Die Freude

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Autor: Marie Bernhard
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Titel: Die Freude
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aus: Die Gartenlaube, Heft 21, S. 666–668, 670–671
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1892
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Die Freude.

Skizze von Marie Bernhard.

Wohin? Nach dem Niederthor? Ja, natürlich, dahin fahren wir! Konnten Sie denn das nicht gleich sagen? Einsteigen! Donnerwetter, machen Sie ’n bißchen rasch, wir haben keine Zeit! So! Vorwärts!“

Mit diesen unwillig hervorgestoßenen Worten gab der Pferdebahnschaffner das Zeichen zum Weiterfahren und schob den soeben Eingestiegenen mit einem derben Ruck in den langen Wagen, der an jeder Seite zwölf Sitzplätze hatte.

„Links noch ein Platz frei! Bitte, zusammenrücken, meine Herrschaften!“

Unbehilflich blieb der neue Ankömmling stehen – als die Pferde anzogen, schwankte er bedenklich. Ein sehr alter Mann mit spärlichen weißen Haaren und einem braunen zusammengeschrumpften Gesicht, aus dem ein Paar kindlich ängstlicher Augen sahen. Sein aus „selbstgewebtem“ Stoff gemachter Anzug, die dicken Kniestiefel, der plumpe Stock und zwei große Bündel aus gewürfeltem Zeug, die zu seinen Füßen lagen, verriethen auf den ersten Blick den Landmann.

„O, du Gott!“ rief er jetzt erschrocken. Der Wagen bog um eine Straßenecke, es gab einen leichten Stoß und der Mann taumelte auf einen der Sitzenden, einen dicken Herrn, der ihn unwillig abwehrte.

„Aber so setzen Sie sich doch! Nicht hier! Drüben muß noch ein Platz für Sie sein!“

Ungern rückte man „drüben" um ein weniges zusammen.

Der Fremde kam zwischen einen jungen Herrn, der die Augen geschlossen hatte, und eine Dame zu sitzen, die mit einer beleidigten Gebärde ihr elegantes Kleid an sich zog, als die stark geschmierten Kniestiefel damit in Berührung kamen.

„Entschuldigen Sie man!“ wandte sich der Bauer jetzt an den dicken Herrn, gegen welchen er angeprallt war.

Dieser antwortete nicht.

Der Alte sah mit einem verschüchterten Lächeln nach rechts und links, nahm die Schirmmütze vom Kopf und wischte sich mit einem bunt karrierten Sacktuch die kahle Stirn.

„Ist das aber ’ne Hitz’ hier!“

Die Dame drehte empört das Gesicht fort und suchte mit der Fußspitze eines der schweren Bündel weiterzuschieben, das ihr im Wege lag.

„Das belästigt Ihnen wohl, was?“ fragte der Besitzer, bückte sich und wollte die beiden Ungeheuer näher zu sich ziehen. Dabei fiel ihm die Mütze und der Stock aus der Hand.

„O je! Bin ich aber auch – – Ja, ja, so die große Stadt – ja, ja!"

Allgemeines Schweigen.

Die scheuen Augen des alten Mannes gingen hilfesuchend rundum, zuletzt blieben sie an der hellbrennenden Petroleumlampe haften. Er seufzte beklommen. In einer Ecke führten ein paar junge Leute ein halblautes Gespräch; die grelle Glocke der Pferdebahn erscholl. Eine Haltestelle. Einige stiegen aus. Die elegante Dame beeilte sich, einen leergewordenen Platz auf der anderen Seite einzunehmen. Jeder der Ein- und Aussteigenden stieß an die beiden mächtigen Bündel, die am Boden lagen und die der alte Mann umsonst unter die Sitzbank zu zwängen bemüht war.

Laute und leise Scheltreden ertönten, der Bauer wischte immer häufiger Stirn und Hände an dem groben Sacktuch ab. Zwei, drei weitere Haltestellen. „Ist das noch weit – bis Niederthor?“ fragte er endlich bescheiden

Zuerst antwortete ihm wieder niemand. Endlich kam eine Stimme aus der Ecke neben der Thür. „Noch zwei Stationen. Ich werde Ihnen sagen, wann es Zeit ist!“

„Dank’ schön, lieber Herr!“ Der Bauer sah erfreut nach der Richtung, aus welcher die Stimme kam. Sie gehörte einem gut gekleideten Herrn mittleren Alters mit einem ruhigen, freundlichen Gesicht. Er nickte dem alten Landmann wohlwollend zu. Wie ihn dessen Erscheinung anheimelte und sogar die unschön breitgezogene Sprechweise! Die kannte er genau, die hatte er in seiner Kindheit täglich und stündlich gehört . . . es war seine Heimathsprache, und er mußte sie lieben, so wenig wohllautend sie klang! Sein Vater war ebenfalls ein Bauer gewesen, ein klein wenig ähnlich dem Mann, der dort drüben saß. Solch einen häßlichen, plumpen Stock hatte er auch gehabt und, wenn er einmal einen Ausflug unternahm, auch ein solch roth und weiß gewürfeltes Bündel. Der Fremde drückte die Augen ein und athmete tief. Im Geiste saß er jetzt in dem niedrigen Bauernstübchen mit dem säuerlichen herben Geruch – die Mutter webte – wie das kleine Schiffchen flog und wie der Webstuhl klapperte! Der Vater dampfte aus einer kurzen Pfeife, die Hauskatze lag spinnend im Sonnenschein, und die große Schwester brachte das frischgebackene Brot herein. Wie köstlich dies Landbrot duftete! Solches Brot hatte er nie wieder seither zu kosten bekommen!

„Niederthor!“

„Kommen Sie, guter Freund! Hier – halten Sie sich nur an den Lederriemen; das Fahren hat Sie schwindlig gemacht! Eins von den Bündeln nehm’ ich Ihnen ab. Ach, Unsinn – schämen? So! Wo soll denn jetzt die Reise hingehen?

