düstere Erscheinung, die sich mit rollenden Augen und ohne Konzept daran machte, eine übelbeleumdete Persönlichkeit der Geschichte sittlich reinzuwaschen – es wäre nur zu wünschen gewesen, flüsterten sich die Backfische zu, daß er dasselbe Geschäft erst körperlich an sich besorgt hätte.

Wieder zürnte der benachbarte weibliche Schöngeist, der in seiner milden Menschenfreundlichkeit so gern an die Trefflichkeit des Caracalla, oder wer nun gerade das abzuwaschende Subjekt war, glauben wollte. Wieder wie immer zierten Schülergestalten mit übereinandergekreuzten Beinen die Säulenschäfte des Saalhintergrundes, kindliche Gesichter, aus denen das freudige Bewußtsein strahlte, die ganze Weisheit zum halben Preise zu bekommen und noch obendrein gratis im sitzenden Publikum angebetete Schulmädchenköpfe zu entdecken.

Wie immer starrten Armleuchter und Gipsmusen von den Wänden – aber eins war nicht wie sonst. Eine Fremde saß auf dem Platze von Herrn Schmitts Madonna – gerade heute, an dem Abend, wo er trotz seines mangelhaften Muthes den ersten kleinen Schritt zu wagen dachte!

Wer war sie? Wie kam sie auf ihren Platz? Sie mußte doch in Zusammenhang stehen mit ihr! Immer wieder sah er sie an. Einmal trafen sich ihre Blicke – es war ein strenger, unangenehmer Gegenblick, den er abbekam.

Der „Ritter“ – daß es keiner „vom goldenen Vließ“ war, bezweifelte außer Achilles’ Nachbarin niemand – schloß mit einem großen Wortschwall glänzend ab. Hätte der römische Kaiser aus seinem länderfernen Grab die nachträgliche Reinwaschung hören können, sie wäre ihm vermuthlich sehr gleichgültig gewesen; trotzdem hatte das Mundwerk des Ritters allmählich das geschichtlich verbriefte Scheusal zum Engel gemacht. Lautes Beifallklatschen, Verbeugungen des „Ritters“ vom Podium, und die Menge verlief sich.

Draußen war Winternacht und Glatteis. Vorsichtig tastende Gestalten wimmelten aus dem Stadthaus und vertheilten sich in die verschiedenen Richtungen. Gaslaternen, vereinzelte Sterne und ein zuweilen hinter Wolken hervortretender Mond beleuchteten das Nachtbild. Wer Bekannte traf, hakte bei ihnen ein und focht den Kampf mit der Glätte gemeinsam. Einzelne Pilger glitten ängstlich an Wänden und Laternenpfählen hin.

O! dachte Achilles, das wäre nun die beste Gelegenheit, ihr den Arm zu bieten oder wenigstens ihrer Stellvertreterin – denn, wer weiß ... es führen viele Wege nach Rom! Er stand unter dem Thorgang und spähte unter alle Kupuzen, bis er die Gesuchte fand, die rathlos auf den spiegelähnlichen Boden sah. „Mein Fräulein!“ log er entschlossen, „ich habe denselben Weg wie Sie –“

„Woher wissen Sie denn, wo ich wohne?“ fragte eine scharfe Stimme unter dem Schleier hervor.

Er stammelte verlegen etwas Unverständliches und begann dann schnell mit einer Auseinandersetzung über die ernsten Gefahren des Glatteises, so daß die Unbekannte erschrocken den angebotenen Arm ergriff. Und je mehr sie einsah, wie glatt es war, desto fester klammerte sie sich an ihren Begleiter.

„Waren Sie schon im letzten Vortrag?“ fragte er endlich.

„Nein, die Karte gehört mir gar nicht.“

„Wem denn?“ Sein Herz klopfte hörbar.

„Meiner Nicht –“

„Ihre Nichte ist doch nicht krank?“

„Nein. In Berlin.“

Ihn durchzuckte die Vorahnung künftiger Seligkeit – wenn man eine Nichte liebt, ist es immer schon ein Glücksfall, die Tante am Arm zu halten. Dann empfand er dumpfe Angst. Berlin ist so groß, „hat der Tücken soviel und Gefahren!“

Plötzlich glitt die Tante aus; er hielt sie noch rechtzeitig fest. „Wann kommt Ihre Nichte wieder?“ rief er heiser.

„Uebermorgen!“ Sie hörte kaum auf das Gespräch, sie ängstigte sich nur um ihre augenblicklich sehr unsichere Existenz.

„Ich glaube,“ rief sie plötzlich, „Sie stützen sich viel mehr an mir, als ich mich an Ihnen!“ Dabei ließ sie seinen Arm fahren, tappte einem Gitterthor entgegen und wanderte daran hin. Er folgte in drei Schritt Abstand.

