Die Gartenlaube (1854)/Heft 21

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1854
Erscheinungsdatum: 1854
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[237b]

No. 21. 1854.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redakteur Ferdinand Stolle.
Wöchentlich 11/2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 121/2 Ngr. zu beziehen.

 Die Zahlen.

 Ein Comptoir-Spuk.

Das große Hauptbuch vor mir aufgeschlagen,
Saß ich am Pult bis in die tiefe Nacht,
Um Legionen Zahlen einzutragen.
Die schier bis zur Verzweiflung mich gebracht.
Gerechnet hatt‘ ich und gerechnet wieder
Die langen Ziffernsäulen auf und nieder;
Mein Kopf war wirr und wüst von all’ den Zahlen.
Und ingrimmsvoll verwünscht’ ich diese Qualen.

Da draußen spielte in den Blüthenbäumen
Mit leisem Hauch die laue Lenzeslust;
Mich zog’s hinaus, im Waldesgrün zu träumen,
Zu baden meine Brust im süßen Duft.
Doch angekettet saß ich, schwarze Zahlen
Auf weißem Grunde mühsam hinzumalen,
Und eh’ in’s Reine Alles ich gebracht,
Befiel mich über meinem Werk die Nacht.

Da stampft’ ich wild die Feder auf das Pult,
Und rief im raschen Zorn der Ungeduld:
„Verflucht seid ihr, verflucht zu tausend Malen!
Ich wünschte in der Hölle sie zu sehn,
Die schwarzen Quäler alle, diese Zahlen, –
Zusammt den Büchern all’, darin sie steh’n!“

Und schwerer wurden meine Augenlider,
Und deckten mir die trüben Augen zu;
Mein müdes Haupt sank auf die Brust hernieder,
Und legte auf dem Hauptbuch sich zur Ruh’. –

So war ich denn in tiefen Schlaf begraben
– Der träge Geist erlag dem schwachen Fleisch –,
Und lange mocht’ ich schon geschlummert haben:
Da weckte mich ein sonderbar Geräusch.
Ich fuhr empor; – das Hauptbuch war verschwunden,
Auf dem ich ein so süßes Bett gefunden,
Und bei dem Mondlicht, welches hell und klar
Erleuchtete das ganze Comptoir,
Blickt’ ich umher, es forschend zu erspäh’n. –
Und sah es endlich mitten in dem Zimmer,
Beleuchtet von des Mondscheins blassem Schimmer
Auf einem Stuhle aufgerichtet steh’n;
Und voll Erstaunen sah ich und voll Schrecken
Aufklappen sich die schweren Pappendecken,
Und aus den hin- und herbewegten Blättern
Erklang ein seltsam Rauschen, Stöhnen, Schmettern.
Die Töne wurden klarer, immer klarer,
Und deutlich hört’ ich endlich das Geschrei:
„Herbei, der Zahlen treuliche Bewahrer!
Herbei, ihr Bücher alle, kommt herbei!“

Da regt es plötzlich sich in dem Gemache,
Da ward’s lebendig flugs in jedem Schrein;
Sie krochen, schlichen, hüpften aus dem Fache,
Die Handlungsbücher alle, groß und klein.
Journal und Cassa-Buch und Prima-Note,
Das Waarenbuch, die Strazzen, hoch und schmal,
Sie standen schnell dem Rufe zu Gebote,
Und schaarten sich um ihren General.
Der aber sprach mit gravität’schen Mienen:
„Ich rief euch her als euer Präsident;
Gehorsam meinem Wort seid ihr erschienen;
Constituirt euch nun als Parlament! –
Der Fall, den ich euch vorzutragen habe,
Betrifft den Menschen, der da sitzt am Pult,
Und während er dort schläft, als wie im Grabe,
Beschließen wir die Strafe seiner Schuld.
Er, der uns dienen sollt’ als treuer Wächter,
Er zeigt sich uns als Frevler und Verächter,
Hat uns verflucht, uns alle auf einmal,
Und unser Lebenselement, – die Zahl!
So laßt uns jetzt zum Rathe uns vereinen,
Wie wir ihn strafen, der sich das erfrecht!
Mylords und ihr vom Hause der Gemeinen,
Sagt, wie man solchen schnöden Frevel rächt!“

Da raschelten die Blätter durcheinander,
Da rauscht’ und zischt’ und heult’ es rings wie toll;
Der Präsident, auch nicht ein Wort verstand er,
Bis erst sein Ruf: „Zur Ordnung!“ laut erscholl.
Die Strazzen näselten: „Wir woll’n ihn quälen!
Aus unserm Wirwarr werd’ er nimmer klug!“
Das Cassa-Buch schrie wüthend: „Stets soll fehlen!
Die Cassa stimme niemals mit dem Buch!“
Dazwischen rief das Waarenbuch, das dicke,
Im tiefsten Basse aus: „Ich meine sehr,
Wir stürzen Alle über ihn uns her,
Und brechen dem Verräther das Genicke!“
Das Hauptbuch aber sprach mit argem Hohne:
„Ich bin dafür, daß man ihn jetzt noch schone;
Doch wenn dereinstens er beim Jahresschluß
Nach soviel durchgerechnet schweren Tagen
Nun die Bilanz des Ganzen ziehen muß,
Dann überlaßt es mir, ihn abzuplagen!
Dann soll ein Groschen hier im Debet fehlen,
Und dort zuviel ein Tausend Thaler steh’n.
Und wie er sich auch immer möge quälen,
Er soll es nimmer richtig stimmen seh’n!
Da soll er Stunden, Tage, Wochen suchen,
Und immer neue Fehler finden nur.
Und kommt er nie dem letzten auf die Spur.
Verzweiflungsvoll sich selber dann verfluchen!“

Ein Beifallssturm brach los bei diesen Worten;
„Bravo! Bravo!“ – so rief’s aus einem Mund,
Ich aber war jetzt munter ganz geworden,
Und nunmehr ward mir’s endlich doch zu bunt.
Ich faßte mir ein Herz; mit einem Satze
Sprang ich von meinem Bocke schnell empor,
Ergriff die äußerste Notizen-Strazze
Und schleuderte sie in den dichten Chor.
„Was?“ – rief ich aus – „Wie könnt ihr euch erfrechen,
In schnöden Aufruhrs tollem Uebermuth
Von Richten und von Strafen hier zu sprechen?
Legt euch zur Ruh’, und schweigt, verdammte Brut!

