Die Flitterwochen-Insel
Die Flitterwochen-Insel.
Sie ist ein geographischer Irrthum, die herrliche, immergrüne Insel, die der Solent vom üppigen Gestade Hampshires trennt; sie gehört nicht hierher, in die ewig aufgeregten Gewässer des Aermelcanals, sondern in die blauen, ölglatten Fluthen des mittelländischen Meeres; sie scheint eine der Balearen oder Hyerischen Inseln zu sein, die sich von ihrem Ankerplatz losgerissen hat und nach wunderlicher Irrfahrt an der Südküste Englands aufgelaufen ist, so mild ist ihr Klima, so reich ihre Vegetation, so anmuthig ihr landschaftlicher Charakter.
Die Insel Wight ist der Wintergarten Albions, ein nordisches
[597][598] Stück Italien, zum speciellen Gebrauche für die bequemeren Engländer im Bereich ihres ausgestreckten Armes etablirt. Dieses Wunder eines südlichen Klimas unter dem einundfünfzigsten Breitengrade wird durch den Golfstrom bewirkt, dessen warme Wassermassen das gesegnete Eiland rings umspülen und darauf gleichsam eine beständige Treibhaustemperatur erhalten. Der Winter ist hier so mild wie in Nizza; selten breitet sich eine dünne Schneedecke über den sammetnen Rasen; selten friert in der Nacht das Wasser im Freien, und weiße Weihnachten kommen nicht in fünf Jahren einmal vor. Der Sommer ist mehr feucht als heiß und bringt selten einen Tag ohne Regenschauer, aber auch selten einen ohne Sonnenschein. Der Frühling und Herbst aber sind entzückend; in diesen Jahreszeiten entfaltet sich der ganze Zauber der Insel, und wenn man an einem September- oder Octobertage durch diese liebliche Landschaft mit ihrem malerischen Wechsel sanftgeschwungener, abgerundeter Hügel und in sattestem Grün prangender Auen dahingefahren ist, so bewahrt man von einem solchen Ausflug eine sonnige, herzerquickende Erinnerung, die noch nach Jahren mit unverblichenem Glanze in der Seele aufleuchtet, wenn man den Namen des schönen Eilandes nennen hört.
Die Insel Wight gleicht in ihrer ganzen Ausdehnung einem einzigen, überaus sorgsam gepflegten Park; zwei ungefähr gleichlaufende Hügelreihen, deren eine die Insel in der Mitte von Ost nach West durchzieht, während die andere ihre Südküste begleitet, sind die einzigen ansehnlicheren Bodenerhöhungen, welche die leichtgewellte Ebene unterbrechen; silberne, fischreiche Flüsse, deren bedeutendster, der Medina, fast bis an seine Quelle schiffbar bleibt, schlängeln sich an vielen Orten durch die Auen, die das charakteristische Bild der englischen Landschaft zeigen: weite Triften von wunderbar saftigem, emailartig glänzendem Grün, da und dort Aecker und Kleefelder, allenthalben hohe, lebendige Hecken und umhergestreute einzelne Bäume oder Baumgruppen von malerischestem Effect, äußerst selten ein größeres Dorf, doch sehr häufig stolze Herrensitze von mittelalterlicher Bauart mit gezinnten Wartthürmen, Graben und Zugbrücke, und vereinzelt Gehöfte mit dem typischen hoch- und schmalgiebeligen Wohnhaus des sächsischen Freisassen. Das unabhängige Bauernelement ist übrigens auf der Insel nur sehr spärlich vertreten; sie ist vielmehr zwischen wenige Großgrundbesitze ausgetheilt, die auf ihren alleinstehenden Burgen und Schlössern gleich mittelalterlichen Dynasten hausen, während die übrigen Inselbewohner, welche keine eigene Erbscholle zu bearbeiten haben, sich in den größeren Städten an der Küste und im Innern zusammendrängen und fast ausschließlich von den die Insel besuchenden Fremden leben.
