Die Bibliotheken der Klöster des Athos
[1] Die Bibliotheken
der Klöster des Athos.
Nach dem
Rechenschaftsbericht des Prof. Dr. Spyridion Lambros
an die griechischen Kammern
deutsch von
August Boltz,
Professor.
Bonn,
Verlag von Dr. Eduard Nolte. 1881.
[2] [Blanko]
[3]
Vorwort des Uebersetzers.
Ich habe geglaubt, der deutschlesenden Gelehrtenwelt einen Dienst zu erweisen, wenn ich sie mit dem Inhalte des soeben erschienenen Schriftchens des Herrn Prof. Lambros: „Ἔκϑεσις Σπυρίδωνος Π. Λαμπροῦ, πρὸς τὴν Βουλὴν τῶν Ἑλλήνων, περὶ τῆς εἰς τὸ ἅγιον ὄρος ἀποστολῆς αὐτοῦ κατὰ τὸ Θέρος τοῦ 1880, Ἀϑήνησιν 1880“, so schnell wie möglich bekannt machte. Leider lesen ja so wenige Gelehrte das gegenwärtige so schöne und so urthümliche Hellenisch, im Glauben, es sei eine ganz besondere, entartete, slawisirte und Gott weiss was sonst für eine Sprache, und könnten doch mit so geringer Mühe um eine der herrlichsten Sprachen reicher sein, die noch dazu im ganzen Osten Europa's und in Kleinasien die führende ist. Die blosse einmalige Durchlesung der Artikel, welche ich 1878 im »Ausland« (Nro. 16—21) und 1879 im »Magazin f. d. Lit. d. Auslandes (9. 11. 13. 15. 21) über Wesen und Verhältniss des Neuhellenischen zum Altgriechischen gebracht habe, würde hinreichen, sie zum Genusse der gegenwärtigen hellenischen Literatursprache vollständig zu befähigen. Wie die Sachen heute liegen, ist dazu wenig Aussicht. Die politischen Blätter haben die Gemüther gegen das kleine emsige Völkchen so gründlich verhetzt, dass man im Voraus auf Unglauben rechnen darf, wenn man es wagt, zu Gunsten desselben auch nur ein Wörtchen zu sagen. [4] Mich ficht dies tägliche Vorkommniss nicht an. Ich kann immer wieder nur darauf hinweisen, wie leicht die durchaus griechische neuhellenische Sprache für den klassisch Gebildeten zu erlernen ist und dass es Vielen ein hoher Genuss sein würde, diese im feinsten Hellenisch geschriebene ἔκθεσις im Originale zu lesen, die das Verdienst hat, die Unwissenheit über Bestand und Inhalt der Athonischen Bibliotheken für alle Zeiten gehoben und die oft sehr sanguinischen Erwartungen auf ein bescheidenes aber positives Maass zurückgeführt zu haben. Meine in nur wenigen Tagen gefertigte Arbeit kann keinen anderen Anspruch erheben, als auf das hohe Verdienst des Herrn Verfassers aufmerksam gemacht zu haben, der in aufopfernder Weise dies Alles geleistet hat, um den gelehrten Forschern fürderhin viel Mühe, Sorge und Einbusse an Geld und Gesundheit zu sparen. Die allgemeine Anerkennung wird ihm auch nicht ausbleiben.
[5] I.
Von den drei Landzungen, welche in Makedonien von der Chalkidischen Halbinsel aus in's Meer hineinragen, ist die östlichste die in den 6400 Fuss hohen Berg Athos auslaufende, von den Alten Ἀκτή genannte. Diese schon im Alterthum recht ansehnlich bewohnte Landzunge wurde nach dem Niedergange des Hellenismus mehr und mehr verödet und zuletzt die Zufluchtsstätte von Eremiten und Asketen, welche glaubten, dass sie durch die Entsagung der Welt und die von aller Gemeinschaft mit ihr entfremdete völlige Hingabe an die Verehrung des Göttlichen die Heilssätze der neuen Christuslehre am besten erfüllen könnten. Nach und nach, vom IX. Jahrhunderte an, liessen sich immer mehr Mönche und Eremiten auf der Halbinsel nieder und errichteten Klöster, die sich allmählich zu einem mönchischen Staatswesen ausbildeten. Durch den Zudrang von Mönchen aus allen Ländern der orthodoxen Welt, besonders der hellenischen, sowie durch religionseifrigen Schutz von Fürsten und Grossen wurden ihre Wohnstätten immer reicher und schöner. Nach dem Sturze des byzantinischen Reiches aber blieben diese Klöster nicht nur vom Eroberer verschont und in den meisten ihrer Rechte und Freiheiten erhalten, sondern es wurden deren noch neue errichtet. Die Athonische Halbinsel ward somit, wie bisher, als der »heilige Berg« angesehen, und behielt diesen Namen noch bis auf den heutigen Tag. Diese südöstliche Spitze von Makedonien wurde somit immer allgemeiner als die sichere Zufluchtsstätte aller derjenigen angesehen, welche aus irgend einem Grunde die [6] Welt verliessen, um an dieser denkwürdigen und des Studiums werthen Stätte der inneren Erbauung zu leben. Die natürliche Beschaffenheit und der natürliche Reichthum des Landes, der Mönchsstaat selber, seine Bibliotheken, Archive und Gefässsammlungen bieten den Gelehrten ein höchst wichtiges Material zum Studium dar und haben auch seit früher Zeit die Aufmerksamkeit derselben auf den »heiligen Berg« gelenkt. Seit dem Beginne des XIV. Jahrhunderts, in welchem der russische Archimandrit Zosimos und der Italiener Cristoforo Buondelmonte zu den ersten Reisenden hierher gehören, kamen viele europäische Gelehrte auf den h. Berg, um hier den ernstesten Studien sich zu widmen. Gaben die Einen sich dem Studium der Natur des Berges hin, so studierten Andere das Wesen des Mönchsstaates selber; einige durchforschten die hellenischen und slawischen Handschriften, einige die Archive der Klöster, andere wieder gaben sich ikonographischen und anderweitigen Kunststudien hin. Noch andere hatten als letzten Zweck die Entfremdung der Handschriften im Auge, deren nicht wenige bei solchen Besuchen verloren gingen und nun als Zierde weit abgelegener Bibliotheken glänzen. Unter den Forschern, die in den letzten Zeiten auf den h. Berg kamen, um hier ihren Studien obzuliegen, und deren mehrere von ihren Regierungen zu diesem Zwecke abgesandt waren, ragen durch häufigen Besuch die Russen hervor, unter welchen der Archimandrit Porphyrios Usspénskij und besonders Herr Peter Ssewastianów sich auszeichneten. Der Letztere opferte, von der Beihülfe der russischen Regierung ganz abgesehen, viele Tausende von Rubeln seiner Hauptaufgabe: der Erforschung der Kunstwerke. Viele der fremden Besucher des h. Berges sprechen sich über die Schwierigkeiten, welche das Studium auf demselben begleiten, weitläuftig aus; am aufrichtigsten von Allen ist wohl der rühmlichst bekannte französische Akademiker, Herr Em. Miller, der im Jahre 1865 den Berg bestieg, und in drastischer und gedrungener Weise die Schwierigkeiten schildert, die auch [7] dem arbeitsamsten, energischesten Manne entgegentreten, der hier studieren will. Er sagt: (Mélanges de Philologie, Paris 1876, pag. 45 ff.; hier nach dem hellenischen Texte wiedergegeben): »Die hellenische Schriftkunde wird ohne Zweifel gute Folgen haben, wenn sie sich auf umfangreiche Erfahrung betreffs der Handschriften stützt, sowie auf innige Vertrautheit mit der alten Literatur. Was nun den ersten Punkt betrifft, so sind die Aussichten auf zahlreiche Entdeckungen sehr zusammengeschmolzen. Das ist auch der Grund, weshalb so viele der Reisen nach dem Orient, so ergiebig sie waren in Bezug auf Epigraphik und Archäologie, dies nicht in Rücksicht auf Philologie sein konnten. Und in der That, wer nicht auf den ersten Blick irgend welche beliebige alte Schrift lesen kann, wer nicht die ganze hellenische Literatur inne hat, wer nicht alles schon Edirte weiss, nicht alle Namen der Schriftsteller und alle Titel der verlorenen Schriften kennt, was will der wohl schaffen in einer Bibliothek voller Handschriften, deren meiste ohne Anfang und Ende sind, was angesichts verstümmelter Codices und zerstreuter Blätter, ohne die Beihülfe gedruckter Bücher und jeglichen anderen Beistandes? Und dann, ehe der Forscher überhaupt so weit gelangt, wie viele Anstrengungen, Qualen und welche Verluste an kostbarer Zeit! Wie lange dauert eine so beschwerliche Reise, wie oft ist der Reisende genöthigt schwer bewaffnet lange Strecken auf dem Maulthier mit all seinem Geräthe zurückzulegen, schwer zugängliche und steile Berge zu ersteigen, ja sogar, an einem Seile in die Höhe gezogen[1], die aufregenden [8] Empfindungen einer Luftfahrt durchzufühlen. Hierzu füge man die Schwierigkeiten, die seitens der Mönche erhoben werden, sowie die ungenügende Zeit, die man in den Klosterbibliotheken zubringen darf, die Unbill des Klima's, welche das Arbeiten ausserordentlich erschwert und schliesslich alle die Schwierigkeiten des materiellen Lebens und der fortwährenden Fieberanfälle! Und dann überschlage man die Opfer an Zeit, die zur Durchforschung jeder Handschrift, zum Niederschreiben der Bemerkungen, zu Abschriften oder Auszügen aus denselben nöthig ist, und man wird inne werden, dass zu tiefer gehenden Studien spottwenig Zeit übrig bleibt.