[238b]

Ihr niederträchtigen Rebellengeister!
Ich, ich befehl’ es, euer Herr und Meister!“

Doch kaum war meinem Mund das Wort entflohen,
So brach ein unbeschreiblich Toben los,
Ein Schimpfen, Schelten, Schnauben, Schreien, Drohen,
und der Tumult erhob sich riesengroß.
Des großen Hauptbuchs mächt’ge Donnerstimme
Bot endlich dem verrückten Haufen Ruh’,
Und rief sodann mit unverhalt’nem Grimme
Aus seinem Blättermund mir höhnend zu:
„Elender Wurm! Du unser Herr und Meister?
Was bildet dieser Erdenkloß sich ein?
„Buchhalter“ – nicht wahr? – doppelter“ – so heißt er,
Und darum denkt er unser Herr zu sein? –
Anmaßender? Wenn ich jetzt meinen Schaaren,
Den Hunderttausenden von Ziffern hier,
Gebiete, daß sie auseinander fahren,
Und sich zerstreu’n im weiten Luftrevier:
Wärst du etwa der Mann, sie festzuhalten?
Und wenn sie ausmarschirten auf mein Wort,
Fingst du sie ein mit menschlichen Gewalten,
Und stelltest wieder sie an ihren Ort?“ –

„Unwürdiges Geschöpf von Papp’ und Leder!“
Rief ich ergrimmt, – „du schwatzest hirnverbrannt;
Was ich geschrieben habe mit der Feder,
Das steht, – an seinem Platze festgebannt!“

Ich sprach es, und ein teuflisch Hohngelächter
Des ganzen Haufens war die Antwort drauf.
„Ha!“ – schrie das Hauptbuch, „zeigt es dem Verächter,
Ihr Zahlen! Vorwärts! Marsch! – in schnellem Lauf!“

Da plusterten die Blätter auseinander
Von all’ den Büchern und im Nu begann
Auf ihnen ein Gelauf und ein Gewander,
Als käm ein Heer von hunderttausend Mann.
Aus ihrer Linien rothen Barrieren
Zog jede lange Zifferreihe aus,
Und alle Spalten sah ich rasch sich leeren;
Mir stand das Haar zu Berg vor Schreck und Graus.
Erst zogen sie in schnurgeraden Zügen.
Im richtigen Kolonnenmarsch einher;
Doch plötzlich machten sie sich’s zum Vergnügen,
Umherzustieben in die Kreuz und Quer.
Ameisen ähnlich kroch der ganze Haufen
Um mich herum in scheußlichem Gewirr:
Das war ein Gehen, Kommen, Rennen, Laufen;
Das war ein hirnverrückendes Geschwirr!
Die Nullen kugelten sich auf den Dielen;
Die Achten ringelten sich Schlangen gleich;
Die Sechsen sah man mit den Neunen spielen;
Die Fünfen trieben manchen Possenstreich;
Die Einsen stachen mich mit ihren Spitzen,
Und ließen, wie ein zornig Bienenchor,
Den gift’gen Stachel in der Haut mir sitzen;
Die Zweien krochen heimlich mir in’s Ohr.
Dazwischen scholl der Bücher höhnisch Lachen;
Sie schlugen höhnisch ihre Blätter auf,
Um die Verzweiflung in mir voll zu machen. –
Nicht eine einz’ge Zahl stand mehr darauf!

In Todesangst rief ich in das Gewimmel:
„Ich bin verloren, ein geschlagner Mann!
Weh’ mir! Was wird aus mir? Hilf Himmel!
Was fang ich nun, ich Aermster, morgen an?
Schon seh’ ich, wie in Winkeln und in Ecken
Die losgelass’nen Ziffern sich verstecken;
Wie, wo such’ ich sie wiederum zusammen,
Zu setzen jed’ an ihre Stelle hin?“ –
Und, Hirn und Herz durchtobt von Höllenflammen.
Sank ich zu Boden, und mir schwand der Sinn.

Da rief mit triumphirend stolzem Tone
Das große Hauptbuch, zu mir hingewandt:
„Beugst du dich nun vor meinem Herrscherthrone,
Hast du nun endlich meine Macht erkannt?
Ich sehe dich zerknirscht in tiefer Reue,
Und bin voll Huld geneigt, dir zu verzeih’n.
Wohlan, so schwör’ aufs Neue jetzt mir Treue;
Dann soll die Angst allein dir Strafe sein!“ –

Ich schwor – was hätt’ ich Alles nicht versprochen,
Um nur die Zahlen wieder fest zu sehn?
Zerschmettert, unter lautem Herzenspochen
Kroch ich zu Kreuz mit unterwürf’gem Flehn.

Das Hauptbuch commandirte nun Retraite:
„Halt! Achtung! Richtet euch, und rücket ein!“
Und gleich, als wenn ein Wind darunter wehte,
Zerstob der wilde Knäul der Zahlenreihn.
Schnell sah ich die Colonnen sich formiren,
Auf’s Schönste, trotz dem besten Grenadier.
Und zugweis wiederum zurückmarschiren
In’s alte, kaum verlass’ne Standquartier.

Ich dankte Gott, daß sie nur wieder standen
In Reih’ und Glied; das Hauptbuch aber sprach:
„Noch eine Lehre geb’ ich dir zu Handen;
Der denk’ an jedem Tage ernstlich nach! –
Die Zahl erkühntest du dich zu verachten?
Du blöder Thor! Begreifst du auch die Zahl?
Das Tiefste, was die höchsten Geister dachten.
Es ist verfaßt, gegründet in der Zahl.
Pythagoras, der Weiseste der Weisen,
Hat schon das tiefe Dunkel aufgehellt,
Und in den Sphären, die das All durchkreisen,
Gilt rings das Wort: „Die Zahl regiert die Welt!“
Wo Ordnung ist und Ebenmaaß und Regel,
Da ist’s die Zahl, die Alles das erschafft;
Im stolzen Tempelbau, im bläh’nden Segel
Spürst du die Zahl und ihre hohe Kraft;
Des Liedes Rhythmus und der Fall der Töne,
Sie sind begriffen in dem Maaß der Zahl,
Und alles Große, Herrliche und Schöne
Begrenzet und bestimmt sich durch die Zahl;
Das Weltall selbst mit jenen tausend Flammen,
Die wunderbar am Sternenhimmel glühn,
Die Zahl fügt es mit ew’ger Kraft zusammen,
Läßt Alles die gewies’nen Bahnen ziehn.
Drum acht’ es nicht gering, der Zahl zu dienen!
Du dienst damit dem Urprinzip der Welt,
Das Alles bindet wie mit eh’rnen Schienen,
Das Alles regelt, ordnet und erhält!“

Ich lauschte noch nach diesen hohen Worten. –
Sie tönten wie vom Himmel mir herab;
Da war es ruhig in mir selbst geworden,
Und um mich tiefe Stille, wie im Grab.
Mir aber war’s, als wär’ ich neu geboren;
Erstaunt sah ich mich um im ganzen Raum,
Und fast schien Alles nur ein wüster Traum;
Doch jedes Wort klang mir noch in die Ohren.

Am Morgen zum gewohnten Tagewerke
Kam ich und schlug das große Hauptbuch auf. –
Mit scheuem Blick, ob ich noch etwas merke
Von meiner Zahlen grauenvollem Lauf.
Doch ruhig standen sie in ihrer Reihe,
Und sah’n vertraut und liebevoll mich an;
Mir war’s, als wär’ mit einer höhern Weihe
Mir des Berufes Arbeit angethan.
Und mit gestärkter Kraft und frischern Sinnen
Konnt’ ich auf’s Neu’ mein Tagewerk beginnen.
Konnt’ ich auf’s Neu’ mein Tagewerk beginnen.G. H–r.




Das Haus am Meeresstrande.
Eine pommersche Geschichte von Oswald Tiedemann.

