Zum Inhalt springen

Die Carolina 1848

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: L. S.
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Carolina 1848
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 38, S. 610
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1869
Verlag: Verlag von Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Noch 1848 gilt nahe bei Oldenburg die peinliche Gerichts-Ordnung Karls V. (1532)
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite

[610] Die Carolina 1848. Der Strafgesetzentwurf des Norddeutschen Bundes hat leider mit bewundernswerther Hartnäckigkeit auf der Beibehaltung der Todesstrafe bestanden, und zwar, „weil das Rechtsbewußtsein des Volkes die Abschaffung der Todesstrafe gegenwärtig noch nicht zulasse.“ Ohne mich indeß über dies in der Gartenlaube vom humanen Gesichtspunkt schon öfter und eingehender behandelte Thema weiter zu verbreiten, will ich nur eine wohlverbürgte Anekdote mittheilen, welche dazu beitragen kann, die Vorstellungen, welche sich Juristen bisweilen von dem Rechtsbewußtsein im Volke machen, als nicht selten irrthümliche darzulegen und zu zeigen, daß der im Volke lebende gesunde Menschenverstand den verknöcherten Rechtsanschauungen einer grausamen Justiz widerstrebt.

Im Oldenburgischen liegt eine bis vor Kurzem reichsunmittelbare Enclave, berühmt geworden durch den viele Jahre um sie geführten Erbschaftsstreit. Als Strafgesetzbuch galt dort noch in den vierziger Jahren unseres Jahrhunderts die Carolina, die peinliche Halsgerichtsordnung Kaiser Karl’s des Fünften. Diese setzt nun auf den Bruch der Urfehde als Strafe den Verlust der rechten Hand, mittelst welcher der Eid geleistet war. Ein harmloser Handwerksbursch, respective Bummler, betrat bettelnd die reichsunmittelbare Herrschaft nicht lange vor dem Jahre 1848. Er wurde dabei abgefaßt, zu einigen Tagen Gefängniß verurtheilt und ihm die Urfehdeerklärung abgefordert, sich innerhalb einer so und so langen Frist auf dem verpönten Gebiet nicht wieder betreffen zu lassen. Bruder Liederlich kam aber dessenungeachtet bald wieder, wurde abermals handfest gemacht und ihm wegen des Urfehdebruches die rechte Hand abgesprochen, welche ihm durch den Nachrichter, wie das Gesetz besagte, abgehauen werden sollte.

Der Instanzenzug jenes Diminutivländchens war folgender: die drei Richter hatten verschiedene Sitzungszimmer und tagten in jedem als eine besondere Instanz, ein Unding, welches man nicht für möglich halten sollte, wenn nicht gegenwärtig noch Augen- und Ohrenzeugen dieser classischen Rechtseinrichtung lebten. Unser armer Reisender also, dem die Wohlthat eines officiellen Rechtsbeistandes, wie üblich, zu Theil geworden, wurde in sämmtlichen Instanzen zu der erwähnten grausamen Verstümmelung durch Henkershand verurtheilt. Wie es nun jetzt auch in einzelnen Ländern, wir sagen Gottlob! geht, so war es damals in der reichsunmittelbaren Herrschaft: es war kein Henker da, und man war dort noch nicht auf den vor der Moral schwer zu rechtfertigenden Gedanken gekommen, sich, wie solches in Braunschweig z. B. behufs Vollstreckung der Todesstrafe vorgekommen ist, für Geld einen solchen von Auswärts kommen zu lassen. Der hohe Gerichtshof war demnach in Verlegenheit, wie das einmal gesprochene Urtheil zu vollstrecken sei. Nach längerer geheimer Berathung kam einer der alten Herren auf den Gedanken, dem langgedienten Gerichtspedellen und Gefängnißwärter die Sache officiell zu übertragen.

Der betreffende im Vorzimmer pflichtmäßig befindliche Kerkermeister, Muster eines Solchen an Originalität etwa nach Shakespeare’s Art, wurde vorcitirt und ihm der weise Beschluß seiner hohen Vorgesetzten mitgetheilt. Das Factotum der Executivgewalt stand ein Weilchen sinnend, blinzelte mit den grauen Augen über der feurigen Nase weg, kratzte sich hinter dem Ohr und brach endlich in die halb zweifelnd, halb warnend gesprochenen Worte aus: „Ja, mine Herren, schöll’n wi denn dat wol duhn dörben? Mi döcht, wi laaten dat sien.“ (Ja, meine Herren, sollten wir das wohl thun dürfen? Mir däucht, wir lassen das sein.) Ob dieser, wie wir dankbar anerkennen müssen, weisen Rede zog sich der Gerichtshof zu einer abermaligen Berathung zurück, deren Resultat war, der Cerberus des Gefängnisses – solle die Kerkerthür nicht so fest schließen, daß der Delinquent nothwendig darin bleiben müsse. Dieser verstand alsbald den ihm gegebenen Wink und hielt es für Schuldigkeit, den Herren Richtern keine weitern Verlegenheiten zu bereiten, indem er sich schleunigst über die nicht schwer zu erreichende Grenze entfernte.

Der Reichstag, von welchem wir wohl anzunehmen berechtigt sind, daß er das Rechtsbewußtsein des Volkes vertritt, wird hoffentlich im Sinne des humanen, reichsunmittelbaren Kerkermeisters den Rechtsanschauungen des neuen Strafgesetzentwurfes entgegen die Todesstrafe zu den übrigen längst verschwundenen grausamen Strafarten der Carolina gesellen. Oldenburg, jetzt Inhaber des Schauplatzes unserer Anekdote, ist darin mit rühmlichem Beispiel vorangegangen. L. S.