„In die Akazienallee!“

„Sieh, sieh, da haben wir ja denselben Weg. Das trifft sich gut, denn sonst müßten Sie viel fragen, ’s ist noch ein hübsches Stück dorthin, und bis da hinaus giebt’s noch keine Pferdebahn, weil es eine neu angelegte Straße ist!“

Der Landmann schien immer noch vom Schwindel befallen zu sein. Er stand da und sah um sich mit erstaunten großen Augen, und halb unbewußt hielt er sich an einem stolzen Kandelaber fest, der seine vielen Flammen in die stille dunkle Nachtluft leuchten ließ. Es war ein sehr belebter Platz, die Haltestelle am Niederthor. Das Leben der Großstadt kam hier wie in einen Brennpunkt zusammen; von drüben strahlte elektrisches Licht, die [667] Omnibusse und Pferdebahnwagen klingelten und rasselten, Equipagen sausten vorbei, Schutzleute zu Pferde erschienen und riefen mit harter Stimme ihre Anordnungen in die Welt hinein; die Menschen, die vorüberkamen, eilten – eilten – hatten sie denn alle so unendlich viel zu thun? Es ging ja kein einziger von ihnen, so schien es dem Landmann, sie stürzten, sie jagten alle!

Der fremde Herr stand ganz geduldig, eines der Bündel in der Hand, neben seinem Schützling und wartete.

„Sie waren wohl lange nicht hier in der Hauptstadt?“ fragte er nach einer Weile.

Wie aus einem Traume fuhr der Alte auf.

„Lange? Ach Gott, ich bin überhaupt mit meinem Fuß noch nie drin gewesen! Was ich kenn’, das sind bloß so kleine Städte, und auch in die komm’ ich fast nie!“

Ein Viererzug mit Kutscher und Diener und hellbrennenden Laternen sauste vorüber.

„Saß da der König drin oder ein Herzog?“ fragte der Bauer flüsternd – die Ehrfurcht benahm ihm fast die Sprache.

„Nichts davon! Irgend ein reicher Bankier – ein Kaufmann meine ich! Viele halten sich hier solche Wagen!“

„Was Sie sagen!“

Wieder eine kleine Stille.

„Wollen wir jetzt gehen?“ fragte endlich der Fremde.

„Ja, jawohl – bitt’ um Verzeihung! Das ist mir doch – ist mir doch alles wie ein Traum!“

Sie kreuzten, nicht ohne Hindernisse, den belebten Platz und bogen in eine breite Seitenstraße ein. Ein lauer Märzwind ging, am Himmel schimmerten matt die Sterne durch einen leichten Wolkenflor.

„Wen wollen Sie denn aufsuchen heute abend, wenn es erlaubt ist, danach zu fragen?“

„Ei freilich – ich wollt’ schon alles erzählen, bloß – mein Gered’ – mit dem feinen Deutsch geht das man so so!“

„Sprechen Sie doch wie daheim – ich bin aus Ihrer Gegend, ich werde Sie gewiß verstehen.“

Der Landmann griff mit der freien Hand an seine Mütze.

„Das nicht, nein, das geht gegen die Ehr’, und ich weiß auch, was sich schickt für ’nen kleinen Mann. Mit Geduld wird’s auch immer werden! Von unserer Gegend haben Sie gesagt – ja, da werden Sie denn auch zu wissen bekommen haben, daß wir erst seit ein paar Monaten die Eisenbahn bis zu unserer nächsten kleinen Stadt haben. Hat das lang’ gedauert – o je! Mit der Bahn, mein’ ich! Die Gutsherrschaften rund herum und der Bürgermeister und was so sonst noch die Herren von Einsicht sind . . . rein die Finger haben die sich abgeschrieben, bis daß wir die Bahn bekamen. Und das Bauen nu erst! Aber wie wir einmal soweit sind, da hält mich auch kein Mensch mehr, und: ‚Mutter,‘ sag’ ich, ‚Mutter, keiner kann wissen, wie lang’ daß er noch zu leben bekommt von unserem Herrgott – jetzt reis’ ich zum Lenchen, weil Du nicht kannst, weil Du den kranken Fuß hast!‘“

„Lenchen – das ist wohl Ihre Tochter?“ schob der Zuhörer dazwischen und dirigierte seinen Begleiter um eine Ecke.

„Einz’ge Tochter! Sozusagen einz’ges Kind, weil nämlich vier Kinder uns gestorben sind – waren auch zwei Jungens ’bei! Na, das Lenchen, das blieb aber, Magdalene eigentlich von Namen, wollte auch immer so gerufen sein, ist aber zu lang. Sehr klug und bildhübsch ist die Ihnen gewesen, nichts dabei von uns Bauersleut’, wie ’ne Advokatentochter, und darum auch mit dem kleinen Fräulein vom Gut erzogen. Bei ’ner richtigen, gelernten Gouvernante alles ausstudiert, Französisch und Natur und Geographie – alles, auch sogar Musik! Und die Freundinnen lauter Damen, – kamen aber nie zu uns! Und dann, wie’s Lenchen groß war, so achtzehn neunzehn, ja, dann schreibt uns einer, mir und der Mutter, er hätt’ sie kennengelernt und möcht’ sie heirathen, in die Stadt natürlich. Er war Buchhalter damals, aber nicht hier, nein, ganz weit weg. Ja - nu aber was thun? Wir, die Mutter und ich, kennen ihn nicht, haben ihn nie gesehen, wissen nicht, ob er was zu leben hat und sein sicheres Brot, und ob er gut von Gemüth ist ... aber das Lenchen, das wollt’ ihn, wollt’ ihn mit Gewalt! Und die Gutsherrschaften schreiben und behorchen sich über ihn und lesen uns vor. Ja, er ist soweit ordentlich, und achthundert Thaler Geld das Jahr – achthundert Thaler Geld! Also in Gottesnamen! Aber keine Hochzeit bei uns – wie sollt’s auch? Eine Stub’, zwar groß, aber man bloß eine, und ’ne Küche! Und weggereist mit Thränen, und geschrieben, zu Anfang oft – schöne Briefe, wunderschöne Briefe! Aber denn nu Kinderchens – und meine Alte hingesetzt und Wickelzeug gemacht und kleine feine Strümpf’ gestrickt! Und er, meinem Lenchen ihr Mann, aufgerückt – tüchtig, sehr tüchtig bei seinem Geschäft! Und nach sechs, sieben Jahren hierher in die große Stadt als Kassierer, Kassierer im großen feinen Bankgeschäft!“ Der Alte warf einen triumphierenden Blick auf seinen Begleiter. Während er von seinem Schwiegersohn sprach, kam ein respektvoller Ton in seine Stimme.