Das war ein Sturm, der die Erde aus ihren Angeln heben wollte. Pfeifend und gellend zog es durch die Lüfte, als wäre das Heer der bösen Geister auf der Flucht, als beliebte es dem Himmel, herabzustürzen, mit Einem Schlag ein weites unabsehbares Grab aufzuspalten. Der Blitz übereilte den Donner, der Donner den Blitz, sie trafen zusammen, furchtbar, betäubend. Es loderte in fahlem Lichtschein herauf, herab. – Ein Flammenmeer übergoß Himmel und Erde. Das Gewölk drängte, wälzte sich – ein Gewitterknäul der Wuth, der Finsterniß und der Empörung. –

An einem Abhange, inmitten riesiger Tannen, die wehklagend ihre Aeste in der Gewalt des Sturmes schüttelten, dicht am Strande der Ostsee steht eine Hütte, klein, niedrig, unbeschreiblich elend. Die Wände sind von Sand und Lehm, durch Unwetter zerbröckelt und geschwärzt; das Dach von Brettern, Rasen und Moos; die Fensterluken, kaum groß genug, das Licht herein und den Rauch des Herdes herauszulassen, mit Papier verklebt und mit Netzen verhangen. –

Im Innern sah es nicht minder elend aus. Ein rohgearbeiteter Schrank, Bänke und Tische leicht zusammengeschlagen, nebst zwei Strohlagern in einer anstoßenden Kammer, bildeten das ganze Hausgeräth. Auf den Bänken und an den Wänden lagen und hingen in wirrer Unordnung Fischergeräthschaften und einige Kleidungsstücke im dürftigsten Zustande.

[239] Seltsam kontrastirte mit der Armuth des Ganzen, dem Schmuz und der Dunkelheit, ein junges Mädchen, das am Herde beschäftigt war. Von hohem Wuchse, schlank und kräftig, vermochte selbst das faltige Kleid von grauem Wollenstoff nicht ganz die schönen Formen zu verhüllen. Der halbentblößte Nacken, den ein lose geknüpftes buntes Tuch von Kattun nur wenig bedeckte, war, wie der Hals von blendender Weiße; das Gesicht von unnennbarem Reiz, so voll Anmuth, daß man versucht werden konnte, an eine Fee zu glauben, die in eine niedere Hütte der Menschen sich aus Laune verirrt hatte. Das Auge besonders, groß und von feuchtem Glanz, wie die Perle des tiefen Meeres, strahlte gleich einem Juwel und wetteiferte an Schwärze mit dem reichen Haar, das in seiner Fülle den beiden hölzernen Nadeln, die es halten sollten, immer entschlüpfen wollte. –

Sinnend blickte das Mädchen in die Gluth des Feuers auf dem Herde, und wie die Flamme durch hinzugelegtes Reisig immer höher stieg, so wuchsen auch die Seufzer, die anfangs leise ihrer Brust entstiegen, stärker an. Sie vergaß aber dabei nicht, fleißig in einem Kessel zu rühren, in dem ein Brei brodelte.

Still war es in dem Innern, nur das Knistern des Feuers und die Seufzer des Mädchens zuweilen vernehmbar; draußen wüthete das Unwetter furchtbar fort.

„Wo nur der Vater bleibt?“ dachte das Mädchen mit steigender Besorgniß und mit gespanntem Ohr hinaushorchend. – Indem wurde draußen an die Thür der Hütte heftig gepocht. Sie ging um zu öffnen; sie hatte vorher den Riegel vorgeschoben. Es traten ihr zwei Männer, ihrer Kleidung nach Waldhüter, entgegen, die einen jungen, anscheinend völlig bewußtlosen Mann auf einer leicht zusammengefügten Tragbahre von Tannenzweigen trugen.

Das Mädchen, an Gefahren, Entbehrungen und Unglück gewöhnt, erschrak zwar nicht, doch wich sie unwillkürlich einen Schritt zurück.

„Guten Tag, Katharina,“ sagte einer der Männer. „Wir bringen Euch für eine Stunde den jungen Herrn vom Schlosse. Wir haben ihn, von einer Kugel getroffen, im Walde gefunden. Wir wollen schnell nach dem Kloster Riedd; bis wir zurück sind mit Wagen und Pferden, müßt Ihr ihn behalten.“

„Kommt herein!“ erwiederte Katharina, indem sie einen neugierigen Blick auf den Junker warf, und den Leuten einen Platz anwies, wo sie ihn hinlegen sollten. „Aber erzählt mir doch Mehreres? Wie ging es zu, und was soll ich beginnen? Ich bin allein und weiß mit Kranken nicht umzugehen!“

„Da ist auch nicht viel zu machen, Kathi,“ erhielt sie zur Antwort. „Wir müssen auf’s Schloß. Todt ist er nicht, und so Gott will, ist der Schuß nicht gefährlich. Mehr wissen wir auch nicht, als daß wir ihn an einem Pfahle liegend gefunden, an dem, wie Ihr wißt, geschrieben steht, daß er nicht überschritten werden darf. Nun, für den Junker vom Schlosse gilt das Gesetz nichts. Uns wundert nur, wo der große Hund des gnädigen Junkers, der Dogg, geblieben ist. Keine Spur von ihm. Doch nun guten Tag, Kathi, wir dürfen nicht säumen. Der alte Herr auf Schloß Riedd ist nicht der Beste, er könnte uns das Zögern vergelten.“

Die Männer verließen die Hütte. –

Katharina kniete vor dem Verwundeten nieder und legte ihm unter das Haupt ein Strohkissen, das sie aus der Kammer geholt hatte. Sie kannte den Sohn ihres Gutsherrn bereits, aber in solcher Nähe hatte sie ihn noch nie gesehen. Mit weiblicher Neugierde betrachtete sie die reiche Kleidung, die an vielen Stellen mit Blut befleckt war, und den männlich-schönen Kopf. Um den Mund spielte ein trotziges Lächeln, ein Zug von Härte, der sich bei dem Junker gewöhnlich immer zeigte, und der auch jetzt nicht verschwunden war. … Katharina strich ihm das blonde Haar mit leiser Hand von der Stirne und lauschte an seinem Munde; er athmete, aber schwach und kaum bemerkbar. Die Schußwunde schien er in der Seite erhalten zu haben; Katharina fürchtete sich indeß, sich darüber Gewißheit zu verschaffen. – Sie konnte sich, sie wußte selbst nicht weshalb, von dem Lager gar nicht trennen und vergaß darüber alles Andere. Ihr Auge ruhte fortwährend gespannt auf dem Verwundeten. Jetzt regte er leise die Hand, die aus den reichen Hemdmanschetten hervorsah, die Finger zupften an dem grünen Rocke. … Katharina veränderte die Farbe; sie hatte diese Bewegung schon einmal an einem Krankenlager bemerkt und gefunden, daß es ein Vorbote des Todes sei. Sie beugte sich über das Gesicht des Junkers … seine Wimpern zuckten, er schlug die Augen auf. Sie hatten keinen Ausdruck, still und ruhig war der Blick. In dieser Weise betrachtete er Katharina einen Moment, ohne daß er ein Wort gesprochen, dann schlossen sich die Wimpern wieder. – Der Vater Katharina’s trat in die Stube. Er war bis auf die Haut durchnäßt, denn der Sturm war in einen Regen übergegangen, der in Strömen heruntergoß. Seine Gestalt war hoch und stämmig. Haar und Schnurrbart bereits grau, aber die nackten Arme, die bis an das Knie entblößten Beine verriethen noch eine seltene Muskelkraft. Er warf ein Netz mit Fischen auf den Boden und heftete einen scharfen Blick seiner grauen Augen auf die Gruppe …

„Was ist geschehen?“ fragte er mit rauher Stimme.