« Das Resultat aller dieser Unternehmungen ist mithin meistens ein geringes gewesen; Hauptsache bleiben dabei unter allen Umständen die griechischen Manuscripte, weil man hier noch viel in Bezug auf Sprache, Geschichte, Sitten- und Culturgeschichte zu finden hofft. So sind denn auch die europäischen Regierungen und die Gelehrten nicht müde geworden, immer wieder neue Unternehmungen dahin zu richten. Als Hauptbedürfniss stellte sich bei denselben aber die Herstellung eines allgemeinen Kataloges aller griechischen Handschriften heraus, dessen Anfertigung jedoch fast als ein Ding der Unmöglichkeit angesehen wurde. Der gelehrte Prediger an der preussischen Gesandtschaft zu Constantinopel, Herr Pischon, der im Jahre 1858 mit dem Verleger Brockhaus zu diesem Zwecke den Berg Athos besuchte, äussert [9] sich folgendermassen hierüber: »Diesen Nachrichten über die Athonischen Bibliotheken muss ich noch hinzufügen, dass ich auf Veranlassung meines Reisegefährten nicht müde wurde den Vorstehern der Klöster, in welchen ich mich aufhielt, vorzustellen wie wichtig die Herstellung eines allgemeinen Kataloges der bis jetzt erhaltenen Bücher sei, insonderheit aller auf den Athos bezüglichen Handschriften. An einzelnen Orten erwiederte man mir, dass solche Kataloge bereits vorhanden wären, doch sahen wir in Watopédion, wie sehr mangelhaft diese Arbeit geleistet worden war. Im Allgemeinen können die Mönche des Athos nicht begreifen wie die Handschriften auch für solche Leute von Nutzen sein können, die ihren Berg nicht besuchen, ohne dass sie, die Besitzer, sich von ihnen trennen müssten. Seitdem nun aber die häufigeren Besuche der Fremden sie auf den hohen Werth der bisher verachteten Pergamente aufmerksam gemacht haben, sind sie in das entgegengesetzte Extrem gefallen und möchten dieselben den Augen der Franken am liebsten ganz und gar entziehen. Möchte doch das grossartige photographische Unternehmen des Herrn Ssewastianów gelingen, um wenigstens einen Theil der bisher erhaltenen Handschriften des h. Berges zum gemeinsamen wissenschaftlichen Besitz zu machen. (So nach dem Griechischen; für die Originalstelle ist citirt: Historisches Taschenbuch von Fr. v. Raumer 1860, pag. 76. »Pischon, die Mönchsrepublik des Berges Athos,« das uns nicht vorlag.) Der bekannte Herausgeber des Ptolemaios, der Franzose V. Langlois schrieb, als er das Facsimile des im Kloster Watopédion befindlichen berühmten Kodexes des grossen hellenischen Geographen herausgab, Folgendes in seinem Prologe über den Athos: »Jusqu'à présent l'inventaire des manuscrits des couvents du Mont Athos n'a jamais été fait et aucun des voyageurs qui sont allés spécialement explorer les bibliothèques de cette contrée n'a essayé de dresser le catalogue de ces dépots« (V. Langlois, le Mont Athos, Paris 1867 pag. 98). So erschien es denn als eine den Hellenen zufallende Aufgabe, einen solchen systematischen, allgemeinen und methodischen [10] Katalog aller Athonischen Handschriften herzustellen, schon weil sie eine Gegend betraf, die für den Hellenismus von grosser Bedeutung ist, und weil ferner die Hellenen die grossen Beschwerden, die mit dem Klima und der veränderten Lebensweise verbunden sind, immerhin leichter ertragen würden als die Männer aus dem Abendlande, ein Hellene auch von den Mönchen mit mehr Vertrauen aufgenommen werden würde, wenn er durch seine Schriften, seine wissenschaftliche Erfahrung und die Empfehlung seiner Regierung hinreichend empfohlen wäre; ja sogar ihre nationale Eigenliebe sie antreiben könnte, ihm bei der Ordnung, Verzeichnung und Beschreibung der tausende von Handschriften behülflich zu sein. Der hellenische Forscher würde hingegen auch die Pflicht und das Interesse haben, ausser den Werken des klassischen Alterthums auch die mittelalterliche Literatur scharf ins Auge zu fassen, um über viele dunkle Perioden Licht zu verbreiten. »Seit langen Jahren schon,« so fährt Herr Prof. Lambros in seinem Berichte fort, »hatte ich während der Zeit meiner Studien in Nord- und West-Europa der Erforschung der mittelalterlichen Handschriften meine volle Aufmerksamkeit zugewandt, so wie dem Studium unserer Geschichte und unseres Schriftwesens während derselben Epoche, und zu diesem Zwecke mehr als zwanzig Bibliotheken und Archive in Deutschland, Oesterreich, England, Frankreich, Belgien, Holland und Italien durchforscht. Hierbei ward mir die Nothwendigkeit einer sorgfältigen Untersuchung der Athonischen Bibliotheken immer klarer, sowie der Wunsch, die in denselben befindlichen hellenischen Handschriften aufs genaueste zu beschreiben und zu registrieren. Als ich daher nach meiner Heimkehr nach Athen im Jahre 1877 von der philosophischen Fakultät der Universität für würdig befunden wurde den Lehrstuhl für hellenische Geschichte und hellenische Schriftkunde als Docent einzunehmen, sah ich es für meine erste Pflicht an, meine ganze Kraft auf die Heranbildung tüchtiger Schüler zu verwenden, die mich bei dem schwierigen Unternehmen der Katalogisierung der Athonischen Klosterbibliotheken dereinst wirksam unterstützen möchten. [11] Nachdem ich sodann die Nothwendigkeit einer Erforschung der Athonischen Bibliotheken durch Hellenen in meiner Eingabe an die hellenische Kammer dargethan und selbige durch Vermittelung des hochgeehrten Patrioten und Abgeordneten von Attika, Herrn Timoleon Filimon in der vierten Sitzung der siebenten Periode zur Debatte gebracht worden war, ward mir durch Beschluss vom 5. December 1878 die Ehre zu Theil von der Kammer durch ihr moralisches Gewicht unterstützt zu werden. Die damalige Regierung that die geeigneten Schritte mir die nöthigen Empfehlungen des h. Patriarchen an die h. Synode des Berges zu verschaffen. Im Sommer des Jahres 1879 war ich nun zwar aus höheren Gründen noch genöthigt die Abreise nach dem h. Berge aufzuschieben. Mit dem Eintritt des nächsten Frühlings aber war ich im Besitze der warmen Empfehlungsbriefe des h. Patriarchen vom 18. März 1880, die mir meine Forschungen so wesentlich erleichtern sollten. Die ganze, volle Ausführung der mir nunmehr zuertheilten Mission glaubte ich nur dann zu einem glücklichen Ausgang bringen zu können, wenn mir gewährt wurde einige der von mir in meinen Vorlesungen über Schriftenkunde gehörig vorgeübten, begabten Jünglinge mitnehmen zu dürfen, desgleichen einen erfahrenen, geübten Künstler, behufs der Aufzeichnungen über die byzantinische Kunst. Glücklicherweise ging die Regierung verständnissvoll auf meine Wünsche ein und machte erst hierdurch das Gelingen des so mühevollen aber hochwichtigen nationalen Unternehmens möglich. Und so fühle ich mich denn verpflichtet dem hohen Hause Rechenschaft über das Geschehene abzulegen, weil die mir von demselben erwiesene Protektion mir nicht nur die schätzenswerthe Unterstützung der Regierung verschaffte, sondern auch die fördernde Theilnahme des h. Patriarchen, wie der h. Synode des h. Berges, ohne welche eine wissenschaftliche That nicht hätte vollbracht werden können, die ich mit Freudigkeit als eine rein hellenische bezeichnen darf. Und der Gedanke erfüllt mich mit Freude, dass Hellas, das in diesem Augenblicke [12] nicht, wie es gern möchte, Antheil nehmen kann an den wissenschaftlichen Forschungsreisen der Völker des Westens nach dem Nordpol, noch an den gefahrvollen Culturmissionen nach den äussersten Enden Afrikas — es doch vermocht hat kräftigst eine wissenschaftliche Expedition nach einer nahen und befreundeten Gegend zu fördern, mit welcher uns gemeinsame Erinnerungen und gemeinsame Hoffnungen verbinden.