„Das ist Ihnen ein hoher Posten, so was kann so leicht keiner!“ fuhr er dann eifrig fort. „All das viele Geld in Händen, Tausende und Hunderttausende, und nichts für sich nehmen, nicht rühr’ an! Er hat jetzt ’n hohes Gehalt, ich weiß schon gar nicht mehr, wie hoch!“

„Da schickt Ihnen die Tochter gewiß manches Hübsche aus der großen Stadt?“ fragte der Fremde.

„Das weniger, das nu weniger – aber wie soll sie auch? Drei Kinderchen, und zwei tot – und prachtvoll begraben – die andern fein angezogen immer, und der Tochtermann kränklich, muß Wein trinken! Aber wie nu das Gered’ ging wegen der Eisenbahn, gleich hab’ ich gesagt, wenn das wird, fahr’ ich zum Lenchen, denn elf Jahr’ nicht gesehen, Herrgott, elf Jahr’! Und wir beide sind oft krank, Mutter und ich! Sie immer mit dem Fuß – ich Reißung im ganzen Körper, aber so ’ne Reißung, sag’ ich Ihnen! Kommt von nassen Wänden, sagt der Dokter, aber viel Miethe können wir nicht geben, drum bleiben wir schon in unserer Stube. Heut um drei Uhr aus dem Bett aufgestanden – gewaschen, angezogen, vier Stunden marschiert, weil’s keine Gelegenheit gab, zu fahren, und denn in die Eisenbahn und bis um halb sechs abends durchgefahren. Aber die Freud’ von meinem Lenchen, die Freud’!“

„Haben Sie ihr denn geschrieben, daß Sie kommen?“

Der Alte hüstelte verlegen.

„Seh’n Sie, wir sind von der alten Schul’, die Mutter und ich; mit unserem Geschreib’, da ist das man schlecht – eigentlich ist es gar nicht damit! Und schreibeu lassen, das wollten wir auch nicht . . . und wozu auch? Ueberraschen ist schöner – das ist Ihnen das Schönste! Na, aber bloß die Freud’ von der Lene!“

„Wann hatten Sie denn zuletzt Nachricht von ihr?“

„Ja, warten Sie ’mal – das kann ich gar nicht recht sagen – elf Jahr’ ist sie fort – und geschrieben – auf letzte Weihnachten denk’ ich, hat sie nicht geschrieben ... es kann schon ein Jahr sein, vielleicht noch ’n bißchen mehr!“

„Hm!“ Der freundliche Herr sah seinen Reisekameraden mit einem nachdenklichen Blick von der Seite an. „Was meinen Sie, wär’ es nicht besser, Sie übernachteten heute in einem Gasthaus – ich weiß ein anständiges und billiges hier in der Nähe – und suchten erst morgen Ihre Frau Tochter auf? Ich könnte ihr Botschaft schicken – –“

„Aber nein! Aber nein! Das ist ja denn gar nicht die richtige Freud’ für die Lene! Grad’, daß ich hingeh’ – und da bin ich – und denn nimmt sie mich auf, und acht Tage kann ich wegbleiben, die Mutter weiß es, daß ich mir die Stadt anseh’ – und die Kinder, die Kinder! Ich hab’ auch ’was mitgebracht für die Lene und die Kinder von daheim! In dem Pack, den Sie tragen, sind meine Sonntagskleider und die guten Stiefeln – aber im andern, in dem, den ich hab’, da ist Landbrot drin und Fladen! Mutter hat beinah’ die ganze Nacht durch gebacken, denn so ’was giebt’s nicht in großen Städten, und der Fladen ist schön aufgegangen! Ich sollt’ auch unterwegs essen davon, aber glauben Sie denn, ich hätt’ können einen Happen ’runterbringen? Soviel zu sehen und denn immer die Gedanken an die Freud’ von meiner Lene! Haben Sie auch Kinder?“

„Nein!“

„Ach Gott, schad’! Dann können Sie sich auch meine Freud’ nicht vorstellen! Haben wir noch weit?“

„Nicht mehr weit! Die nächste Straße schon! Welche Hausnummer ist es denn?“

„Nummer fünfundachtzig!“

„Schön! Ich bringe Sie bis dorthin – ich selbst habe etwas in Nummer achtzig zu thun, das Haus liegt dem Ihrigen schräg gegenüber!“

[668] „Aber ist das ’mal geschickt! Sie hat mir der liebe Gott auf den Weg gegeben, wie wollte ich das sonst gefunden haben! Und auf ’nen Wagen reicht mein Geld nicht; und fragen – sie haben hier alle soviel zu thun, da steht einem keiner Red’ und Antwort! Bei Ihnen ist das auch bloß, weil Sie von zuhaus’ sind!“

Der Gepriesene lächelte ein wenig und machte zugleich vor einem stattlichen Hause Halt, dessen erste Fensterreihe hell erleuchtet war.

„Der Name Ihrer Frau Tochter?“ fragte er.