Katharina erzählte den Hergang. Ohne ein Wort zu erwiedern hörte er sie an, dann trat er an den Herd und eine Zornader trat auf seine Stirn. Er rief: „Warum ist das Feuer ausgegangen? Hast Du den Vater über den Burschen dort vergessen? Ich bin durchnäßt bis auf die Knochen und hungrig. Marsch fort, hierher!“ –

Katharina entgegnete: „Er ist verwundet und bedarf der Hülfe.“

„Was kannst Du ihm helfen?“ meinte der Vater. „Hättest Du ihm wenigstens eine Kanne Wasser über’s Gesicht gegossen, dann ließ ich’s gelten. Daß Du da hockst, wird ihn nicht aufbringen. Er ist der Junker von Riedd; Gott besser’ den Schloßherrn durch diesen Vorfall.“

Katharina nahm den Brei aus dem Kessel, stellte ihn vor den Vater, der sich an einen Tisch setzte, hin und sagte: „Ihr seid wieder mürrisch; was ist Euch begegnet?“

„Was sollte mir begegnet sein? Dummheiten! Alte Geschichten! Bei diesem Unwetter, das die Wurzeln der Tannen nach oben kehrt, läßt sich nicht gut fischen. Das Meer zieht die Stirne kraus, als hätt’ es ein Faß Brechpulver verschluckt. Es hat mich hinausgeschleudert bis fast an die Thore von Kolberg; kaum glaubt’ ich mit heiler Haut wiederzukommen.“

„Ihr hättet auch nicht heute fischen sollen, Vater. Mir bangte nach Euch.“

„Von was willst Du morgen leben? Du bist eine große starke Dirne, die ihr gut Theil Essen will. Die paar Kartoffeln an unserer Barracke werden wohl bald verschluckt sein. Der Herbst ist vor der Thüre. Der Sturmvogel hat sich heute wie toll geberdet mit seinem heisern Schrei.“ – Er legte den Löffel weg, schob die Schüssel bei Seite und stemmte die Arme auf den Tisch, während seine Augen zu dem Verwundeten hinüberschielten.

„Wie lange ist es her, daß sie den Burschen hierherbrachten?“ fragte er weniger barsch.

„Eine Stunde mag’s sein, Vater. Ich fürchte für den Junker. Wenn sie nur gleich einen Doktor mitbrächten.“

„Was kümmert Dich denn so gewaltig der Junker? Hat er Dir auch schon die Ehre angethan, mit Dir im Walde zusammenzukommen, wie mit des Kreuzwirths Rosi? Der alte Narr, ihr Vater, hatte sich ein neues Schild malen und drauf mit stolzen Worten setzen lassen: „Mit Gott für König und Vaterland!“ und glaubte nun, alle Barone und Grafen des Pommernlandes müßten bei ihm einkehren. Den Henker! Die Vornehmen blieben aus und die Bauern auch. Er hielt saures Bier und Branntwein, von dessen Geruch man schon sterben konnte; das nagelneue Schild sollte Alles verbessern. Es ging heillos schlecht mit ihm. Da kehrte der Junker dort, der mit dem Garaus jetzt zu schaffen hat, eines Tages bei ihm ein; er kam öfter, dann alle Tage. Er verständigte sich mit dem alten Narren, dem schwarzen Kreuzwirth; uns wurde verboten, nach andern Dörfern in die Schenke zu gehen; wir mußten bei ihm das schlechte Bier trinken und mit Bauchgrimmen den Branntwein hinunterschlucken. Der Junker paßte genau auf, wer nicht einkehrte; er saß im Oberstübchen bei der Rosi und lugte durch’s Fenster – wenn er gerade Zeit hatte, setzte er lachend hinzu. Da kam der Frühling. Ja, ja, er spielt gar seltsame Weisen, der Frühling. Im Frühling war es, da gingen die Beiden in den Wald, der Junker und die Rosi. Was da geschehen ist, weiß man nicht, man denkt sich’s blos; aber Rosi senkte fortan gar sehr den Kopf, der Kreuzwirth ließ den Hochmuth fahren und schenkte besseres Bier, sprach auch gar freundlich mit dem niedrigsten Bauern. Das ging so eine Zeit; der Junker ließ sich in der Schenke nicht wieder sehen. Eines Sonntags, [240] da ging der Kreuzwirth nach den Schlosse Riedd hinauf, zu dem alten Herrn; er mußte wohl, denn es war hohe Zeit, alle Mädchen gingen seiner Rosi aus dem Wege. Element! wie empfing ihn der Baron. Er lachte, freute sich seines Sohnes und sprach von einer großen Ehre, die dem Narren von Wirth passirt sei. Dieser heulte anfangs, dann drohte er und sagte etwas von der Regierung in Stettin, oder gar am Ende von Berlin. – Der Baron meinte: „Das sind meine Gerechtsame, auf denen Ihr Bier ausschenkt, und wenn Ihr noch muckst, so laß ich Euch das Schild herunternehmen, worauf das Kreuz und die Worte: „Mit Gott für König und Vaterland! Der Weg nach Berlin ist lang, und des Bauern Ohr ist noch eben so weit von dem Ohr des Königs, wie in alten Zeiten vom Ohr der pommerschen Herzöge.“ –

Der Kreuzwirth duckte sich; aber seine Rosi, ein frisches gesundes Mädel vor damals, siechte und siechte, bis sie die Arme von sich streckte und todt war; die Schande und der treulose Geliebte hatten ihr das Herz gebrochen. „Mädel, Kathrine,“ fuhr er nach einer kurzen Pause lebhaft fort, „wenn Du mir desgleichen thätest, ich glaube, mit den Nägeln zerkratzt’ ich Deinen Leib, daß er früher den Raben zur Speise würde.“ – Die Augen des Alten blitzten und hafteten durchbohrend auf seiner Tochter. Diese, unbekümmert um die zornige Rede des Vaters, hatte eine hölzerne Schüssel mit Wasser gefüllt, war abermals vor den Verwundeten niedergekniet und netzte die Stirn desselben. Sie entgegnete: „Es ist ein Mensch, Vater, der hier liegt; was Ihr redet, mag gut gemeint sein, aber ich versteh’ es nicht ganz. Ihr wißt, ich habe meinen Schatz.“ –

„Auch so ein Stadtvogel,“ brummte der Alte, „von dem man nicht weiß, wie man dran ist. Er schwätzt allerlei und gar Liebliches für Dein Herz, aber ob er’s ehrlich meint, das ist die Frage. Deine schönen Augen haben ihn wohl verblendet, ob er sie aber nicht ebenfalls sehr wohlfeil zu kaufen gedenkt, darüber hat er sich noch nicht entschieden.“

„Ihr seid doch auch gar zu übeldenkend, Vater. Ich möchte nur wissen, was Euch die Menschen gethan, daß Ihr gegen alle so absprechet und gleich das Schlimmste im Munde führt. Hat Euch Rudolf nicht gesagt, daß er mich heirathen will? Mir hat er es gesagt.“