II.
Bei meiner Abreise nach Hagion Oros im Beginn des Junimonats nahm ich von meinen Zuhörern mit: die Studenten der Philologie Herrn Joh. Parcharidis und Herrn Phil. D. Georgantā, die seit zwei Jahren an der Universität das Lesen und Umschreiben der Handschriften geübt und durch Lernbegier, Eifer und Arbeitslust stets in hohem Grade sich ausgezeichnet hatten, sowie den sehr ehrenwerthen Studenten der Rechte, Herrn Georgios Guwelis. Diese Herren sollten stets mit mir und unter meiner Leitung der Erforschung der Handschriften obliegen. Zum Studium der byzantinischen Kunst gewann ich den Beistand des ausgezeichneten Künstlers, Herrn Émile Gillieron, eines Schweizers, den Se. Majestät auserlesen hatte, den Kindern des königlichen Hauses Zeichnenunterricht zu ertheilen. Bei meiner Ankunft auf dem Berge stellte ich mich, wie die Sitte erheischte, der h. Synode der Klöster vor, welche in Karyä ihren ständigen Sitz hat, und unterbreitete ihr in voller Sitzung den Zweck meiner Sendung sowohl, wie die Art der beabsichtigten Ausführung derselben, indem ich ihr meine Empfehlungsschreiben überreichte, von welchen das des h. Patriarchen wohl die meiste Wirkung hatte. Ich wurde demgemäss mit den Zeichen der höchsten Antheilnahme und des nationalen Hochgefühles empfangen, welchen das beifolgende Rundschreiben der h. Synode an alle Klostervorstände des Athos Ausdruck gab: „An die zwanzig heiligen und geweihten Klöster unseres heiligen Berges Athos.“
Den Vorzeiger dieses unseres, mit dem Synodalsiegel [13] versehenen Empfehlungsschreibens, den hochgelahrten Herrn Spyridion Lambros, Doctor der Philosophie und Docent der hellenischen Geschichte und Schriftenkunde an der nationalen Universität zu Athen, der auf Beschluss der hellenischen Kammer hierher gekommen ist, um die Bibliotheken unserer geweihten Klöster einzusehen und in ihnen einige Zeit zu verweilen, um ein hochnützliches wissenschaftliches Werk zu vollbringen, empfiehlt uns Se. Heiligkeit durch ein hochverehrtes patriarchisches Sendschreiben auf's angelegenste und wohlwollendste, ebenso wie Se. Hochw. der h. Metropolit von Thessaloniki, desgleichen unser in Thessaloniki residierender Procurator, der Archimandrit Simeon und einige andere hervorragende Landsleute. Deswegen empfehlen auch wir ihn auf's wärmste unseren heiligen Klöstern und bitten brüderlichst, demselben eine entsprechende Aufnahme und wohlwollende Begegnung, desgleichen eine freundliche Verpflegung angedeihen zu lassen, wie solche seinem gelehrten Range und dem hohen nationalen Ziele seiner Sendung entspricht, die unseren heiligen District sowohl in ethischer wie in historischer und archäologischer Hinsicht ganz speciell angeht. Und wünschen wir ferner, dass ihm freier und unverwehrter Zutritt gewährt werde in alle unsere Bibliotheken, unter Gewährung jeglicher schätzbarer Beihülfe und Erleichterung zur Erreichung seines gemeinnützigen Unternehmens, sowie zum Uebergange von dem einen Kloster in das andere. Nicht zweifelnd, dass unsere heiligen Klöster aus hoher Werthschätzung und glühender Verehrung unseres Volkes diese unsere warme Empfehlung durch die Thaten ehren werden, verbleiben wir als Brüder in Christo, Alle im ständigen Ausschuss versammelten Präsidenten und Vorstände der zwanzig heiligen Klöster des h. Berges Athos.
Karyä, am 20. Juni 1880. Dieser warme Empfehlungsbrief nutzte mir nicht nur als Aufenthaltsberechtigung in den Klostergebäuden, in welchen [14] uns jede Art von Freundlichkeit und Gastfreundschaft zu Theil wurde, sondern auch als Erlaubnissschein zum längeren Aufenthalte in den Bibliotheken, behufs der Ausführung unserer Arbeiten. Ich halte es für meine Pflicht dies schon hier, wenn auch nur in Kürze, zu bezeugen, und werde später mit grösserer Ausführlichkeit auf die Einzelheiten zurückkommen.
III.