Wight ist nämlich der beliebteste Ausflugsort Englands. Neuvermählte Paare bringen mit Vorliebe daselbst ihre Flitterwochen zu. Eine Fahrt nach dieser Insel gehört beinahe zu den Acten, ohne die eine Eheschließung gar nicht rechtsgültig vollzogen werden kann. Wie die richtige Pariserin sich nicht verheirathet glaubt, wenn sie nicht in großem Staate den traditionellen „tour du lac“, die Wagenfahrt um den Teich im Boulogner Wäldchen, gemacht hat, so fühlt sich die Engländerin erst dann ganz und voll im Ehestande, wenn sie durch die Pforte eines Aufenthalts auf der Insel Wight in denselben getreten ist. Nirgends in der Welt begegnet man daher so vielen Liebespärchen, wie hier; man hat oft das Gefühl, auf einer verzauberten Insel zu sein, die unter der Herrschaft der paphischen Venus steht und deren Bewohner mit Girren und Schnäbeln ihre seligen Tage verbringen. Ganze Städtchen sind voll von solchen glücklichen Pärchen; man sieht sie Hand in Hand durch die Straßen gehen und einander in die Augen blicken; man trifft sie im Freien auf blumigen Wiesen gelagert oder hinter einer Hecke verborgen; man stößt auf sie bei jeder Biegung der Straße, wenn man den Strand entlang lustwandelt.
Die Insel und ihre Bewohner sind aber auch für die eigenartigen Bedürfnisse ihrer erotischen Besucher ganz besonders eingerichtet. Die Besitzer der Hôtels und Boarding-Houses (Pensionen) sind discrete Leute, die sich so viel wie möglich unsichtbar machen, um nicht durch ihre störende Anwesenheit den verschämten jungen Leutchen einen unangenehmen Zwang aufzuerlegen. An allen Hecken und Strandwegen sind Hütten und Lauben verschwenderisch angebracht, welche den verliebten Spaziergängern ein willkommenes Ruheplätzchen und noch willkommeneren Schutz vor undelicaten Späheraugen bieten. Der alte Wächter von Carisbrook-Castle, wo Karl der Erste vor seiner Hinrichtung gefangen saß, lächelt nur still in seinen Graubart und wendet den Kopf nicht um, wenn er im dunkeln Burgverließ hinter sich verdächtige schmatzende Geräusche vernimmt, während er den Besuchern des Schlosses dessen hundertfünfzig Fuß tiefen Brunnen zeigt, und selbst die bejahrteren Fremden, welche auf der Insel weilen, denken trotz ihrer britischen Zimperlichkeit nicht daran, skandalisirt zu thun und zu schmählen, wenn ihnen unvermuthet der anstößige Anblick eines sich liebkosenden Paares wird, sondern sie wenden mit wohlwollendem Lächeln den Kopf von dem reizenden Schauspiel ab und denken voll Sehnsucht der schönen Zeit, wo sie selbst so zu Zweien durch die Insel zogen und mit nimmersatter Zärtlichkeit einander umarmten, so oft sie sich einen Moment lang unbeobachtet glaubten.
Für einen sehr großen Theil des englischen Publicums ist also die Insel mit einem Glorienschein umgeben; ihr Name verknüpft sich untrennbar mit den holdesten Erinnerungen, und man sucht sie immer wieder auf, um sich an den Stätten vergangenen Glückes zu verjüngen. Allein auch auf Diejenigen, denen sich hier nicht das Paradies des Liebesglücks aufgethan, übt sie durch ihre Schönheit und ihr mildes Klima eine starke Anziehung, die sich weit über den Continent erstreckt und der Insel unter Anderem auch solche Gäste zuführt, wie das deutsche kronprinzliche Paar, das wiederholt in Sandown den Herbst verbracht hat, und wie die Kaiserin von Oesterreich, die im Sommer 1874 einige Wochen lang das Schloß Steephill Castle bei Ventnor bewohnte.