Liebenswürdig ist sie nicht, dachte er, aber natürlich – alles kann ja in einer Familie nicht Engel sein; auch Familien müssen von ihren Vorzügen ausruhen.

Ein paar gescheite Leute hatten sich im nächsten Laden Wollsocken gekauft und eilten in diesen mit neuer Sicherheit gleich Schattenbildern vorüber; nun da für sie das Stolpern unwahrscheinlich war, sahen sie spöttisch auf die anderen minder Klugen, zumal auf das wunderliche Paar, das sich langsam und schweigend an den Gartengittern entlang tastete.

„Grundgütiger!“ rief mit einem Mal die Tante; „das war der Herr Rechnungsrath! Was wird der denken – ich mit einem jungen Mann allein auf der Straße!“

Achilles hatte keine Ahnung, was in solchen Fällen Rechnungsräthe zu denken pflegen. Er schwieg.

„Das ist zu peinlich!“ fuhr sie fort. „Aber Gott sei Dank, wir sind gleich am Haus. Herr – ja wie heißen Sie denn, mein Herr?“

„Schmitt –“

„So hören Sie, Herr Schmitt! Sie hätten das nicht thun dürfen, so ohne weiteres eine unbeschützte Dame zu begleiten!“

Achilles raffte sich auf. „Mein Fräulein,“ sagte er muthig, „da ich hoffe, daß uns einst engere Bande verknüpfen, können wir etwaigen Mißdeutungen wohl kühn die Spitze bieten –“

[823] „Engere Bande?“

„Nun ja,“ stammelte er verwirrt, „Bande der Verwandtschaft. Lassen Sie es mich nur offen gestehen: dies Vortragsabonnement hat mir das Glück meines Lebens gebracht!“

Hier gerieth er ins Stottern, verhaspelte sich mehrmals in einem Satze, aus dessen verworrenen Tiefen immer wieder das Wort „sie“ hervorzitterte, das er auf die Nichte, die Tante aber, als groß geschrieben, auf sich bezog, und schloß endlich mit der Frage, ob er in drei Tagen kommen dürfe.

Inzwischen waren sie am Haus der Tante angelangt, auf das diensteifrige Klingeln von Achilles erschien das Mädchen und riß die Hausthür auf. Das Fräulein sah ihn noch immer mit einem sonderbaren Ausdruck an. „Ja, was sind Sie denn eigentlich?“ fragte sie schließlich.

„Bankbeamter Schmitt – Achilles Schmitt –“

„Achilles? O wie trojanisch!“ bemerkte sie mit plötzlicher Freundlichkeit. „Auf Wiedersehen, Herr Schmitt!“

Der wohlbeleibte Hausgeist schlug die Thüre zu; Achilles stand allein auf der glatten Straße.

Das habe ich klug gemacht! sagte er selbstzufrieden. Also in drei Tagen – o! Warum sie nur „trojanisch“ gesagt hat? Achilles war doch wohl mehr ein Grieche!

Und mit einem Herzen voll Seligkeit und Hoffnung stapfte er langsam und vorsichtig über die nächtliche Straße nach Hause. –

Nun kamen die drei schönsten Tage in Achilles Schmitts Leben – Tage ersten Ranges, erster Güte. Die Menschen, mit denen er zusammentraf, wunderten sich über ihn. Was hatte er nur? Die blauen Augen strahlten so sonderbar durch die Brille, und alles an ihm, was bisher indifferent, durchschnittsmäßig gewesen war, trug plötzlich den Stempel einer seltsamen unbeholfenen Seligkeit, bis endlich die Entscheidungsstunde kam und seine Madonna aus dem Rahmen trat.

Klopfenden Herzens ging er in das Haus. Der dicken Köchin drückte er gleich zum Anfang ein großes Trinkgeld in die Hand. Dann stand er im Salon, wartend, Bilder anstarrend ohne eine Ahnung davon, was sie vorstellten – und endlich knarrte die Thür und das aus Berlin zurückgekehrte Heiligenbild stand vor ihm. Hier erreichte das kurze Glück, das Herrn Schmitt beschieden war, seinen Gipfel.

Das Mädchen nickte ihm lächelnd zu, und natürlich verschönte dieses Lächeln ihre Züge noch.