Seit langer Zeit schon unterhalten die Athonischen Klöster Bibliotheken, in welchen gedruckte Bücher sowohl wie handschriftliche Codices aufbewahrt werden, nebst Archiven, in denen die verschiedenen Schriftwerke und Diplome der Klöster liegen. Alle diejenigen nun, welche sich mit unserer mittelalterlichen Literatur und Geschichte beschäftigen, möchten doch gewiss gern von all diesen Schriften die alten auf Pergament geschriebenen Goldbullen der Kaiser kennen lernen und werden wünschen, dass über dieselben entsprechende Veröffentlichungen und Erläuterungsschriften herausgegeben würden, wie solches in Bezug auf verschiedene Goldbullen bereits geschehen ist, die sich auf die Metropolen von Monemwasia und Ioannina, auf das eingegangene alte Kloster von Lemwos, auf die Kirche von Patmos u. a. beziehen. So viele solcher Goldbullen ich nun auch auf dem h. Berge gesehen habe, keines dieser Schriftstücke der Athonischen Klöster — davon überzeugte ich mich sehr bald — hat jene grosse historische und philologische Bedeutung, die wir ihnen zumuthen. Die meisten derselben beschränken sich auf die Aufzählung von freiwilligen Besitzverleihungen, zum grössten Theile unbeweglichen, die den Klöstern durch dieselben überwiesen wurden, oder auf die Bestätigung solcher Verleihungen, die schon früher stattgefunden hatten. Alle in denselben enthaltenen topischen Details (Namen von Oertlichkeiten und Gebern) können aber nur, und sollten daher von den Mönchen der Klöster selber erklärt werden, da ja ihre Interessen und ihre Geschichte der Gegenstand derselben sind. [15] Was Russland mit der Veröffentlichung aller Schriften des Klosters des h. Panteleímon (Urschrift, russ. Uebers. und reiche Erläuterung durch Noten) geleistet hat, sollte hier als Beispiel dienen. Dazu ist aber wenig Aussicht, da es unter den Mönchen an Männern fehlt, welche die Goldbullen mit Sicherheit lesen und angemessen commentieren, ja überhaupt nur die echten von den (für oft geringe Vortheile) gefälschten, deren nicht wenige vorhanden sind, unterscheiden könnten; da ferner den fremden Besuchern der Zutritt zu den Handschriften mehr erschwert wird, als das beispielsweise im Vatican der Fall ist, als ob es sich um ganz mysteriöse Angelegenheiten handelte. Der Zutritt zu den Bibliotheken selbst war sonst stets leicht genug. Sie sind reich an Werken geistlichen, philosophischen und wissenschaftlichen Inhaltes, und besonders an Ausgaben der Klassiker, worunter viele hochschätzbare seltene Exemplare der aus der Presse eines Ald. Manutius, eines Junta und anderer alten Typographen hervorgegangenen Ausgaben. Viele dieser Bibliotheken enthalten ausserdem noch die anderwärts wenig gekannten Bücher, die in Hellas vor der Erhebung gedruckt worden sind. Alle diese Bücher aber sind ohne jegliches System gesammelt worden und liegen nun zum Theil in solcher Unordnung und Verwahrlosung bei Seite, dass der Besucher Mühe hat, sein Befremden und seinen Abscheu ob so greulicher Wirthschaft zu unterdrücken. »Und ist dies der Zustand der gedruckten Bücher«, — so fährt Herr Lambros in seinem Berichte weiter fort, — »so ist der der Handschriften ein noch viel heilloserer. Es ist ja wahr, dass „der Berg" auch schwere Zeiten der Bedrückung durchgemacht hat; aber eben so wahr ist es, dass zur Zeit des heiligen Kampfes die Türken von den in den Klöstern zurückgebliebenen Mönchen die Handschriften centnerweise für wenige Pfennige gekauft haben, dass ferner in jenen trüben Zeiten die Manuscripte statt alles anderen Materiales zum Heizen der Backöfen verwendet wurden; ist es wahr, dass die Mönche für ein Geringes die allerkostbarsten Codices an Fremde ver-[16] schleuderten. Hierbei hatte aber die Verwüstung noch lange nicht ihr Bewenden. An einzelnen Orten gebrauchte man die Pergamentblätter als Hülsen oder Umschläge um die Gefässe, welche die Conserven enthielten, an anderen flickte man mit ihnen die zerbrochenen Fensterscheiben aus, und noch an anderen mussten die alten Membranen gar als Sonnendach über den Hütten der Mönche herhalten. Und schneidet denn etwa nicht noch heute so manche ungelehrte Scheere ein kostbares Pergamentblatt in Stückchen, um aus ihnen die fischähnliche Lockspeise für die Angeln herzustellen? Wenn nun auch die gewinnsüchtigen Verkäufe der Codices an Fremde aufgehört haben, und mehr Aufmerksamkeit als sonst darauf verwendet wird, dass von den in den Bibliotheken beschäftigten Jünglingen nicht einzelne Blätter oder alte Bilder herausgeschnitten werden, seit wann aber hätte man gründlichen Bedacht darauf genommen, diese Schätze der Klöster auch zu verzeichnen? Die Mönche wissen zwar sehr genau, wie viele Maulthiere zu ihrem Kloster gehören, aber nur wenige wissen, es ist grausam es zu sagen, fast nicht einer weiss, wie viele und welche Handschriften in ihrer Bibliothek enthalten sind. Noch betrüblicher ist es, dass in manchen der unabhängigen Klöster einige der Mönche, besonders die Vorgesetzten, Handschriften bei sich zurückbehalten, als wären es ihre eigenen, die dann nach und nach verschwinden und in's Ausland wandern. Mit vollem Freimuth muss ich bekennen, dass die verhängnissvollsten Gefahren für die Bibliotheken von den Mönchen selber ausgehen, die nicht immer eine klare Vorstellung von dem haben, was eigener Besitz und was allgemeines Gut der Klöster ist. Bei solcher Lage der Dinge ist es leicht zu begreifen, dass in den meisten der Klöster niemand daran gedacht hat, Kataloge aufzustellen oder auch nur ein Finde-Register über die in ihren Bibliotheken lagernden Handschriften zu entwerfen. Der Ausnahmen hiervon sind äusserst wenige. Eine Art Katalog seiner hellenischen Handschriften besitzt das Kloster Watopédion; Anfänge eines unvollständigen und höchst unmethodischen Kata-[17] loges fanden wir vor in dem Kloster Kutlumusíu, unzureichende Finde-Register in den Klöstern des h. Panteleímon und Karakállos. Einige Anläufe zur Abfassung eines Kataloges sind, wie man uns mittheilte, in dem grossen Kloster Lawra gemacht worden. Nirgends sonst ist auch nur die geringste Vorsorge getroffen worden, die hellenischen Handschriften in Ordnung zu bringen. Indem wir uns nun anschickten, einen allgemeinen Katalog der hellenischen Handschriften des h. Berges zu verfassen, welches war zunächst der Zustand der Abtheilungen, in welchen die Bibliotheken untergebracht waren und wie unternahmen wir unser Werk? Um es kurz zu sagen, so glich unsere Aufgabe überall — mit sehr wenigen Ausnahmen — der des Herkules, der die Ställe des Augias zu reinigen hatte. Beim Eintritt in eine solche Bibliothek besichtigten wir allerdings die uns vorgezeigten Handschriften, oder was die Mönche dafür ansahen; wir hätten aber eine höchst unvollständige Arbeit unternommen, wenn wir uns darauf beschränkt hätten, nur diese Bände zu verzeichnen; denn gewöhnlich waren die uns zuerst bezeichneten nur ein kleiner Theil einer anderen, viel grösseren Anzahl; die übrigen lagerten zwischen Drucken aller Art irgendwo auf dem Boden zusammengehäuft, bisweilen entdeckten wir noch andere, den Mönchen völlig unbekannte in