„Willdorf heißt der Herr Sohn!“

Der Fremde horchte bei Nennung des Namens betroffen auf und sah den Alten unschlüssig an – endlich sagte er: „Hier ist es – eine Treppe hoch!“

Der Alte trat bis in die Mitte der Straße zurück und besah sich kopfschüttelnd das Haus.

„So groß und so fein! Bei uns kann ich mit der Hand aufs Dach greifen! Ja, so die Stadt! Adieu, und ich dank’ auch vielmal!“

„Und Ihr Bündel?“

„O Gott – der Sonntagsrock und die guten Stiefel! Das macht, weil mir das Herz so klopft! Nein, bloß die Freud’, die Freud’ von meinem Kind!“

Der Fremde drückte auf die Glocke, die hohe Hausthür sprang auf. „Nun also, Gott befohlen, Landsmann! Und – – und“ – er schien noch etwas hinzufügen zu wollen, unterdrückte es aber.

Der Alte antwortete nicht. Er stand schon in dem geräumigen, schön erleuchteten Treppenflur, staunte die Figuren in den Nischen an, die Treppenläufer, die auf jeder Stufe von einem blanken Messingstab festgehalten wurden, das zierliche Geländer, die großen Topfpflanzen auf den Treppenabsätzen. Langsam stieg er empor. Eine große Milchglasscheibe, die fast die ganze Breite der Thür einnahm, daneben ein Porzellanknopf und ein Schild. „A. Willdorf“. Wie verzaubert starrte der Bauer darauf hin. Mit dem Lesen ging es etwas besser als mit dem Schreiben – er buchstabierte sich das Wort zusammen. Zaghaft drückte er endlich auf den Knopf – ein heller, schriller Laut wurde hörbar. Hinter der großen Glasscheibe bewegten sich ein paar Schatten lebhaft hin und her. „Das wird der Konditorgehilfe mit den Torten sein, Karoline!“ hörte der Alte eine wohlklingende Stimme sagen, die ihm alles Blut im Herzen stocken ließ. „Schicken Sie ihn ja nicht eher fort, als bis ich die Torten gesehen habe! Vielleicht ist es auch der Gärtner mit den Cotillonsträußchen, der einmal wieder zu früh kommt – ich habe ihn erst auf Zehn bestellt! Haben Sie die Fruchtschalen herausgenommen, Frau Wegner? Lassen Sie nur, ich komme schon!“

Bei den letzten Worten wurde die Thür geöffnet, ein Dienstmädchen mit einer schneeweißen Schürze und hochgerötheten Wangen erschien und prallte beim Anblick des weißhaarigen alten Mannes erschrocken zurück. „Gott, ich dachte, der Konditor – zu wem wollen Sie denn?“

„Ich – ich – meine – Frau Willdorf –“ stammelte der alte Mann mühsam.

„Sie sind wohl fehlgegangen! Und dann – die gnädige Frau ist gar nicht zu sprechen, sie ist nicht zu Hause!“

„Was ist denn, Karoline? Eine Bettelei? Wie oft hab’ ich Ihnen schon gesagt, Sie sollen sich auf keine Verhandlungen einlassen! Thür zu, und fertig!“

„Lenchen!“ rief der Bauer, ließ Stock und Bündel fallen und breitete weit die Arme aus.

„Ist das – das ist doch nicht –“

Die Dame, die jetzt in der offenen Thür sichtbar wurde, war schon in voller Gesellschaftstoilette, sie trug ein hellröthliches Seidenkleid, das vortrefflich zu ihren braunen krausen Haaren und ihrem feinen Gesicht paßte, und blasse Theerosen auf der Brust; die Schleppe des Kleides hatte sie einstweilen hoch aufgesteckt, um beim Gehen und Hantieren nicht gehindert zu sein. Alles in allem eine auffallend hübsche stolzgewachsene junge Frau, der man in keiner Miene, keiner Bewegung die Verwandtschaft mit dem unbeholfenen alten Mann ansah.

Jetzt starrten ihre großen hellen Augen erschrocken, beinahe entsetzt, in das Gesicht des unerwarteten Gastes; sie traf auch keinerlei Anstalt, in die ihr entgegengebreiteten Arme zu eilen. Einen raschen, forschenden Seitenblick warf sie auf das Mädchen und die Kochfrau, die beide unthätig, mit neugierigen Gesichtern, dastanden, dann murmelte sie halblaut: „Nicht hier! Jetzt nicht! Hier herein!“ Sie öffnete eine Thür zur Rechten und winkte mit einer ungeduldigen Gebärde dem Alten, ihr zu folgen. Er war gänzlich benommen, stolperte über seine Bündel, während er sie aufheben wollte, und stotterte unzusammenhängende Worte heraus. Die junge Frau ergriff zuletzt selbst eines der Bündel und schritt damit voraus in das Zimmer, dessen Thür sie geöffnet hatte.

Dieses war ein großes, schönes Gemach, glänzend erleuchtet, mit geschnitzten Möbeln undd einem prachtvollen Büffett aus Eichenholz. Eine mit blendend weißem Damast gedeckte Tafel in Hufeisenform wies einen Ueberfluß an spiegelndem Silber und Krystall, an Blumen und Weinflaschen auf. Frau Willdorf zog den Alten hastig an der Hand weiter.

„Wir haben Besuch heute abend, Gesellschaft – Du siehst – dreißig Couverts – es ist – ich habe alle Hände voll zu thun, weiß nicht, wo mir der Kopf steht – der Bankdirektor, die Herren vom Komite, der Aufsichtsrath! Tritt leise auf, dort ist Arthurs Zimmer, er darf nicht wissen, daß Du da bist!“

Sie waren in einen zweiten Raum gelangt, in den Salon, der ebenfalls hell erleuchtet und noch eleganter ausgestattet war; eine Nebenthür führte in das Zimmer des Hausherrn.