Die dunkeln, geheimnißvollen „Chines“, gähnende Schlünde, die sich mitten in fruchtbarem Hügellande Hunderte von Fußen tief und manchmal eine Viertelmeile lang öffnen und in deren schwarzer Tiefe ein schäumender Wildbach dahinrast, die „Needles“, drei zu einer Reihe geordnete hohe spitze Kreidefelsen von weißer Farbe, die sich auf schwarzer Unterlage unsern der westlichen Spitze der Insel mitten aus der Brandung erheben, die „Cliffs“, gewaltige, steil abstürzende, der Quere nach weiß und schwarz gestreifte Felswände an demselben westlichen Vorlande, ziehen fortwährend Touristen an, und im Skizzenbuch einer wohlerzogenen englischen oder amerikanischen Miß dürfen diese renommirten Naturwunder der Insel Wight nicht fehlen, die eben nicht blos anmuthig, sondern auch im höchsten Grade „fashionable“ ist.
Um die ganze Küste zieht sich ein Gürtel kleiner Ortschaften, in welchen Seebäder eingerichtet sind und die fast blos aus Hôtels und Boardinghäusern bestehen; es gehört unter den Vornehmen zum guten Ton, auf der Insel eine Villa oder selbst nur eine bescheidene Cottage zu besitzen, wenn auch nur Wenige das Beispiel des „poëta laureatus“ Tennyson befolgen, der jahraus, jahrein auf seiner Besitzung Farringford unfern Freshwater menschenscheu und unzugänglich horstet und nur selten die Insel verläßt, um nach London zu gehen und im Athenaeum-Club einigen uralten mumificirten Berühmtheiten die zitterige Hand zu drücken. Der Londoner „Cockney“, das echte Londoner Kind, läßt es sich nicht nehmen, seine Sommer- und Herbstsonntage größtenteils auf der Insel zu verbringen, und die „South Western Railway“, die Südwestbahn, erleichtert diese Gelegenheit durch die fabelhaft billigen Extrazüge, welche sie von der Waterloo-Station der Hauptstadt nach Portsmouth laufen läßt, von wo ein Dampfer mehrmals täglich nach dem gegenüberliegenden Ryde überfährt.
Was übrigens diese besondere Classe von Besuchern, die Cockneys, betrifft, so besitzt die Insel für sie etwas ganz besonders Anziehendes, und das sind die Wettfahrten der Segel-Yachten, die hier in der schönen Jahreszeit stattzufinden pflegen. Jeder Engländer affectirt, sich für Alles zu interessiren, was auf Seeschifffahrt Bezug hat, und Alles zu verstehen, was in dieses Fach schlägt, und gerade die unwissendsten Landphilister spielen sich am meisten auf die wetterfeste, ausgepichte Theerjacke hinaus.
Unter den Cockneys ist es nun eine weitverbreitete Mode, über die neuere Entwickelung der Marine verächtlich die Nase zu rümpfen und mit schwärmerischem Bedauern von der Poesie des Segelns zu sprechen, die von der Prosa des Dampfers und der Schiffspanzer immer mehr verdrängt werde. Man höre nur einmal einen solchen City-Seemann über die britische Flotte von heute sprechen! Nichts gefällt ihm, nichts befriedigt ihn an ihr. Die glorreichen Zeiten Nelson's sind für immer vorüber; die Matrosen sind nicht mehr die herrlichen Eichenherzen von früher, sondern gemeine, platte Heizer und Maschinisten, und die Offiziere verstehen nicht mehr die Kunst des Segelns, den Humor der Breitseiten und die Poesie des Enterns. Und nun gar die Schiffe, [599] diese lächerlichen, plumpen ungeschickten Eisenklötze, ohne Masten, ohne Takelwerk, ohne Segel, blos mit einigen garstigen Schlöten, deren dicker Qualm den Himmel berußt! Eine einzige jener koketten, anmuthigen Fregatten der guten alten Zeit, die mit ihren himmelhohen Masten und zahllosen, gleich Schwanenfittigen ausgebreiteten Segeln einen so herzerquickenden Anblick boten, die bei gutem Winde ihre zwölf bis sechszehn Knoten in der Stunde machten, die so flink über die Fluth dahinglitten, als hätten sie eine Freude an ihrem übermüthigen Tanze – eine einzige jener stolzen Seglerinnen taugte mehr, als alle diese formlosen, grämlichen und schwerfälligen Metallklumpen zusammengenommen. Nur eine Gattung von Schiffen, fügen diese Enthusiasten der Segelschifffahrt hinzu, bewahrt noch die Traditionen der guten alten Zeit, und das sind die Segel-Yachten, welche reiche Sportliebhaber zu ihrem Vergnügen unterhalten, und um ihre Augen an dem Anblick dieser netten Fahrzeuge zu erfreuen, gehen sie so gern nach der Insel Wight, dem Hauptsitz des Segelsports in England.