Kasten, Laden und Packen. Bisweilen lagen die Codices blattweis zerstreut auf dem Boden herum, eine Beute der Motten und der Mäuse. In einem der grössten Klöster waren die Handschriften in zwei von einander völlig getrennten Bibliotheken untergebracht, in deren einer über die Hälfte der Handschriften theils mit Druckwerken in voller Unordnung durcheinander lagen, theils in Haufen aufgestapelt waren. In einem anderen wiederum, das von Feuerschäden schwer heimgesucht worden war, lagen die Handschriften mit gedruckten Büchern bunt durcheinander in einem schmutzigen finsteren Orte auf der Erde. Die Säuberung derselben verursachte uns keine geringe Mühe, und in der That [18] fanden sich daselbst wichtige Pergamente vor, die wahre Juwelen der Schreibkunst sind. In einem anderen Kloster verbreitete sich beim Oeffnen einer Theke, in welcher Bücher lagen, ein so intensiver Gestank von Moder, dass alle Umstehenden von heftigem Husten ergriffen wurden. Ueberall aber, wo wir etwa die Handschriften beisammen fanden, waren doch die auf die alte Kirchenmusik bezüglichen davon getrennt, die doch in der Geschichte der Musik eine so wesentliche Rolle spielen. Indem wir nun alle Handschriften jeden Klosters zusammenbrachten, war unsere nächste Sorge ihre zweckmässige Trennung nach Inhalt und Format, soweit dies irgend möglich war. In manchen dieser Bibliotheken war kein genügender Raum zu einer solchen Trennung vorhanden, an anderen Orten zwangen uns andere Gründe zur Beibehaltung der bisherigen Ordnung. In den meisten Klöstern aber wurden die Handschriften in den Theken in folgender Weise aufgestellt: Vorangestellt wurden die Pergamente, die nach dem Formate geordnet wurden; hierauf folgten die Papier-Handschriften, die wieder nach ihrem Inhalt in kirchliche, liturgische, klassische und weltliche, auf Gesetzgebung und Musik bezughabende eingetheilt wurden, bei welcher Unterabtheilung wieder das Format als Norm festgehalten wurde. Damit diese Aufstellung eine endgültige und dem aufzustellenden Kataloge genau entsprechende sein möge, befestigte ich auf dem Rücken der Handschriften lithographirte Etiquetten, die ich aus Athen mitgebracht hatte. Auf diese wurde die Nummer geschrieben, unter welcher sie in den Katalog aufgenommen wurden damit später — wenn nicht eine unverzeihliche Unordnung in der Placirung der also umgestellten Codices stattfindet — die Auffindung jeder der in meinen Katalogen beschriebenen Handschriften eine leichte Sache sei. Der Katalog selber, dessen Bedürfniss ganz offenkundig ist, verfasste ich so genau und ausführlich, wie möglich. Wie Allen bekannt ist, die mit hellenischen Handschriften des Mittelalters sich beschäftigt haben, enthalten diese entweder von [19] Anfang bis zum Ende einen und denselben Stoff von demselben Autor als einheitliche Composition, oder sie sind Sammel-Codices (miscellanei), in welchen die Bücherschreiber allerlei Abhandlungen eines oder vieler Autoren zusammenschrieben. Die Beschreibung der Codices erster Art ist leicht genug und kann mit Wenigem erledigt werden; anders aber ist es mit den Sammel-Codices, die vom mittelalterlichen Hellenismus Κουβαράδες (etwa »Knäuel«) genannt werden. Solche Codices sind schon zum öfteren in den Katalogen über hellenische Handschriften, die in den Bibliotheken des Westens sich befinden, kurz beschrieben worden, entweder indem man die darin enthaltenen Materien in Bausch und Bogen anführte, oder indem man nur die erste oder die hauptsächlichste der geschriebenen Abhandlungen verzeichnete. Nun ist doch aber klar, dass ein solcher Katalog durchaus unbrauchbar und höchst unwissenschaftlich ist. Gänzlich ohne Werth aber würde er sein, wenn es sich um Handschriften handelt, die in schwer zugänglichen, von jedem wissenschaftlichen Centrum fern abliegenden Bibliotheken verwahrt sind. Ich hielt es deshalb für meine unabweisbare Pflicht, die Forschungen jener Männer zu erleichtern, die beabsichtigen sollten, selber an Ort und Stelle die Athonischen Bibliotheken zu studieren, indem ich meinen Katalog mit möglichster Ausführlichkeit und Genauigkeit herstellte und genau angab: das Material, aus welchem der gefertigte Codex besteht, sowie die Zeit, in welcher er geschrieben wurde, ob diese nun genau bezeichnet ist, oder nach der Form der Schrift, des Formates und der Anzahl der Blätter conjecturirt werden muss, wobei ich die Mönche für die Abzählung der Blätter zu interessieren wusste. Den bunten Stoff des Inhaltes dieser Codices verzeichneten wir so genau wie nur möglich, indem wir selbst die einfachsten Notizen berücksichtigten, die zur Ausfüllung unbeschriebener Seiten eingetragen worden waren. In dieser Weise wurde der detaillirteste Katalog hergestellt, in welchem die Handschriften der zwanzig hagioreitischen Bibliotheken wie folgt verzeichnet sind: [20]
(Im Manuscript irrthümlich 5766 addirt.)
Diejenigen, welche mit dem h. Berge aus eigenem Augenschein oder aus der Lektüre bekannt sind, werden überrascht sein, in der vorstehenden Liste die Namen zweier grosser und berühmter Klöster nicht anzutreffen, ich meine die Lawra und das Watopédion. Den Katalog der hellenischen Handschriften dieser beiden Klöster haben wir nicht angefertigt, da uns theils die auf dem Berge bereits sehr vorgerückte Jahreszeit daran behinderte, theils aber auch die gänzliche Erschöpfung unserer Kräfte und nicht zum mindestens der schmerzhafte Zustand unserer Augen. Musste ich nun auch einen geringen Theil des ganzen unternommenen Werkes unausgeführt lassen, so tröste ich mich doch mit dem Gedanken, dass ich eine Arbeit [21] unterliess, die, angesichts der anständigen Bibliotheken dieser grossen Klöster und des behaglicheren Daseins in denselben, sowie der anerkennenswerthen geistigen Bewegung leicht zu nennen ist, denn hier unterliegt der Arbeitende nicht der strengen Diät und erkauft sich seine Arbeit nicht durch so harte Entsagungen, wie sie in kleinen, auf streng gemeinschaftliches Leben basirten Klöstern unvermeidlich die Folge sind. Ich wünsche und hoffe, dass ich selber nächstens die Arbeit auch in diesen beiden Klöstern auf der von mir aufgestellten Basis möge vollenden können, wenn nicht inzwischen ein Anderer sie vollenden sollte. Mittlerweile glaube ich den Beifall derer erworben zu haben, die ich als Kenner des von mir Unternommenen ansehen darf. Alle Anderen gehen mich nichts an. Jene aber mögen in Betracht ziehen mit offenem Blicke und vorurtheilsfreiem Urtheil, welche Schwierigkeiten hier zu überwinden waren, und den ununterbrochenen Anstrengungen der vier Männer Rechnung tragen, die unter den zahlreichsten Entbehrungen und Bedrängnissen bei Tag und bei Nacht ganze Monate hindurch der gewissenhaften Vollbringung eines Werkes nachlebten, das im Laufe von ganzen Jahrhunderten selbst unter Führung fremder Regierungen nicht unternommen, viel weniger zu Ende geführt wurde. Der wohlwollenden, mitfühlenden Einsicht aller Freunde der Wissenschaft, aber auch nur dieser, sowie deren wohlwollender Mitwirkung resp, Unterstützung, unterbreite ich meinen Katalog von 5759 Athonischen