„Das ist so der schöne Anfang zu einem bösen Ende,“ sprach der Alte, indem er sich eine Pfeife anrauchte. „Sehen muß ich’s, wenn ich’s glauben soll. Der Herr Rudolf wird sich Deiner und meiner schämen, wenn wir in der Stadt sind; wenn wir überhaupt dahin kommen. Was mir die Menschen gethan? Gerade so viel, als nöthig, um verrückt zu werden. Der Arme ist ihnen noch zu reich, wenn er nicht gerade betteln geht. Sie können sich nicht denken, daß man bei trockenem Brote und einem letzten Vorrath von Ehre nicht an den Straßenecken stehen will. Ich war Soldat, habe so und so viel Jahre ehrlich und rechtschaffen gedient. Man hing mir eine Medaille in das Knopfloch, gab mir monatlich einen Thaler zwanzig Groschen und sprach: „Nun können wir Dich nicht länger im stehenden Heere brauchen. Sei zufrieden mit Deinen vier Wunden am Leibe.“ Das mochte gehen, ich will nichts einwenden, aber daß uns armen Teufeln die Luft, die wir schnappen möchten, noch beschnitten und verkürzt wird, das ist zum Würgen. Sieh’ Dir dort den Junker an! Als ich hierherzog, in meine rechte Heimath, da machte mir der Gutsherr allerlei Scherereien, ich mußte Papiere herbeischaffen, um die ich mich nie bekümmert, damit ich nur ein Fleckchen Erde gewönne, wo ich ausruhen könnte. Weiter! Mein Weib, Deine Mutter, war eine Französin, die ich einmal auf der Flucht gerettet, die wollten sie gar wieder heimschicken. Was für Laufereien und Plackereien, bis ich sie behalten durfte! Und nun? Ich darf mich nicht rühren und handthieren zwei Minuten in der Runde. Ueberall steht ein Pfahl, hier einer, dort einer und darauf: „Bei Strafe verbotener Weg!“ Will ich mir eine Handvoll Reisig aus dem Wald holen, so muß es bei Nacht geschehen, am Tage wittert die Nase des Schloßherrn von Weitem den Uebertreter des Gebots. Und so in Allem auf dieser Gutsmark. Mich wundert nur, daß sie das Meer nicht abtheilen und Pfähle einrammen; daß man nicht von jedem Fisch nur den Schwanz und den Kopf behalten darf, und das Uebrige auf’s Schloß abliefern muß. Für dieses elende Hundeloch, das man mir zu bauen gestattete, es sind dies zwanzig Jahre her – muß ich zwei Tage in der Woche auf den Feldern des Herrn von Riedd arbeiten; dabei mich aber selbst beköstigen. Nun sage mir Einer noch, ich führe ein gutes Leben! Der Teufel kann damit auskommen, geschweige ich!“ –

Katharina hatte solche und ähnliche Zornausbrüche ihres Vaters schon oft gehört und war deren gewöhnt. Sie verhielt sich dabei meistens still und wartete ab, bis er sich besänftigte; was jedes Mal geschah, wenn er eine lange Rede gehalten. Auch jetzt glättete sich seine Stirn und sein Auge blickte minder finster auf den Verwundeten, der noch immer kein Zeichen seines wiederkehrenden Bewußtseins von sich gab. Er trat näher und untersuchte mit den Augen eines Kundigen den Körper des jungen Mannes. Als gedienter Soldat, der manche Schlacht mitgemacht, verstand er sich etwas auf die Wundarznei.

„Nicht gefährlich!“ murmelte er zwischen den Zähnen, als er den Junker längere Zeit betrachtet. „Ein Stärkerer würde sich um den einfältigen Schuß nicht so viel kümmern. Wahrscheinlich ist der junge Herr in der Residenz und zu Hause mit Zucker aufgefüttert worden. Zeit ist aber doch, daß der Wagen kommt.“

Während er sich niedergebückt hielt, bemerkte Katharina an dem Leinwandkittel ihren Vaters mehrere Blutflecken. Sie machte ihn darauf aufmerksam.

„Ei was!“ brummte der Alte rasch, indeß nicht ohne einen leisen Anflug von Verlegenheit, „von dem Junker da! Was halt’ ich die Nase so dicht an seinen Leichnam. Doch horch! Ist das nicht der Wagen? Die Räder ächzen in dem nassen Sande.“

Er eilte hinaus und kam bald mit mehreren Männern zurück, unter denen sich der alte Freiherr von Riedd befand. Mit besorgtem Antlitz eilte dieser sogleich auf seinen Sohn zu und winkte dem Hausarzt, den er mitgebracht, und der auf dem Schlosse wohnte. Die Wunde wurde untersucht und nicht für tödtlich erkannt. Beim Verbinden wachte Casimir, der Junker, auf, und blickte verwundert um sich. … Er wurde mit Sorgfalt in den Wagen getragen.

Der alte Freiherr dankte dem alten Fischer und seiner Tochter mit den Worten: „Ich höre von einer Verlobung, Katharina, die im Anzuge ist. Der junge Maler Rudolf Elmer freit um Euch? Nun gut, wenn Gott meinen Sohn erhält und der Thäter des schändlichen Mordanfalls entdeckt ist, so kommt zu mir hinauf auf das Schloß; ich werde zu Deiner Ausstattung beitragen. Was Dich betrifft, Claus Schilder, so erlaß’ ich Dir für diese Woche die zwei Arbeitstage auf dem Felde, die Du verbunden bist, mir zu leisten. Gehabt Euch wohl!“ – Er verließ die Hütte, von den Danksagungen Beider begleitet, stieg zu Pferde und ritt an der Seite des Wagens, in den sein Sohn gebracht worden war und der langsam davonfuhr.

(Fortsetzung folgt.)




Richard Wagner.

Richard Wagner, der Dichter und Componist des Rienzifliegenden HolländerTannhäuser und Lohengrin, dessen Bild Euch, liebe Leser, die Gartenlaube diesmal vor die Augen stellt, hat auf seiner Laufbahn glühende Anhänger und kalte Gegner gefunden. Jene sehen den genialsten Kunstreformator, diese nur ein bedeutendes Talent in ihm, ja manche der letzteren erklären ihn für einen musikalischen Herostratus. Jedenfalls ist er eine der hervorragendsten Erscheinungen der Gegenwart, die wir nicht übersehen dürfen.

Von seinem Leben wüßte ich Euch wenig zu erzählen. Er wurde am 22. Mai 1813 in Leipzig geboren, besuchte in Dresden die Kreuz-, später in Leipzig die Thomasschule, und frequentirte kurze Zeit die Universität zu Leipzig. Unterricht in der Composition erhielt er von dem trefflichen Theoretiker Weinlich, Cantor an der Thomasschule.

Dies ist, was mir von den Bildungsmitteln seiner Jugend bekannt geworden. Die ausgebreiteten Kenntnisse, die er in seinen Schriften, die bedeutende Schaffenskraft, die er in seinen Kompositionen zeigt, lassen schließen, daß er sehr fleißig und zumeist durch mannigfaltigstes Selbststudium sein eigener Lehrer gewesen [241] sein muß, wie man das oft an ausgezeichneten Geistern in den Wissenschaften und Künsten gewahrt.

Richard Wagner.

Wagner kam als Kapellmeister an das Theater zu Magdeburg, später nach Riga. In letzterer Stadt begann er seinen Rienzi. Von Riga reiste er zu Schiffe über London nach Paris. Auf dieser Fahrt erlebte er einen Seesturm, der ihm die Idee zu seinem fliegenden Holländer eingab. Beide Opern vollendete er bis Ende des Jahren 1841 unter mancherlei Sorgen und Entbehrungen in Paris. 1843 führte er seinen Rienzi in Dresden auf, und wurde in Folge davon Kapellmeister daselbst. 1845 erschien auf der dortigen Bühne zum ersten Male der Tannhäuser. Seine neueste Oper ist Lohengrin, die 1850 in Weimar durch Liszt zur Aufführung kam. Dieses Werk hat Wagner selbst bis heute noch nicht gehört. Denn in Folge des Dresdner Aufstandes 1848, an dem er sich betheiligte, verlor er seine Stelle, mußte flüchten, und lebt seit der Zeit in Zürich, wo er den Text zu einer neuen Oper „die Niebelungen“ vollendet hat, mit dessen Composition er gegenwärtig beschäftigt ist.