Leise, langsam schlich der alte Mann in seinen plumpen knarrenden Stiefeln über das spiegelnde Parkett, überallhin furchtsame Blicke werfend. Jetzt ein kleineres Gemach, mit weichen dunkeln Teppichen und Vorhängen, dann ein schmaler Gang und wieder eine Thür, hinter der lautes helles Lachen und Schwatzen erklang.

Die junge Frau athmete hoch auf, als sei sie hier vor irgend einem Feinde in Sicherheit. „Die Kinder!“ sagte sie halblaut. „Sie sollten schon zu Bett sein, allein ich kann mich nicht um sie bekümmern. Sie haben sollst ein anderes Zimmer, ich mußte das aber zur Damengarderobe nehmen!“

In dem kleinen Stübchen brannte eine Hängelampe, drei Kinderbetten standen an den Wänden. Ein etwa sechsjähriger Junge, halb entkleidet, hatte eine Schachtel Zinnsoldaten auf dem Tisch umgestürzt und begann, sie in Reih und Glied aufzustellen. Ein sehr hübsches zehnjähriges Mädchen in einem weißen gestickten Kleide, mit langen Locken, stand vor einem Querspiegel und zupfte emsig an seiner blauseidenen Schärpe. Beide Kinder ließen im höchsten Erstaunen die Hände sinken als sie die Mama in dieser sonderbaren Begleitung eintreten sahen.

„Nun – – so kommt her, gebt eine Hand – sagt guten Abend – das ist Euer Großpapa!“

Der Knabe sah betroffen auf, das Mädchen warf den Kopf zurück und rührte sich nicht.

„Habt Ihr nicht verstanden?“ fragte die Mutter mit verschärfter Betonung. „Herkommen sollt Ihr und eine Hand geben!“

Sie näherten sich nun beide, jedoch langsam und zögernd. Das Mädchen rührte kaum mit den zarten Fingerspitzen an die grobe rauhe Hand des Alten, der Junge reichte seine Rechte hin, rieb sie dann aber sofort sorgfältig an seinem Höschen ab.

„Wie – wie geht es Dir denn – Vater?“ Die junge Frau streifte flüchtig mit ihren Lippen die runzlige Wange des Alten. „Das ist ja schön, daß Du uns einmal besuchst – es ist nur, – heute paßt es gar zu schlecht – ein unglückseliges Zusammentreffen. Bist Du immer gesund gewesen? Und die Mutter auch?“

Der alte Mann blieb einstweilen stumm. Immer von neuem gingen seine hellen, kindlichen Augen in ungläubigem Erstaunen über die Dame im eleganten Seidenkleide hin. Das, das sollte sein Lenchen sein, das früher so zahllose Male auf seinen Knien eingeschlafen war, das in dem niederen Bauernhäuschen so lustig gespielt hatte, für das er jeden Abend betete? Und das waren ihre Kinder, die feinen zarten Püppchen mit dem gekräuselten Haar und den gestickten Kleidern – das sollten seine Enkel sein?

„Ihr seid immer gesund gewesen?“ wiederholte Frau Willdorf.

„Dank der Nachfrag’ – ja – nein – die Mutter liegt wohl fast immer – und ich – ich hab’ meine Reißungen – die Wohnung ist so naß –“

„Ja,“ unterbrach sie ihn hastig, „ja, ich weiß! Ihr werdet Euch gewundert haben, daß wir Euch nichts schicken, aber, [670] wirklich – wir haben es recht knapp. Arthurs Gehalt reicht immer nicht – und unsere vielen Verpflichtungen – wir können uns wenig erlauben, wir müssen uns so manches versagen.“

Er erwiderte nichts. Sein Blick ging nur immer zwischen ihr und den Kindern hin und her.

Die Thür wurde vorsichtig geöffnet.

„Gnädige Frau, der Konditor!“

„Ich komme! Entschuldige, Vater! Ich werde hoffentlich noch einmal wiederkommen können. Elli, Woldemar – seid recht artig mit Großpapa!“ Damit war sie rasch zur Thür hinaus.

Eine lange Stille. Der kleine Junge stand breitspurig, die Hände auf dem Rücken verschränkt, vor dem Alten und starrte ihm unverwandt ins Gesicht. Das Mädchen, das schon bessere Lebensart hatte, warf nur zuweilen unter den langen Wimpern hervor einen scheuen Seitenblick auf ihn.

„Das ist doch nicht wahr, daß Du unser Großpapa bist!“ unterbrach endlich der Knabe das Schweigen. „Papa sagt immer, unsere Großeltern, die sind tot!“

„Sei doch nicht dumm, Woldemar!“ belehrte die Schwester. „Das sind ja Papas Eltern, und der Großpapa war Justizrath! Aber dies ist Mamas Vater, und von dem weiß ich schon lange“ – sie zog den Bruder an sich und flüsterte ihm, freilich hörbar genug, ins Ohr – „daß er bloß ein Bauer ist!“

In dem Gesicht des Alten zuckte es. Er rechnete nicht damit, daß Kinder einen kleinen Gesichtskreis haben und in ihrer Neugier und Unbefangenheit oft grausam sind. Das waren Lenchens Kinder, die er mit Entzücken an sein Herz hatte drücken wollen!

Er war müde zum Umsinken, und seine Tochter hatte nicht einmal daran gedacht, ihn nur zu fragen, ob er sich nicht ausruhen wolle, ihm nur einen Stuhl anzubieten! Er war auch seit langen, langen Stunden ganz nüchtern! Und hier im Hause hielten sie ein Gastmahl – ob es ihnen wohl einfallen würde, dem alten Vater ein Glas Wein zu geben?

Ihm ging das nur ganz flüchtig durch den Sinn, wie traumhaft .. er war zu wirr, um einen Gedanken festhalten zu können.