Handschriften, der etwa 2500 geschriebene Quartseiten umfasst, in der Hoffnung, es werde die entsprechende Summe zu dessen Herausgabe auch einmal aufgebracht werden, damit der ganze Nutzen meiner Mühen und der thätigen Theilnahme meiner Mitarbeiter offenbar werde. Die ordnungsmässige Behandlung der Handschriften und die Eintragung derselben in einen genau gefassten Katalog war aber nicht meine einzige Aufgabe. Ich strebte auch danach, die erhaltenen Handschriften zu durchforschen und in ihnen die noch nicht benutzten Stoffe aufzufinden. Vor Allem aber war [22] ich bedacht auf die Auffindung und Klarstellung aller noch so eigenartigen Reste der klassischen Philologie, deren Vorhandensein bis jetzt der Aufmerksamkeit der Forscher entgangen sein mochte. Nicht minder war ich auf's Allerernsteste beflissen, alles das aufzufinden und festzustellen, was auf die mittelalterliche Geschichte unseres Volkes und auf die Erforschung der Sprache und Literatur desselben während des Mittelalters und der Türkenherrschaft Bezug haben konnte. Die peinlichste Untersuchung der Palimpseste oder der zweimal beschriebenen Pergamente war eine weitere Hauptaufgabe, und zwar nicht nur derjenigen Palimpseste, deren untere ältere Schrift hellenisch war, sondern auch der slawischen und iberischen Pergamente, um zu untersuchen, ob diese nicht auf abgekratzten alten hellenischen Texten aufgeschrieben waren. Unglücklicherweise sind der palimpsestischen Handschriften auf dem h. Berge nur wenige; die sorgfältigste Untersuchung derselben ergab, dass die abgekratzte alte Schrift nichts enthält, was der Rede werth wäre, da sie sämmtlich kirchlichen und zwar liturgischen Inhaltes waren. Im Kataloge ist bei jedem einzelnen der Inhalt dieser alten Schriften auf's Sorgfältigste verzeichnet worden. Was nun die klassischen Schriftsteller betrifft, so muss ich in der That gestehen, dass, wenn ich auch mit gewissen Hoffnungen nach dem h. Berge mich begab, dieselben doch nicht überschwänklich waren. Und leider rechtfertigte der Zustand der Athonischen Bibliotheken meine Ansichten nur zu sehr; denn wenn ich auch so glücklich war, unter meinen Funden Stoffe verzeichnen zu können, die mit der klassischen Philologie eng verbunden sind, wie ich das in meinem Kataloge verzeichnet habe, so kann ich mich doch nicht rühmen, unedirte Schriften berühmter Dichter und Logographen des Alterthumes aufgefunden zu haben, und somit der Welt Wunderdinge zu bescheeren, wie der verstorbene Simonides. Mit Betrübniss sah ich, dass ausser Scholien zu den alten Schriftstellern in verhältnissmässig späteren Codices, sowie ausser nur [23] wenigen Handschriften der Klassiker, die meisten Handschriften des h. Berges auf die kirchliche Zucht oder die Liturgie sich beziehen, oder nur in Bezug auf die Volksliteratur nach der Einnahme (Konstantinopels) von Werth sind. Der Grund dieses seltenen Vorkommens der Codices klassischer Schriftsteller in den Athonischen Bibliotheken liegt — ausser in den während der vergangenen Jahrhunderte häufig stattgefundenen Entwendungen solcher Handschriften — in der Art der Erziehung der Mönche des Mittelalters selber, die, im wesentlichen eine kirchliche, um die klassischen Traditionen und das grosse Vermächtniss des Alterthums sich nur wenig kümmerte. So waren denn meine Funde recht eigentlich literarische und historische; aber ausser diesen raffte ich aus der grossen, in den Handschriften reichlich mir sich darbietenden Ernte vielseitigen und wichtigen unedirten kirchlichen Stoffes mit Vorliebe solche Aehren zusammen, welche in Beziehung standen zur Literatur unseres Volkes im Mittelalter, und zwar besonders zur Geschichte. Die aus den verschiedenen hagioreitischen Handschriften von mir verzeichneten unedirten Stoffe sind zahlreich und mannigfaltig und werden nach ihrer Bekanntmachung nach vielen Richtungen hin die klassische, die kirchliche und unsere neuere Literatur bereichern, auch in vielen Stücken die mittelalterliche Geschichte unseres Volkes aufklären. Das genaue Verzeichniss aller verschiedenartigen unedirten Abhandlungen, das ich für den Druck vorbereite, indem ich es nach den Athonischen Handschriften herstelle, ist durchaus keine leichte Sache. Nichtsdestoweniger will ich schon hier einige der wichtigsten Anekdota bezeichnen, und zwar die folgenden: 1) Die unedirte Rede Gregorius des Theologen Πρός Παρθένον παραινετιχός aus einem handschriftlichen Codex auf Pergament, geschrieben um das X. Jahrhundert. 2) Verschiedene unedirte Sammlungen alter Sprüchwörter aus verschiedenen Papier- Handschriften des XIV., XV. und XVI. Jahrhunderts, später zusammengebrachter neuerer Sprüch-[24] wörter oder in neuer Weise erläuterter bereits bekannter Sprüchwörter.
3) „Συναγωγὴ περὶ ζῴων ἱστορίας χερσαίων Θαλαττίων καὶ πτηνῶν πονηθεῖσα παρὰ βασιλέως κυροῦ Κονσταντίνου τοῦ Πορφυρογεννήτου καὶ ἐκ διαφόρων βιβλίων ἐρανισθεῖσα“, auf einem baumwollenen Codex des XIII. Jahrhunderts. Die Auffindung desselben ist von äusserster Wichtigkeit, denn er gehört zu der Reihe derjenigen bedeutungsvollen Blumenlesen aus den alten, im X. Jahrhunderte noch erhalten gewesenen Schriftstellern, welche auf Befehl des hochsinnigen Kaisers Konstantin Porphyrogenet zusammengestellt wurden. Diese Sammlung, die im hagioreitischen Codex leider verstümmelt vorliegt, wurde zusammengetragen aus den zoologischen und anderen Schriften des Aristoteles, Aelianos, Agatharchides, Kallios, Ktesias, Aristophanes, Eudemos, Timotheos, Apion, Nymphodoros und anderer. 4) Eine grammatische Abhandlung, überschrieben „Σολοικοφανῆ τινα φαινόμενα κατὰ τοὺς διαλέκτους“, aus welcher wir eine Fülle von dialektischen Idiotismen lernen. 6) Dreizehn Volkslieder mit ihrer Melodie, die mit den Zeichen der byzantinischen Bezeichnungsweise geschrieben ist. Diese Lieder fanden wir auf sieben Blättern eines Kodexes aus dem XVI. Jahrhunderte, welche Vorschriften (κρατήματα) verschiedener Componisten von Kirchenmusik enthalten. Aber von diesen sieben Blättern war nur eines sichtbar, die übrigen bildeten eine Art Pappdeckel, der zur Verklebung einer Oeffnung aus der Handschrift hergestellt worden war. Es kostete nicht geringe Mühe sie durch aufmerksamstes Anfeuchten zu entleimen und von einander abzulösen. Dieser Fund ist von ganz besonderer Wichtigkeit, da man gerade jetzt auf die Erforschung der Technik der byzantinischen Musik, sowie auf [25] die Wiederbelebung unserer Volksmelodien die grösste Sorgfalt verwendet. Bekannt sind die einschlägigen Studien des Herrn Bourgault Ducoudray in Paris, sowie die unseres Landsmannes, des Prof. Joh. Tsetsis, der uns freundlichst versprochen hat die schwierige Uebertragung dieser alten Liedwerke des hellenischen Volkes in die europäische Musik aus unseren Abschriften und photographischen Abbildungen zu erleichtern. 6) Verschiedene Gedichte des im XVII. Jahrhunderte blühenden, bis jetzt aber nur dem Namen nach bekannten Gelehrten Georgios des Aetolers, besonders eine Sammlung von 143 äsopischen Fabeln desselben, in politischen (bürgerlichen im Gegensatz zu klassischen) Versen und in Reimen; höchst interessant. 