Der „königliche Yachtclub“, der sein Hauptquartier in Cowes aufgeschlagen hat, zählt gegenwärtig fast 180 Mitglieder, deren jedes eine eigene Segeljacht unterhält; ein solcher Besitz ist ein Luxus, den sich nur die Reichsten gestatten können, da eine große Yacht von etwa 500 Tonnen, abgesehen von den Zinsen des Capitals, das sie repräsentirt und das man auf reichlich 250,000 Mark veranschlagen kann, jährlich auf mindestens 25 bis 30,000 Mark zu stehen kommt, ohne dem Besitzer außer dem Vergnügen einer zeitweiligen Lustfahrt oder des Sieges in einem Wettsegeln irgend einen Nutzen zu gewähren.
Allerdings ist es ein prächtiges Schauspiel, an einem sonnigen Nachmittage bei frischem Winde die eleganten Schiffe aus dem Hafen von Cowes ausfahren und die Nordküste der Insel entlang segeln zu sehen. Da sammeln sich die Besucher der verschiedenen Seebäder am Strande und beobachten, bequem im Sande gelagert oder auf mitgebrachten Klappstühlen sitzend, die Manöver der Lust-Yachten, deren niemals zwei einander in Sicht sein können, ohne alsbald ein „race“, eine Wettfahrt, zu improvisiren. Für die Seeleute und Fischer, welche jedes Schiff, seinen Eigenthümer, seine Bemannung und seine Eigenschaften kennen, hat eine solche Wettfahrt das spannendste Interesse; sie verfolgen aufgeregt mit Fernrohren die Bewegungen der Fahrzeuge, kritisiren das Aufsetzen oder Einreffen eines Segels, freuen sich, wenn eine Yacht jedem Druck des Steuers augenblicklich folgt, jubeln, wenn eine derselben ihrer Concurrentin den Wind wegfängt, und gerathen in Ekstase, wenn etwa eine Favoritin nach hartem Kampfe den Sieg über eine größere und besser getakelte Gegnerin davongetragen hat. Aber auch die Badegäste, die nicht dieses fachmännische Interesse an dem Verlaufe des Wettkampfes haben, ergötzen sich an dem Anblicke der schlanken Fahrzeuge von verschiedener Größe, die im vollen Schmucke ihrer schimmernden Segel und bunten Wimpel mit der Schnelligkeit und den anmuthigen Bewegungen von Möven über den blauen Seespiegel hingleiten, und sie werden nicht müde, stundenlang am sonnigen Strande und in der manchmal ganz empfindlich starken Seebrise auszuharren und dem maritimen Sporte zuzusehen.
So führt den Einen die Erinnerung an schöne Tage, den Andern die Passion, den Dritten das milde Klima und der landschaftliche Reiz, den Vierten der nur noch hier in solcher Ausdehnung und mit solchem Eifer betriebene Segelsport nach der Insel Wight, alle Besucher aber, die sentimentalen wie die hausbackenen, sind darüber ewig, daß Alt-England keinen lieblicheren Fleck Erde aufzuweisen hat, als dieses zauberische Eiland im Canal La Manche.