„Du bleibst doch aber nicht hier?“ fragte der Junge weiter. Die Schwester stieß ihn von der Seite an und machte ein unwilliges Gesicht; wie konnte man nur so dumm fragen!

„Ich – ich – weiß nicht, nein – ich kann wieder gehen!“ stotterte der Gefragte.

Das Mädchen suchte den Bruder an der Hand fortzuziehen, allein er widerstrebte. Der seltsame Besuch interessierte ihn doch! „Was ist da drin?“ fragte er nach einer Pause und stieß mit dem Fuß an eines der Bündel. „Hast Du uns etwas mitgebracht?“

Der alte Mann bückte sich wortlos, löste die derben Knoten und ließ das große Schwarzbrot, von dem ein tüchtiges Stück abgeschnitten daneben lag, sowie den braunglänzenden, drei Finger dicken „Fladen“ sehen.

„Ach!“ machten beide Kinder enttäuscht.

Der Großvater hielt ihnen ein Stück von dem Kuchen hin.

„Das essen wir nicht!“ sagte das Mädchen hochmüthig, und Woldemar fügte hinzu: „Wir bekommen morgen von allem Schönen, was es heute giebt, Torte, auch Fasan, und Nachtisch – Bonbons, Chokolade und alles!“

Die Lippen des Alten fingen an zu zittern. Mit bebenden Händen nahm er das Backwerk, das seine kranke Frau in der Nacht für die Tochter und die Enkelkinder bereitet hatte, und legte es in das Bündel zurück.

„Ja, und ich darf für eine halbe Stunde in den Salon kommen und ‚Guten Abend‘ sagen, bis die Gäste alle versammelt sind!“ betonte das Mädchen und zupfte von neuem an seiner Schärpe. „Woldemar darf das noch nicht und Nora erst recht nicht – die ist noch viel zu klein! Die schläft schon!“

Erst jetzt gewahrte der Bauer, daß in einem der Bettchen ein Kind lag – ein kleines Geschöpf von kaum zwei Jahren, den blonden Kopf tief in die Kissen gewühlt, die dicken geballten Händchen gegen die Brust gedrückt. Der Alte ging auf den Zehen näher und neigte sich tief über das unschuldige, schlafende Gesichtchen. Er konnte es nicht hindern – eine helle Thräne fiel auf das weiße Kissen. Und das Kind, als fühlte es seinen Blick, schlug langsam die Augen auf, große lichtblaue Augen, die ohne jedes Erstaunen und ohne Furcht in das faltige Antlitz sahen. Dann verklärte ein freundlicher Schimmer das kleine schlummermüde Gesicht, die geballten Händchen lösten sich, winzige sammetweiche Fingerchen hoben sich empor und betasteten die welken Wangen des alten Mannes, und ein sonniges Lächeln lag um Augen und Lippen. So, genau so, hatte das Lenchen geblickt und gelächelt und den Vater gestreichelt, als es noch klein war.

„Du Kind, Du Engel, Du!“ sagte er mit gebrochener Stimme und küßte die zarten Händchen. „Mein Lenchen!“

„Sie heißt aber nicht Lenchen, sie heißt Nora!“ belehrte wiederum das Mädchen. „Wenn sie jetzt nur nicht weint!“

Nein, sie weinte nicht. Und nun that sich auch die Thür auf, und Frau Magdalene Willdorf kam wieder ins Zimmer. Sie hatte die Schleppe losgemacht und das schwere Seidenkleid rauschte und raschelte majestätisch hinter ihr her.

„Der Konditor war da – auch der Wein – der Gärtner mit den Sträußen!“ rief sie aufgeregt. „Und ich muß mich um alles selbst bekümmern! Die ersten Gäste müssen jeden Augenblick kommen – mir war eben, als hörte ich schon einen Wagen vorfahren! Gottlob“ – sie seufzte tief auf – „Arthur wenigstens hat nichts gemerkt!“

Ihr Vater sah sie fragend an.

„Siehst Du,“ fuhr sie hastig, die Stimme dämpfend, fort, „es ist ja schlimm, aber ich muß es doch sagen – Arthur ist zu sonderbar, und darin eben, in dem einen Punkt, unerbittlich streng. Er hat es mir zur Bedingung gemacht – geht einmal dort ans Fenster, Kinder, Ihr braucht nicht jedes Wort zu hbren – ja, also er hat es mir zur Bedingung gemacht, daß ihm niemand von meinen Angehörigen vor Augen kommt!“

„Ich will das gar nicht!“ Der Alte hob den Kopf. „Ich hab’ nichts zu bitten von meinem Herrn Sohn!“

„Still, still, Vater! Die Kinder! Natürlich nicht – gewiß willst Du um nichts bitten, aber – ich konnte ja nicht ahnen, daß Du so plötzlich hierherkommen würdest, sonst – sonst hätte ich Dir geschrieben –“ Sie vollendete nicht.

„Wo wohnst Du hier?“ fing sie dann wieder an. „Ich meine, wo bist Du abgestiegen? Ist es ein anständiger Gasthof hier in der Nähe? Kann man Dich da einmal besuchen? Du wirst Dir natürlich gründlich die große Stadt ansehen wollen –“

„Ich – ich hatte noch kein –“ begann der Alte stotternd, dann mit einem Male ermannte er sich. „Ich geh’, Magdalene!“ sagte er, und in seine schwankende Stimme war ein fremder, harter Ton gekommen. „Ich bin Dir zuviel hier, das seh’ ich ja! Ich hab’ mir das anders gedacht, aber ich bin vom Dorf, solch’ ein einfältiger alter Bauer – wie kann der wissen, wie’s in der großen Stadt zugeht!“

Er bückte sich und raffte die beiden Bündel vom Boden auf.