7) Μανουὴλ τοῦ μεγάλου ῥήτορος τῆς ἐν Κονσταντινουπόλει ἁγιωτάτης τοῦ Θεοῦ μεγάλης ἐκκλησίας διήγησις περὶ τῆς σεβασμίας εἰκόνος τῆς δεσποίνης ἡμῶν ϑεοτόκου καὶ ἀειπαρϑένου Μαρίας τῆς ἐν Ἀσγορίῳ καὶ τῶν ὑπ’ αὐτῆς γεγονότων Θαυμάτων κατὰ διαφόρους καιρούς. — Wie bekannt, enthalten viele Leben der Heiligen und viele der Erzählungen von wunderthätigen Bildern historische Thatsachen, in so fern die Heiligen zur Zeit des Mittelalters lebten, ihr Leben mit dem des Volkes oft auf's mannigfachste verknüpft war und die Heiligenbilder als wunderthätig angesehen wurden betreffs Abwendung von Gefahren für Städte und Reich, indem sie zur Abwehr von Feinden und Befreiung von Belagerungen oder Uebergaben Beistand leisteten. Eine solche ist auch die vorliegende Erzählung, aus welcher wir viel Neues erfahren über die Beziehungen der Byzantiner zu den Bewohnern von Ost-Iberien (τὴν Ἐῴαν Ἰβηρίαν), sowie über die Geschichte von Iberien und der Perser unter Jakub-Chan. 8) „Βίος καὶ πολιτεία τοῦ ὁσίου πατρὸς ἡμῶν καὶ Θαυματουργοῦ Νίκωνος τοῦ Μετανοεῖτε τοῦ ἐξ Ἀρμενίας καὶ ἐν τῇ περιφήμῳ Λακεδαιμονίᾳ τελειωϑέντος“. Das Leben des h. Nikon, der gegen das X. Jahrhundert in Lakedämonien wirkte und kämpfte, ist eine der hervorragendsten Quellen unserer mittelalterlichen Geschichte, von welcher auch die Geschichtsschreiber des Mittel-[26] alters reichlichen Gebrauch machten, nach dem Vorbilde von Hopf (Griechische Geschichte in der Encyclopädie von Ersch und Gruber, Abth. I. Bd. I, pag. 123 ff. und besonders pag. 134 ff.) noch Hertzberg (Geschichte Griechenlands seit dem Absterben des antiken Lebens, Bd. I. pag. 282 ff. 376 ff.), Paparrigópulos (Ἱστορία ἑλλ. ἔθνους, Τόμ. Δ’ σ. 234). Allein als Quelle der wichtigen aus dem Leben des h. Nikon geschöpften Nachrichten hatte er nicht des Originales sich bedient, sondern der im Jahre 1729 von Martène und Durand herausgegebenen lateinischen Uebersetzung desselben (Veterum scriptorum amplissima collectio, Tom. VI. pag. 850 ff.), die an vielen Stellen fehlerhaft ist, namentlich in den Eigennamen. So darf ich denn getrost unter die von mir aufgefundenen unedirten Handschriften das Original dieses für die Geschichte unseres Mittelalters so hochwichtigen Lebens setzen. 9) „Ἀρσενίου ἀρχιεπισκόπου Κερκύρας ἐγκώμιον εἰς τὸν ἅγιον Θερίνον τὸν μάρτυρα“, welches Anekdoton ich nicht bloss als ein feines Werk des hervorragenden Kirchenfürsten bezeichnete, sondern vielmehr als reich an historischen Nachrichten über Korfu und Epirus. 10) „Μάρκου μοναχοῦ Σερρῶν ζήτησις περὶ βουλκολάκων πῶς καὶ διὰ τί οὐ δέχεται ἡ ἁγία τοῦ Θεοῦ ἐκκλησία ὅτι ὑπ’ αὐτῶν γίνονται τὰ Θανατικὰ καὶ ὑπολαμβάνομεν ἡμείς ὅτι ὑπ’ αὐτῶν ἐσϑιόμεϑα“ aus einer Handschrift vom XVI. Jahrhunderte; ein freisinniges und erleuchtetes Urtheil über den allgemeinen Aberglauben betreffs der Vampyre, das die höchste Beachtung verdient, besonders wenn wir die Zeit in Anrechnung bringen, in welcher es geschrieben wurde. 11) „Ἱστορία μερικὴ τῆς Ἰνδίας“ ein sehr beachtenswerthes Bruchstück aus einem geographischen Werke, das zwar einer im XVI. Jahrhunderte geschriebenen Handschrift entlehnt ist, aber ganz evident aus einem alten Codex umschrieben ist. 12) Sammlung byzantinischer metrischer Räthsel des Ἰωάννου τοῦ Εὐγενικοῦ, Ἰσαὰκ τοῦ Ἀργυροῦ, Μιχαὴλ τοῦ Ψελλοῦ, Βασιλείου τοῦ Μεγαλομύτου und anderer Byzantiner. [27] 13) Verschiedene Sammlungen von Volkssprüchwörtern mit theologischen Erläuterungen in Handschriften des XVI. und XVII. Jahrhunderts. 14) Zwei höchst interessante Aufzeichnungen über das Auffinden der Tageszeit nach dem Schatten der Sonne. Die eine derselben ist in einen Pergament-Codex des XI. Jahrhunderts eingeschrieben, in welchem sich auch die Abbildung des byzantinischen Stundenzeigers (ὡρολογίου) oder Stundenständers (ὡροποδίου) befindet, welche zwei solche erhaltene steinerne Stundenzeiger (meridiana) erläutert, deren einer im Museum der Alterthums-Gesellschaft im Warwakeion, der andere im Museum zu Theben sich befindet. Das Studium derselben wird nunmehr die Forschungen über die Uhren bei den Byzantinern ganz wesentlich erleichtern. 15) Ein Brief des Photios. 16) Verschiedene kleinere Schriften, die hauptsächlich auf die Zeiten der Eroberung von Konstantinopel durch die Türken sich beziehen; Silberbullen und Goldbullen; historische, bibliographische, geographische Aufzeichnungen; äsopische Fabeln in Prosa und Choliamben nach Art der von Babrius, Volksmärchen und Reden, Gedichte, Briefe und Schriften, die auf die Geschichte der Athonischen Klöster Bezug haben und allerlei kleinere Abhandlungen philologischen und historischen Inhaltes. Diese hagioreitischen Anekdota würden bei der Herausgabe einen Band von über fünfhundert Seiten ausmachen, der unsere Geschichte nach allen Seiten hin beleuchten und die Geschichte der Kirchenväter sowohl wie die alte und neuere Philologie ganz wesentlich bereichern wird. Ich wünschte wohl, dass eine solche Veröffentlichung recht bald stattfinden möchte.
IV.
Ausser der Erforschung der Handschriften hatte ich aber bei meinem Besuche des h. Berges noch ein anderes Ziel, nämlich das Studium der byzantinischen Kunst. Es ist be-[28] kannt, dass aus vielerlei Gründen, namentlich aber wegen des Gegensatzes der religiösen Unterschiede zwischen dem Abendlande und der orientalischen Welt, alle byzantinischen Dinge von den Franken verachtet und geschmäht wurden. Keines aber aller byzantinischen Dinge unterlag einer ungerechteren Kritik als die byzantinische Kunst. Nach den herrschenden Meinungen bedeutet byzantinische Kunst in der That nichts als das Starre, das Steife, des Lebens Beraubte, das Verfehlte in Bezug auf Linien und Farben. Diese abfällige Beurtheilung der Kunstrichter wird unglücklicherweise unterstützt durch die in den europäischen Museen vorhandenen Abtheilungen, welche der byzantinischen Graphik gewidmet sind, indem daselbst gemeiniglich nur ganz gewöhnliche Arbeiten unbegabter Griffel der in mechanischer Weise arbeitenden Hagiographen der letzten Jahrhunderte aufbewahrt werden. Aber die echte Kunst der Vorläufer eines Giotto und eines Orcagna ist noch nicht bekannt; diese musste vielmehr in den hagioreitischen Waldeinsamkeiten concepirt und durchdacht werden. Hier auch kann man noch in ihrer ungealterten Schönheit schauen die Werke des Apelles des mittelalterlichen Hellenismus, jenes Pansélinos, dessen Name und Ruf wohl Alle kennen, dessen Werke aber nur den wenigsten, dessen Zeit und Leben aber Niemand bekannt ist. Nun haben zwar von den Ausländern der Franzose Didron und der Russe Ssewastianow mit den Kunstwerken auf dem Athos sich beschäftigt. Jener aber hat eingehend nur über die Symbole der christlichen Bilderschrift berichtet, während die künstlerischen Unternehmungen des russischen Edelmannes nur auf die Herstellung einer allerdings des ernstesten Studiums würdigen Sammlung von sechstausend Photographien hinausliefen, welche jetzt dem St. Petersburger Museum zur Zierde gereichen. Nun konnte ich zwar gar nicht daran denken ernstere Studien über die byzantinische Kunst auf dem h. Berge zu