Wagner hat sich in drei geistigen Thätigkeiten zugleich ausgezeichnet: als Schriftsteller, Operndichter und Operncomponist. Bedenkt man, wie Viele den Fleiß eines ganzen Lebens auf eine dieser Branchen richten, ohne etwas Bedeutendes darin leisten zu können, so muß man die Vielseitigkeit seines Talentes aufrichtig bewundern.

Wagner als Schriftsteller.

In seinen Hauptwerke: „Oper und Drama,“ behauptet Wagner, daß die Oper von Haus aus und bis zu ihm, ein totaler Irrthum gewesen. Der Dichter konnte und durfte keinen Text machen, der eine interessante und vernünftige Handlung hatte, sondern blos ein Ding mit Arien, Duetten, Chören, Finales. Der Komponist konnte und durfte die darin gezeichneten Gefühle und Leidenschaften nicht musikalisch ausdrücken, sondern er mußte sie nur in Noten setzen, um des eitlen Sängers Stimme glänzen zu lassen. Das heißt das Kind mit dem Bade ausschütten.

Freilich giebt es läppische Operntexte, cosi fan tutte, Zauberflöte. [242] Aber kennen wir nicht auch vortreffliche? Den Wasserträger, Joseph in Aegypten, Freischütz, Fidelio? Freilich giebt es Componisten, deren Musik zu ihrem Texte paßt, wie die Faust auf’s Auge. Aber gehören unter diese Componisten auch Gluck, Mozart, Beethoven, C. M. v. Weber, Cherubini, Mehul? Freilich giebt es eitle Sänger, die von dramatischem Ausdruck nichts wissen, und nur ihre Stimme hören lassen wollen. Aber gehören darunter die Schröder-Devrient, Lind, Pasta?

Ihr seht aus diesen wenigen Beispielen schon, liebe Leser, daß Wagner die Dinge dieser Welt anders sieht oder anders zu sehen vorgiebt, als andere Menschen.

Trotzdem hat er eine Anzahl Gläubiger gewonnen, die auf seine Worte schwören wie auf das Evangelium. Die Ursache liegt wahrscheinlich in der Art seiner Darstellung. Er schreibt sehr bestechend und sehr entschieden. Er drückt alle seine Gedanken wie Axiome aus, d. h. wie selbstverständliche unleugbare Grundsätze. Damit gewinnt man aber viele Menschen leicht. Behauptet etwas nur ganz entschieden, und wäre es das Tollste, wenige werden dann zu zweifeln wagen. Wagner duldet keine Einrede. Was er sagt, das muß so und kann gar nicht anders sein. Wer einen Einwurf gegen ihn wagt, den erklärt er im Voraus für einen Schwachkopf und seinen Feind. Er drückt sich nämlich in seinem Vorwort zu seinen „drei Operndichtungen“ ungefähr so aus:

„Wer nicht meiner Meinung ist, versteht mich nicht.“

„Wer mich nicht versteht, ist mein Freund nicht und liebt mich nicht.“

„Wer mein Freund sein und mich lieben soll, muß eine ähnliche Denk- und Gefühlsweise haben, wie ich.“

„Er muß mich nicht mit dem reinen Verstand, sondern mit dem künstlerisch gebildeten Gefühle erfassen.“

Da er nun in seinen Schriften die Ueberzeugung kund giebt, daß er ein besseres Einsehen in die Kunst habe, als irgend ein menschlicher Geist je vor ihm gehabt, so könnt Ihr Euch wohl denken, daß er Leute gefunden, die sich für seine Freunde erklären, die ihn lieben wollen, denn dadurch beweisen diese erstens, daß sie ihn verstehen, zweitens, daß sie eine ähnliche Denk- und Gefühlsweise haben, wie er, drittens, daß sie ein künstlerisch gebildetes Gefühl besitzen, und daß sie demnach viertens die wenigen Glücklichen sind, die sich mit Wagner aus dem Pfuhle der gemeinen, frivolen Sinnlichkeit, in welchem die ganze übrige gegenwärtige Welt watet, emporheben. Wagner selbst räsonnirt aber oft über Andere in einer höchst verächtlichen und bitteren Weise.

Was sagt Ihr zu folgendem Pröbchen?

„Was Mendelssohn und Meyerbeer künstlerisch kundgeben wollen, kann nur das Gleichgültige und Triviale sein. Sie können den frühern Meistern nur sinnlos nachreden, und zwar ganz peinlich genau und täuschend ähnlich, wie Papageien menschliche Worte und Reden nachpapeln. Nur ist bei der nachäffenden Sprache dieser jüdischen Musikmacher eine besondere Eigenthümlichkeit bemerkbar, die der jüdischen Sprach- und Singweise. Den jüdischen Musikern bietet sich, als einziger musikalischer Ausdruck ihres Volkes nur die musikalische Feier ihres Jehovadienstes dar. Ihr einziger Quell, aus dem sie ihre ihnen verständliche, volksthümliche Motive für ihre Kunst schöpfen, ist die Synagoge. So daß uns jüdische Musikwerke oft den Eindruck machen, als wenn z. B. ein Goethe’sches Gedicht in jüdischem Jargon vorgelesen würde.

Ich brauche kaum zu bemerken, daß in seinen Schriften auch gute Gedanken vorkommen. Die sind zwar geistvoll und blendend ausgedrückt, in ihrem Kern jedoch durchaus nicht neu.

Dieser sonderbare Mann verschließt sein Auge für Alles, was unsere Zeit an Großem und Gutem hervorbringt, und öffnet es nur, wenn das Kleine und Schlechte an ihm vorüberzieht. Er will von seinen Zeitgenossen geliebt sein, und sagt ihnen mit größter Bitterkeit in’s Gesicht, daß er sie haßt und verachtet. Dennoch schreibt, dichtet und componirt er für sie. Freilich sagt er, nicht für sie, sondern für die Zukunft. Darüber wollen wir indessen hinweggehen.

Und doch – sollte er in späteren Jahren seine Irrthümer einsehen, daß er sie gedruckt in die Welt ausgestreut, wird er schwerlich bereuen. Seine Opern lagen lange Zeit wie schwer befrachtete Segelschiffe bei gänzlicher Windstille im Hafen fest gebannt. Da fuhr er mit seinen Schriften auf, und die erregten einen solchen Wind, daß seine kleine dramatische Flotte in Bewegung kam und jetzt mit vollen Segeln auf dem Meere des Ruhmes dahin schwimmt. Er wurde, wie ein Anhänger sich anders ausdrückt, „sein eigener Apostel“ und seitdem setzen seine Jünger das Geschäft unausgesetzt und mit dem besten Erfolge fort. Gewiß ist, daß noch nie über einen Künstler so viel geschrieben worden ist und fortwährend geschrieben wird, und daß ohne diesen die Neugierde immer mehr spannenden und die Aufmerksamkeit stets auf ihn fixirenden Journalrumor, gleichviel ob für oder gegen ihn, seine Opern gewiß ihre relative Bedeutung und Wirkung erhalten und behalten, schwerlich aber das Publikum so angezogen haben würden, als es gegenwärtig der Fall ist. Man kann nicht behaupten, aber man darf vermuthen, daß seine Dichtungen und Compositionen der Macht, der er sie eigentlich gewidmet haben will, der Zukunft nämlich, nicht als die unbedingt vollkommensten Leistungen erscheinen werden.

Wie dem auch sei, wir verlassen jetzt den Schriftsteller Wagner und wenden uns zu

Wagner dem Operndichter.