Seine Tochter war dunkelroth geworden. Augenscheinlich kämpfte sie mit sich. „Aber Du kommst wieder, Vater, nicht wahr, Du kommst wieder? Vielleicht morgen gegen zwölf Uhr, obgleich ich dann alles aufzuräumen habe! Allein um die Zeit ist gerade mein Mann –“

„Nein!“ unterbrach er sie herb. „Ich komm’ nicht wieder, nicht morgen, nicht übermorgen! Ich gehör’ hier nicht her!“

Sie wollte einlenken, ihn beschwichtigen, vielleicht schwebte ihr ein erstes herzliches Wort auf der Lippe ... da öffnete sich die Thür von neuem.

„Gnädige Frau – Herr und Frau Bankdirektor sind da, und unser Herr fragt, wo gnädige Frau bleiben!“

„Sofort, ich bin sofort da! Arthurs Vorgesetzter! Adieu, Vater, bleib’ gesund, grüß’ die Mutter! Vielleicht, wenn Du ein andermal kommst und ich weiß es vorher –“

Wieder streifte ihr Mund sein Gesicht. Er erwiderte kein Wort, seine Augen hingen mit einem eigenthümlichen Ausdruck an ihren aufgeregten Mienen – es war ein Blick, welcher der eleganten Dame das Blut ungestüm in die Wangen trieb.

„Mama, ich geh’ mit Dir!“ rief Elli und hing sich der Mutter an den Arm.

„Führe Großpapa hinaus, Woldemar, über die Hintertreppe, hörst Du? Ihr geht durch Karolinens Zimmer! Zieh’ Dir rasch die Bluse an –“ Die letzten Worte rief Frau Willdorf schon von der Schwelle, den Kopf halb über die Schulter zurückgewendet, ihr Töchterchen an der Hand.

[671] „Sei recht vergnügt heut’ abend!“ sagte der Alte und nickte still vor sich hin, als sei er sich des Doppelsinns seiner Worte recht wohl bewußt.

Im Rahmen der Thür drehte sie sich noch einmal um; das Licht der Hängelampe fiel hell auf die gebeugte Greisengestalt, auf das spärliche weiße Haar – sie hat die Erscheinung später oft, oft im Wachen und im Traum so vor sich gesehen!

„Vielleicht bist Du müde und ruhst hier noch aus!“ warf sie zaghaft hin, doch er schüttelte nur stumm den Kopf. Dann fiel die Thür hinter ihr ins Schloß, und sie war gegangen.


Der freundliche Herr, der sich unterwegs des alten Bauern angenommen hatte, trat aus dem Hause Nummer achtzig und sah nachdenklich zum Himmel auf, während er seinen Handschuh zuknöpfte. Die Sterne schimmertem nicht mehr, eine gleichmäßige Wolkenschicht überzog den Himmel, dann und wann fiel ein vereinzelter Regentropfen herab, und der Wind ging mit einem schwachen Klageton. Der Herr stand zögernd und überlegte, ob er zurückgehen und sich einen Schirm ausbitten sollte.

Da sah er quer über den Straßendamm eine gebückte Gestalt daherkommen, die ihm sofort bekannt erschien. War das nicht – wahrhaftig, ja, das war der Alte, mit dem er vor kaum einer halben Stunde hier in der Akazienallee angekommen war! Ohne zu zaudern, ging er ihm rasch entgegen.

„Nun, guter Freund, da sind wir ja wieder! Und so schnell? Haben Sie die Frau Tochter nicht daheim gefunden? Aber oben in ihrer Wohnung sind doch alle Fenster hell!“

Der alte Mann antwortete eine ganze Weile kein Wort, sondern ging nur still neben dem Fremden her.

„Lieber Herr,“ sagte er zuletzt, und die Stimme wollte ihm nicht so ganz gehorchen, „Sie sind so sehr gut zu mir gewesen, und ich bin ganz glücklich, daß Sie wieder da sind – der liebe Gott hat Sie geschickt, und dafür dank’ ich ihm! Nun hätt’ ich noch was zu bitten, es ist aber sehr was Großes, und so gut wie Sie auch sind – ich weiß doch nicht, ob Sie mir das auch noch thun werden!“

„Nur zu! Wenn ich irgend kann, thu’ ich es gewiß, und thu’ es auch gern!“

„Dank’ vielmal! Es ist schon spät, und Sie haben vielleicht zu thun – aber wenn Sie mich möchten zum Bahnhof bringen, zu demjenigen mein’ ich, der für unsere Gegend ist, und sagten mir, wann der nächste Zug nach Haus’ geht –“

„Wie?“ rief der andere im äußersten Erstaunen. „Sie haben eine solche Reise hinter sich, und es war Ihr Vorhaben acht Tage hier zu bleiben – und nun wollen Sie heute mit dem Nachtzug schon wieder fort? Das halten Sie ja gar nicht aus!“

„Ach ja, lieber Herr, das halt’ ich Ihnen schon aus! Ich hab’ mehr durchgemacht wie das, und was der Körper vom Menschen auszuhalten hat, das ist oft nicht sein Schlimmstes!“

„Ja – aber Ihre Frau Tochter – weiß die es denn auch, daß Sie gleich wieder gehen wollen, und was sagt sie dazu?“

Es kam keine Entgegnung. Der Alte wiegte nur langsam den Kopf hin und her und athmete tief und mühsam, beinahe klang es wie ein unterdrücktes Schluchzen. Endlich fragte er kleinlaut: „Wollen Sie mir die große Gefälligkeit anthun?“

„Aber natürlich, von Herzen gern. Nein, nein, keinen Dank – ich habe Zeit genug dazu. Kommt da nicht eine Droschke? Kutscher, he! Zum Ostbahnhof, und rasch! Ich glaube, der Zug, den Sie brauchen, geht in einer guten halben Stunde!“

Er half dem alten Mann die Bündel ia den Wagen legen, bezahlte den Kutscher schon jetzt und stieg nach seinem Schützling ein. Er fragte nicht weiter, er ahnte ungefähr den Zusammenhang der Dinge.