unternehmen angesichts der ganz ungeheueren Kostspieligkeit solcher Arbeiten, aber ich hatte doch etwas viel Praktischeres im Sinne. Um nämlich die Wieder-[29] herstellung des Ansehens der byzantinischen Kunst zu fördern, erschien mir als das Geeignetste, wenn in einer der Kunstanstalten des westlichen Europas ein Album veröffentlicht würde, welches in Chromatolithographien und Kupferstichen, wenn auch nur wenige, doch die hervorragendsten der byzantinischen Kunstwerke des Berges enthielten. Und da es mir gelungen war in Herrn Gillieron einen ausgezeichneten Künstler zum Reise- und Studiengefährten mit mir zu nehmen, so sah ich mit Freude wie meine Wünsche in dieser Hinsicht erfüllt wurden, wenigstens die erste Hälfte derselben; denn schon haben wir höchst gelungene Kopien der hervorragendsten Wandgemälde des Pansélinos in der Kirche des Rektorates zu Karyä, theils in Farben, theils in Bleistiftzeichnung, sowie Kopien der wichtigsten Miniaturen aus den Handschriften, die ich in den Bibliotheken der Klöster auffand. Ich dachte wohl auch an eine kolorirte Wiedergabe der vielen und so mannigfach verschiedenen Initialen, welche die byzantinischen Handschriften schmücken sammt den vielen Titelverzierungen, um mit ihnen den erläuternden Text künstlerisch zu schmücken, der die Ausgabe der byzantinischen Kunstwerke begleiten soll, die herauszugeben mein grösster Wunsch ist. Zu diesem Zwecke ist noch eine ansehnliche Zahl von Kunstgegenständen und heiligen Gefässen abgebildet oder photographirt worden, damit das Ganze in reicher Mannichfaltigkeit erscheinen möge. Dem Herrn Gillieron gelang ferner die photographische Aufnahme verschiedener Seiten besonders wichtiger Handschriften, von welchen ich nur die vierzehn Seiten erwähne, auf denen die in Musik gesetzten Volkslieder stehen, von welchen oben die Rede war.«
[30] Dies sind, in kürzester Darstellung, die Resultate eines mehr als dreimonatlichen Aufenthaltes des Prof. Lambros und seiner Gefährten auf dem h. Berge, welcher der ununterbrochenen ausdauerndsten Thätigkeit gewidmet war. Es sei nun erlaubt, auf eine weitere Frucht der Studien dieses unermüdlichen Forschers aufmerksam zu machen, die gar manchem Leser hochwillkommen sein wird. Es ist dies seine: Collection de Romans Grecs en langue vulgaire et en vers, publiés pour la première fois d'après les manuscrits de Leyde et d'Oxford, par Spyridion P. Lambros, professeur d'Histoire grecque et de Paléographie a l'Université d'Athènes. Paris, Maisonneuve & Cie, 1880. (CXXV und 372 S. nebst 4 Tafeln). Den darin mitgetheilten seltenen Texten geht eine Einleitung von 125 Seiten voran, in welcher Herr L. einen umfassenden Abriss giebt von der Entwicklung der hellenischen Volkssprache und Volksdichtung, von den ältesten bekannten vereinzelten Sprüchen, Versen an, Sätzen, sowie von den darauf folgenden, durch wandernde Rhapsoden (Bänkelsänger) unaufhörlich überall hin verbreiteten, local veränderten einzelnen Liedern (wer denkt hier nicht an »drei neue schöne Lieder!«), bis zur Entstehung der Sagen- und Liederkreise, für welche in der Eroberung von Konstantinopel, der von Trapezunt u. a. ähnlichen politischen Ereignissen die Veranlassung gefunden wurde, die unterm Volke gangbaren Liebes- und Heldenlieder zu fixiren, und in mannichfachster Weise umzubilden. Diese Einleitung ist eine Fundgrube schöner, vielfach neuer Gesichtspunkte über die neuhellenische Volkspoesie; sie giebt ausserdem die Grundsätze an, nach welchen die Bearbeitung alter Texte heute stattzufinden hat, und denen der Autor selber mit der grössten Gewissenhaftigkeit nachgestrebt hat. Unter denselben nimmt eine »festgeregelte historische Orthographie, die sich möglichst an die Etymologie und die Geschichte des Wortes anschliesst«, eine Hauptstelle ein. [31] Die vier mitgetheilten mythischen Ritterromane, die eingehend analysirt und mit ähnlichen von Hahn edirten verglichen werden, sind: I. Kallímachos und Chrysorrhoe, eine Ritter-, Feen- und Drachengeschichte im grossen Style, auf Grund einer Volkssage in reimlosen, sogenannten politischen Versen (d. i. bürgerlichen im Gegensatze zu den antiken Versmaassen) in schöner Sprache wiedererzählt, die ein schwer zu bestimmendes Gemisch von demotischer und Hochsprache ist. Zeit des Ursprungs unbestimmt, doch ist dieser Roman sicher älter als Belthandros und Chrysantza, und muthmaasslich 50 Jahre vor Manuel Comnenós (XII. Jahrh.) geschrieben. Der einzige erhaltene Codex (von Leyden) ist im XVI. Jahrh. wahrscheinlich auf Cypern geschrieben. Der nächste Roman, aus dem X. Jahrhundert, II. Digenís Acrítas, schildert die Thaten eines leibhaftigen Menschen, der aber in der Sage völlig zum Heros erwachsen war.[2] Der Codex von Oxford ist eine autographe Version des Mönches Ignatios Petritzis von Chios, der dieselbe am 25. November 1670 beendigte. Dieser Codex enthält den vollständigen Text mit all seinen chiotischen Idiotismen, während die von Sathas und Legrand nach einer Handschrift von Trapezunt besorgte Ausgabe theils unvollständig ist, theils eingeschobene Parthien bringt. Der Ritterroman [32] III. Imberios und Margarona ist schon mehrmals edirt worden, zuletzt (1874) von W. Wagner mit vielen Flüchtigkeitsfehlern und 1876 von Gustav Meyer. Derselbe ist eine Nachahmung des französischen Romanes Pierre de Provence et la Belle Maguelone und hier in sorgfältigster Textfeststellung nach dem Hauptcodex von Oxford (von 1516), dem von Wien (erste Hälfte des XVI. Jahrh.) und dem von Neapel (XVI. Jahrh.) herausgegeben. IV. Die ganz neue, zum ersten Male veröffentlichte Feengeschichte, die hier unter dem Titel „λόγος παρηγορητικὸς περὶ εὐτυχίας καὶ δυστυχίας“ erscheint, weicht von allen bisher bekannt gewordenen griechischen Romanen vollkommen ab und mag etwa, der Form nach, mit John Bunyan’s »The Pilgrim's Progress« verglichen werden. Herr Lambros hat sich aber nicht begnügt, bei der kritischen Wiederherstellung dieser Texte mit aller nur denkbaren Acribie zu Werke zu gehen, d. h. die Echtheit oder Unechtheit jeder einzelnen Stelle sowie ganzer Abschnitte zu ermitteln, die Handschriften zu vergleichen, die besten Lesarten unter Aufbietung der findigsten Conjecturalkritik und der schneidigsten Hermeneutik, zu hunderten, festzustellen, — er hat auch ein Glossar geliefert, das allein als ein ganzer Schatz anzusehen ist (der hastige W. Wagner ist diesen mühevollen Theil der Arbeit zu seinen »Carmina Graeca medii aevi« bekanntlich schuldig geblieben), und schliesslich sein Werk mit vier Fac-Similes aus den benutzten Handschriften versehen, die durch ihre characteristische Verschiedenartigkeit dem Buche wahrhaft zum Schmucke dienen. Die Ausstattung ist in jeder Beziehung splendide. Der Satz musterhaft correct. So ist denn zu hoffen, dass diese grosse gewissenhafte Leistung des hellenischen Forschers in demselben Maasse wie sie ihm und seinem Volke zur Ehre gereicht, den zahlreichen Freunden solcher Studien viel Nutzen und Freude bereiten werde.
HAUPTMANN'SCHE BUCHDRUCKEREI IN BONN. 118.81
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