Da wird uns gleich besser zu Muthe. Da treffen wir auf einen Geist von herrlicher dramatisch-poetischer Begabung, die er namentlich in seinen Texten zum Tannhäuser und Lohengrin auf’s Unzweifelhafteste offenbart hat. Nicht daß wir seine Dramen für die unbedingt besten erklären wollten.

Die schwächste Seite an den Wagner’schen beiden Hauptopern scheint mir in den Charakteren seiner Personen zu liegen. Tannhäuser begeht vor unseren Augen fast nur Schlechtigkeiten. Wir erblicken ihn zuerst in den Armen der Venus vulgata, der gemeinen sinnlichen Liebe. Er entflieht ihr zwar, richtet aber, auf die Oberwelt zurückgekehrt, durch sein niedriges Benehmen am Hofe des Landgrafen die edle, reine Elisabeth, seine frühere Geliebte, zu Grunde. Seine Reue kann uns nicht mit ihm versöhnen, da er zuletzt wieder in den Venusberg zurück will. Wir wünschten, daß dieser elende Wollüstling, anstatt plötzlich zu sterben, von den Furien der Reue und der Verachtung aller redlichen Menschen noch einige Zeit gepeinigt würde, denn ein wenig rachsüchtig sind wir alle.

Was Lohengrin thut, ist auch nicht viel werth. Er kämpft für ein unschuldig angeklagtes Weib, doch stehen ihm übernatürliche Kräfte bei. Elsa ist reizend gezeichnet, kann aber in der Brautnacht ihre Neugierde nicht bezwingen, thut die ihr von Lohengrin verbotene Frage, und verliert von diesem Augenblick an unsere Theilnahme.

Sollen wir an den Thaten des Tannhäuser sehen, daß die gemeine Sinnlichkeit zum Verderben, an dem Benehmen Elsa’s, daß die Neugierde in’s Unglück führen kann, so wird gelehrt, was alle Menschen wissen, zurückgeschreckt von diesen Lastern und Fehlern wird durch die dramatische Darstellung derselben keiner, in dem die Neigung dazu vorhanden.

Es giebt aber noch andere Mittel des Interesses in den Dramen. Bedeutende, ungewöhnliche, großartige, rührende, spannende, furchterweckende Situationen.

Wenn Tell gezwungen wird, von dem Haupte seines Söhnchens einen Apfel zu schießen, so ist das eine schrecklicke Lage, und jeder Mensch, der ihr beiwohnt, muß auf das Tiefste davon ergriffen werden. Man braucht gar nichts Besonderes als Charakter dabei zu sehen, es genügt, daß Tell Vater ist. Weiß uns der Dichter nur die Situation, die Lage recht lebendig anschaulich zu machen, so kann eine bedeutende Wirkung nicht ausbleiben.

Diese Dichtergabe besitzt Wagner in hohem Grade. Er bringt seine Hauptpersonen, wenn nicht stets, doch oft in interessante Lagen, und wenn diese, etwa blos kurz und trocken erzählt, nichts Besonderes wären, so versteht er doch, sie durch die dramatische Ausführung so lebendig und wahrscheinlich darzustellen, daß wir im Augenblick der Anschauung wie an wirklich vorgehende Ereignisse glauben müssen.

Ein weiteres Mittel uns theatralisch zu interessiren, liegt in der Schilderung der Leidenschaften und Affekte. Nachdem Tell den Apfel geschossen, ahnt man, was in dem Busen dieses Mannes vorgehen muß. Als er nun nach der Frage des Landvoigts die bekannte Antwort herausdonnert, so empfinden wir den furchtbaren [243] Affect des Vaters, den Wuth- und Racheausdruck mit einem wahren Entzücken mit.

Auch diese Gabe besitzt Wagner in starkem Maße; er weiß die Gefühle und Leidenschaften seiner Personen so natürlich und anschaulich lebendig mit Worten zu zeichnen, daß wir sie mitempfinden und uns in sie versenken müssen.

So kann man von seinen Operntexten sagen: sie sind in Hinsicht der Charaktere schwach, oft psychologisch fehlerhaft, aber in den Situationen und Leidenschaften stark und gehören in letzteren Beziehungen unter die seltensten und allerbesten Opernbücher.

Daß diese beiden letzten Eigenschaften seiner Texte sehr bedeutend sind, kann man aus ihrer Wirkung schließen, da sie in Sagen- und Mythenstoffen erscheinen. Die allermeisten Stücke, in denen übernatürliche Wesen mitwirken, sind für unsere Zeit nur noch läppische Dinge für Kinder. Sie können keine Furcht für die Personen erregen, die wir lieben, denn wir wissen, daß der Zauberer oder die Fee die Gefahr schon zur rechten Zeit mit einer bloßen Handbewegung, oder mit dem Zauberstabe, oder mit irgend einer Beschwörungsformel beseitigen werden. Allerdings wissen wir das auch in Wagner’s Lohengrin. Aber wir kommen vor der wahr und lebendig dargestellten Situation, der Leidenschaft, oder beider zugleich nicht dazu, an jenes zu denken. Und das setzt eine große poetische Dichtungskraft voraus.

Wenn nun aber Wagner und seine Anhänger von einer Reinigung und besseren Richtung in seinen Operntexten sprechen, so kann das nur theilweise zugegeben werden, nämlich hinsichtlich der Situationen und Leidenschaften.

Von einer andern Seite betrachtet, ist er nichts weniger als ein glücklicher Reformator. Hat er etwa den äußeren Spektakel verbannt, und das Drama zu seiner edlen Einfalt zurückgeführt? Keinesweges. Er hat in seinem Rienzi, fliegenden Holländer, Tannhäuser und Lohengrin auf sinnliche Augenweide, blendende Theaterkontraste, Pomp der Aufzüge und Dekoration tüchtig losgearbeitet. Ja, wenn die Nachrichten über sein neuestes dramatisches Gedicht, die Niebelungen, die an drei Abenden hintereinander aufgeführt werden sollen, sich bestätigen, so grenzt das, was er darin an noch nie gesehenem Theaterspektakel aufstellt, an’s Fabelhafte, Unausführbare, und er überbietet also darin alles an Schauprunk bisher auf die Bühne Gebrachte in einer kaum geahneten Uebertreibung. Wer darin eine Reformation der Oper, eine Verbesserung, eine neue glücklichere Richtung der dramatischen Kunst finden will und kann, mit dem, liebe Leser, wollen wir uns in keinen Streit einlassen.

Wagner als Componist.

Man wirft ihm von mancher Seite her Mangel an schaffender Phantasie vor; er arbeite mehr mit dem reflektirenden Verstande. Nun, wenn man damit vieles von Dem, was Wagner in seinen Opern geleistet, leisten kann, so wünsche ich allen künftigen Componisten dieses Vermögen Wagner’s. Die Wahrheit scheint mir, daß er so viel Phantasie hat, wie nur irgend ein Sterblicher jemals gehabt und haben kann. Ach nein! Wenn Euch manches so erscheint, so kommt es nicht aus Mangel an schaffender Phantasie, sondern aus gewissen Principien, die er sich leider in den Kopf gesetzt hat, und nach denen er die Gaben seiner überaus feurigen Phantasie annimmt oder abweist. Kein echter Künstler läßt seine Phantasie beim Schaffen eines Kunstwerkes willkürlich walten, nimmt willenlos und ungeprüft alles an, was sie in ihrer Erregtheit bringt, er wählt aus und sichtet was er nach seinen Kunstmaximen und Ansichten für Recht und brauchbar hält. Aber was er für recht und brauchbar hält, darin kann er sich irren, und darin irrt Wagner sich nach der Meinung vieler wirklich, nach seiner und der Meinung Gleichgesinnter auch nicht. Man sagt ferner, er könne keine Melodien schaffen in der Art, wie sie bei Mozart, Beethoven, Weber und vielen andern frühern großen Meistern gefunden und mit großem Vergnügen gehört werden. Auch das ist nicht wahr, liebe Leser. Er kann sie bringen, er hat’s in einzelnen Fällen bewiesen. Wolfram’s Lied im Tannhäuser genügte als Beweis dafür, wenn er auch sonst dergleichen nicht gebracht hätte. Aber nach seinen neuesten Kunstansichten will er solche sogenannte populäre Melodie nicht mehr schaffen. Er hält sie nicht der Zukunft würdig. Er nennt sie absolute Musik, d. h. solche, wo die Melodie nicht mit dem Worte genau und wahr genug übereinstimmt. Das muß man bedauern, aber man darf ihm deshalb das Können dazu nicht absprechen.