Schweigend fuhren sie dahin. Die Pferdehufe klapperten taktmäßig auf dem Asphalt; zu dem offenen Wagenfenster schlug eine feuchte dunstige Luft herein. – Jetzt verstärkte sich der Lärm, und in einiger Entfernung tauchten die Lichtermassen des Bahnhofsgebäudes vor ihnen auf.

Ein Stoßen, Drängen und Treiben im Wartesaal, an den Schaltern – ein Durcheinanderrennen, Rufen und Fragen. Mitten drin der alte Mann mit verwirrter eingeschüchterter Miene, mit feuchten gerötheten Augen. Er hatte geweint – es war kein Zweifel!

Sein freundlicher Beschützer hatte ihm bald einen möglichst guten Platz in einem Wagen dritter Klasse verschafft, drückte ihm die Hand und nahm freundlich seine unbeholfenen Dankesworte entgegen. Wie er in das gute alte Gesicht sah, sagte er leise und herzlich: „Mein guter Freund, es thut mir leid um Sie – aber wer kann wissen, wozu es gedient hat, daß Sie hier die große Freude, die Sie erhofften, nicht gefunden haben!“

Da zuckte es um Augen und Lippen des alten Mannes, und leise wiederholte er. „Meine Freud’, meine große Freud’!“

Dröhnend fällt Thür um Thür ins Schloß, langsam setzt sich der Zug in Bewegung.

Der Fremde sieht ihm nach, bis die rothen Lichter in der Ferne verschwinden, dann macht er sich auf den Heimweg. Er ist tief in Gedanken. Sie sind mit dem alten Mann beschäftigt, aber auch mit der seltsamen Fügung, die ihm diese Begegnung gerade jetzt, gerade heute vermittelt hat. Ist das nun blinder Zufall, ist es ein höherer Fingerzeig? In seiner weichen mitleidsvollen Stimmung ist er sehr, sehr geneigt, das letztere zu glauben. Während seiner langjährigen Juristenlaufbahn hat er häufig genug Gelegenheit gehabt, das wunderbare Ineinandergreifen menschlicher Geschicke, das Walten einer höheren Macht, die Unlösbares entwirrte, Dunkles erhellte, zu beobachten. So auch heute. Willdorf, Kassier Willdorf – den Namen kannte er ja, die „Sache“ war ihm übergeben worden, der „Fall“ war reif! Wie nun – wenn die Tochter sich ihrer kindlichen Pflichten erinnert, wenn sie den alten Vater gastlich aufgenommen, ihn für einige Tage in ihrem Hause beherbergt hätte? Viel, viel vernichtender noch als die Herzlosigkeit seines Kindes hätte den harmlosen Alten die Erkenntniß getroffen, daß der Schwiegersohn, auf dessen Geschicklichkeit und unantastbare Ehrlichkeit er so unsäglich stolz war, ein gemeiner Dieb und Betrüger, daß sein „Lenchen“ dabei die Mitwisserin, wahrscheinlich sogar die Helfershelferin war, daß aller Glanz und Reichthum, der ihn so verblüfft und geblendet, unrechtes Gut und die Anklage gegen den samt dem Vorstand der Bank des Unterschleifs verdächtigen Kassier Willdorf bereits aufgesetzt war! So aber – in sein abgelegenes Dorf verirrte sich kaum eine Zeitung, und wenn es geschah – das Lesen war seine Sache nicht, er würde wohl kein Wort erfahren. Die Tochter hatte lange Zeit nicht geschrieben, sie würde weiter schweigen, und nach ihrem heutigen Benehmen gegen den Vater würde dieser sicher keine Nachricht von ihr erwarten.

Staatsanwalt Martin, so hieß der freundliche Beschützer des alten Mannes, hatte während all dieser Betrachtungen sein Haus erreicht und öffnete die Thür mit einem Drücker. In seinem Arbeitszimmer brannte Licht, Schlafrock und Pantoffeln waren bereit, auf einem Seitentischchen brodelte Waser im Theekessel über einer bläulichen Flamme. Wein und kalte Küche war daneben aufgetragen.

Der Staatsanwalt machte sich’s behaglich, aber er that es mit einem Seufzer. Der alte Mann, der jetzt traurig und enttäuscht durch Nacht und Nebel nach seinem heimathlichen Dorf zurückfuhr, wollte ihm nicht aus dem Sinn. Das Essen mundete ihm nicht, der Wein war ihm herb auf der Zunge. Er fand wieder einmal, daß er für einen Juristen um fünfzig Prozent zuviel Gemüthsmensch sei. Endlich zog er am Glockenzug. Ein hagerer grauhaariger Mann, sein „Faktotum“, erschien.

„Die Akten ‚Willdorf‘ möchte ich haben. Im zweiten Fach rechts im Aktenschrank!“

„Sehr wohl!“

Er kannte den Fall genau – dennoch prüfte er noch einmal alles sorgfältig. Ihm war, als sehe ihm ein greises Haupt mit hellen schüchternen Kinderaugen über die Schulter, und diese Augen forschten ängstlich in seinem Gesicht, ob nicht ein mildernder Umstand – –

Nein! Weder Krankheit noch Mangel an Einkommen, weder schrankenloser Wohlthätigkeitssinn noch Unterstützung bedürftiger Freunde – die nackte Verschwendungssucht, das Bestreben, es anderen zuvorzuthun, eine Rolle in der Gesellschaft zu spielen! Da war nichts zu retten!

„Mein armer Alter! Das Schicksal, das Dir so grausam scheinen muß, hat es noch gnädig genug mit Dir gemeint! Eine herbe Enttäuschung hast Du erfahren, um vor einer noch herberen bewahrt zu bleiben. Wärst Du auf Deinem stillen Dorf geblieben, hättest Du Dich nie in die große Welt gewagt! Denn diese große Welt gönnt selten uns armen Menschenkindern eine echte Freude!“