„Wie freue ich mich!“ begann sie. „Sie glauben nicht, wie glücklich ich bin, daß sich alles so gemacht hat! O, wie schön wird nun auch für mich das Leben sein! Aber setzen Sie sich doch, Herr Schmitt – bitte, Ihren Hut!“

Und sie nahm ihm den Hut aus der Hand, so daß er mit seinen ungeschickten Armen fast hilflos dastand, bot ihm einen Stuhl an, setzte sich in die Sofaecke und fuhr fort:

„Verzeihett Sie mir, daß ich gleich gekommen bin! Aber die Tante ist noch bei der Toilette, und sehen Sie – ich wollte Sie doch so gern allein sprechen!“

Er sah sie dankbar an und wollte nun auch etwas sagen, natürlich ihren Namen –

„Wie heißen Sie nur?“ fragte er schüchtern, „ich meine den Vornamen – alles andere weiß ich bereits aus dem Adreßbuch.“

„Ja so,“ entgegnete sie, „das müssen Sie allerdings erfahren! Getauft bin ich Antoinette, aber so nennt mich zum Glück niemand. Antoinette klingt so geziert. Sagen Sie nur auch wie die anderen alle: ‚Toni‘.“

„Toni!“ stammelte er und griff nach ihrer Hand. „Wie bin ich glücklich!“

„Wirklich? Wie mich das freut! Aber Sie verdienen es auch, glücklich zu sein, und die Tante ebenso –“

„Die Tante?“ fragte er verwundert.

„Nun natürlich! Sie muß übrigens gleich kommen, und vorher, Herr Schmitt – vorher möchte ich Sie noch um etwas bitten. legen Sie auch für mich ein gutes Wort ein!“

„Aber gewiß –“

„Sie müssen nämlich wissen, es ist für mich geradezu ein Glücksfall, daß die Tante sich noch verheirathet! Zu erwarten war es ja nicht mehr. Tante ist in vielen Dingen so schwierig, wie soll ich sagen, so streng – o, Sie brauchen nicht zu erschrecken, Herr Schmitt! Sie werden das nicht empfinden – Liebe gleicht ja alles aus! Allein sie hätte mir ohne diese Wendung wohl schwerlich gestattet, zu heirathen, und da ich ebenfalls Pläne habe“ – hier zupfte sie verlegen an ihrem Taschentuch – „ja, da ich sogar schou ganz regelrecht verlobt bin –“

Achilles war aufgesprungen. In ihm wurde es mit einem Male schrecklich klar. „Fräulein Toni!“ stieß er hervor, „wer ist denn eigentlich Ihr Bräutigam?“

Auch Toni fuhr in die Höhe. „Aber Herr Schmitt, Sie sind ja schrecklich blaß geworden! Nicht wahr, das Verloben greift an? Indessen beruhigen Sie sich nur, die einleitenden Feierlichkeiten sind das Schlimmste – wenn man erst das Jawort hat, so wird es wirklich sehr nett.“

„Den Namen,“ rief er, „den Namen Ihres Bräutigams!“

„O – Sie kennen ihn!“ entgegnete sie, erstaunt über sein aufgeregtes Benehmen. „Sie haben ja sein Vortragsabonnement übernommen, Platz 102 – Sie wissen doch! Im Stadthaus sahen wir uns – dann reiste er fort – ach, Sie glauben nicht, welchen Schrecken ich bekam, als statt seiner dann plötzlich Sie erschienen! Ich konnte ja nicht ahnen, daß derselbe Platz auch Ihnen und meiner Tante noch Glück bringen sollte. Dann traf ich ihn in Berlin wieder, zufällig – in der Pferdebahn – und dann – nun dann hat sich’s eben gemacht! Nicht wahr, Herr Schmitt, wir feiern Doppelverlobung – aber was haben Sie nur? Sie sehen ja ganz leichenblaß aus!“

Achilles war auf einen Stuhl gesunken.

„Antworten Sie doch!“ flehte Toni. „Nicht wahr, Sie setzen es bei der Tante durch, daß wir beide uns auch haben dürfen?“

Da nahm er ihre Hände in die seinen, Hände, die ihm trotz ihrer Nähe im Grunde ebenso unerreichbar waren als die gemalten Finger der Glasheiligen im Dome, und sagte vernichtet: „Alles thu’ ich, was Sie wünschen, Toni!“

Da ging die Thüre auf und die Tante rauschte herein. Sie trug ein altmodisches Ripskleid und eine seltsame Frisur. Selbst Achilles, der kein Modegeck und besonders in diesem Augenblick keiner Kritik fähig war, ahnte dunkel, daß so etwas unerlaubt sei.

Toni flog ihr um den Hals. „Wir machen Doppelverlobung und morgen steht’s unter den Anzeigen!“ Dann umarmte sie Herrn Schmitt und rief selig: „Onkel Achilles, wie danke ich Dir!“

Er wußte nicht, was thun. Die Situation trieb ihn weiter. Nur eins stand klar vor seiner Seele: aufklären konnte er das Mißverständniß nicht, jetzt nicht. Dazu reichte sein Muth nicht aus. So gab er denn der Tante die Hand, stammelte Worte von Ergebung, Achtung, Dankbarkeit. Sie hörte ihn gnädig an. Auf ihrem Gesicht stand geschrieben, was sie dachte. „Wie wird mein Kränzchen sich wundern!“

Zuletzt erschien noch Leonhardt, der junge Architekt, mit einem großen, kleidsamen Schlapphut und einer genialen Kravattenschleife von überzeugendstem Blau. In der Erinnerung glaubte Achilles später noch eine Bowle auftauchen zu sehen, die man getrunken hatte, Scherze des übermüthigen Architekten, das strenge starkknochige Gesicht der Tante und ein Madonnenprofil, das, von ihm abgewendet, lächelnd in die Züge eines Glücklicheren schaute.

*  *  *

Am Tage darauf – Leonhardt war stets für rasche Erledigung – stand die Doppelverlobung im Tageblatt.

Zwei Tage erschien Achilles nicht bei seiner Braut. Er ließ sich mit einer heftigen Erkältung entschuldigen. In Wahrheit war alles in ihm vernichtet und zerbrochen. Am dritten Tage erschien der Architekt in seiner Wohnung und sagte energisch:

„Schmitt – Ihr Betragen ist nur mit etwas zu erklären, mit Zahnweh. Haben Sie das aber nicht, so sind Sie unentschuldbar und müssen mit!“

Achilles sah ihn mit dem traurigen Blick eines kranken Thieres an. Da drohte Leonhardt mit dem Finger.

„Den wohlmeinenden Rath gebe ich Ihnen: machen Sie die Tante nicht böse! Ich versichere Sie, in ihrem Grimm kann sie furchtbar sein, und ich glaube, ziemlich geladen ist sie schon –“

Schmitt griff nach seinem Ueberzieher. Plötzlich ließ er ihn fallen. „Ich kann nicht, Leonhardt!“ rief er, „ich kann wirklich nicht – ich habe mich geirrt.“

Der Architekt nahm eine kalte strafende Miene an. „Herr Schmitt,“ sagte er streng, „in solchen Dingen irrt man sich nicht. Thut man es aber doch, so ist man gewissenlos. Nun, ich habe meine Toni, und zum Glück gehen mich die Angelegenheiten ihrer Tante nicht allzuviel an.“

[824] Und fort war er!

Ich könnte, sagte Achilles nach langem Sinnen zu sich selbst, mit einer Frau wohl in Frieden leben, auch wenn sie meinem Ideal nicht entspräche, aber das kann ich nun und nimmer – Onkel sein, wo ich lieber Gatte wäre!

Noch am selben Abend schrieb er seiner Braut ab, so schonend als möglich, alle Schuld auf sich ladend, sich selbst heruntermachend, als wäre er der elendeste Verbrecher, den die Sonne beschien. – –

Vierzehn Tage lang hütete Herr Schmitt das Haus; endlich aber mußte er wieder ins Geschäft. Da sah er, was er angerichtet hatte; strafende Blicke trafen ihn, man kannte ihn nicht mehr, grüßte ihn kaum. Die Achillesferse machte sich geltend. Herr Schmitt war der „bewußte“ Schmitt geworden. Sein Ruf hatte den tadellosen Glanz von ehedem ganz verloren.

Endlich beschloß er, fortzuziehen. Seine auswärtigen Geschäftsverbindungen machten es ihm leicht, anderswo eine Stellung zu finden. So brach er seine Existenz ab und verließ die Stadt, wo er sich erkühnt hatte, drei Tage auch einmal ein Glück erster Sorte zu genießen. Die blaue Karte nahm er mit sich; er trug sie als Talisman in der Brieftasche.

Nur eines wünschte er noch, ein Abschiedswort von Tonis Lippen, ein Wort der Verzeihung. Er umwanderte stundenlang das Haus, in steter Angst vor der Tante, bis der Zufall ihm eine letzte Wohlthat erwies.

Toni kam am Arme ihres Bräutigams. Dieser wollte pfeifend an Achilles vorüber. Der aber trat auf Toni zu. „Fräulein Toni,“ begann er schüchtern, „ich reise morgen für immer ab – sagen Sie mir noch ein gutes Wort!“

Da wandte sie ihm stolz den schmalen Kopf zu, sah ihn kalt und vernichtend an und entgegnete schneidend:

„Ich hätte nie gedacht, Herr Schmitt, daß Sie so verderbt sind!“

Diese Worte waren der Schluß seines Traumes.

Die Madonnenlippen sprachen sie zuerst aus, und sie blieben hängen als Aufschrift über seinem Leben.

In der neuen Heimath that er niemand etwas zu leide, lebte musterhaft hin, still und resigniert. Dafür belohnte man ihn denn auch, indem man Herrn Schmitts Verderbtheit nicht etwa erklärlich fand, sondern nie aufhörte, sich stets aufs neue über sie zu – wundern.