Wagner verbannt ferner in seiner neuesten Richtung die gebräuchlichen Formen der Arie, des Duetts u. s. w., wie sie unsre frühern Meister gebraucht haben. Er setzt an deren Stelle meist das Recitativ, das deklamatorische und das Arioso, d. h. kleine melodische Phrasen blos.

Auch das hält Er und seine Jünger für wahrer, wirkungsvoller, der Zukunft würdiger. Ob er sich in letzterer Beziehung täuscht oder nicht, kann weder er noch wir mit Gewißheit behaupten, denn wir wissen nicht, was in der Zukunft Schooße schläft.

Ich denke, wenn Tamino: „Dies Bildniß ist bezaubernd schön“, wenn Max: „Durch die Wälder, durch die Auen“, Agathe: „Leise, leise“, Aennchen: „Kömmt ein schlanker Bursch gezogen“, Joseph: „In einem Thal bei armen Hirten“ u. s. w., u. s. w. singen, so empfinden wir Genuß, Vergnügen, Glück, obgleich diese Sachen Arien und Lieder genannt werden. Wir danken dem Schöpfer, daß er Menschen geschaffen, die uns diese Art von Musik haben machen können.

Was mir zuweilen Zweifel gegen die innerste Ueberzeugung Wagner’s und seiner Freunde hinsichtlich ihrer Prinzipien erregt, sind einige Widersprüche, die sie sich in einzelnen Fällen entwischen lassen.

Wagner will z. B. seine Musik nur für die Bühne berechnet haben, und protestirt gegen jede Aufführung einzelner Stücke daraus in Concerten. Er selbst aber hat Bruchstücke aus seinen Opern in Züricher Concerten vorgeführt, und auch seine Freunde thun es zuweilen.

Einen Hauptdrucker, womit man seiner Musik eine über alle andern Tonmeister hinwegragende Vollkommenheit beimißt, stellt man in der Phrase auf: „Wort und Ton sei in seiner Musik so innig mit einander verbunden, daß die Trennung beider Elemente gar nicht möglich sei, ohne sie zu zerstören. Eines ohne das Andre sei nichts. Beide verbunden das Höchste, was Poesie und Musik zusammen leisten könnten.“

Wenn das der Fall ist, wie kann es Wagner dann einfallen, seine Operntexte für sich drucken zu lassen und der Welt zur Lektüre mitzutheilen. Da ist doch die Musik vollständig von dem Wort getrennt? Und wenn seine Musik, von dem Wort getrennt, für sich nichts ist, wie konnte er dann, um nur ein Beispiel anzuführen, die Ouverture zum Tannhäuser so schreiben, wie er sie geschrieben hat? Sie ist aus lauter Musikgedanken zusammengesetzt, die in der Oper mit dem Wort verbunden waren, und hier, von dem Wort losgelöst und vollständig getrennt, als Musik für sich gelten und wirken sollen?

Daß Wagner Meyerbeer, Berlioz und alle neuen Opernconponisten der falschen Anwendung der Mittel nur um des äußern Effekts willen bitterlich anklagt und verächtlich behandelt, ist bekannt. Und doch wendet Wagner die Orchesterinstrumente in noch viel stärkerer Zahl und Besetzung – es heißt auf dem Theaterzettel: „mit verstärktem Orchester!“ – und in noch weit zahlreichern Momenten seiner Opern an, als irgend einer der geschmähten Componisten vor und neben ihm!

Wer von Euch, liebe Leser, eine Wagner’sche Oper gehört, wird wenigstens das zugeben, daß Meyerbeer keine stärkeren Ansprüche an Eure Nerven macht als Wagner. – Sollten zukünftige Generationen stärkere Nerven und einen robusteren Geschmack als die Gegenwart haben? Sollten jene nach vierstündiger starker Musik, wie sie Lohengrin bietet, nicht auch physisch und geistig ermattet sein, wie die Meisten von uns es sind?

Daß Wagner’s Opernmusik eine Menge Schönheiten erster Art enthält, wäre lächerlich, besonders aussprechen und beweisen zu wollen. Die vollen Häuser, die sie in der Regel macht, reden besser dafür als alle Lobphrasen. Es muß also in seinen Werken viel des Gefallenden und Anziehenden liegen. So erkennen wir das mit Dank an, und suchen wir uns durch immer nähere Bekanntschaft damit anzueignen, was unserer Natur genehm ist. Aber hüten wir uns, über den neuen Künstler die alten zu vergessen, zu vernachlässigen oder gar zu verachten. Die Wagner’sche Musik ist in dem großen Garten der Kunst eine eigenthümliche Pflanze, aber nicht die einzige, die des Beschauens werth wäre. Es giebt noch viele andere. Erhalten wir uns den empfänglichen Sinn für Alle.

[244]
Nahrungsmittel.
Fleisch.

Fleisch macht Fleisch, giebt Kraft und Muth, und ist nach der Milch (s. Gartenlaube Nr. 12) das nahrhafteste Nahrungsmittel (s. Gartenlaube Jahrgang I. Nr. 39), weil es fast alle die Stoffe in sich enthält, aus denen unser Blut und unser Körper zusammengesetzt ist (s. Gartenlaube Jahrgang I. Nr. 32). Natürlich meinen wir damit das Fleisch der höheren Thiere, vorzugsweise pflanzenfressender Säugethiere. Denn die Menschen genießen ja auch das weniger nahrhafte Fleisch der Krebse, der Schnecken und Muscheln (Austern), sie verzehren ferner Käfer und Heuschrecken, Ameisen, Raupen und Puppen, Spinnen, Würmer, Seeigel, Quallen und selbst Infusionsthierchen. Die letzteren finden sich nämlich in den Erdarten (wie im Bergmehl), welche von manchen Völkern, besonders in Zeiten der Noth, genossen werden. Viele ungebildete Völker verschmähen es sogar nicht, das Ungeziefer ihres eigenen Leibes zu verspeisen; die Indianer am Missouri, die Neger und Hottentotten essen die Läuse, die sie auf Anderer Köpfen finden; die Bewohner der Fuchsinseln, die Indianer am La-Plata, die Bewohner Neuseelands u. a., besonders aber die Buschmänner und ihre Frauen treiben diese kleine Jagd mit großem Eifer, und letztere reichen gewöhnlich die fettesten ihrer Flöhe und Läuse ihren Männern und Kindern als besten Bissen. – Am Fleische, was wir verzehren, kommt hauptsächlich Zweierlei in Betracht, nämlich das Faserige (die Muskelfasern) und der Fleischsaft, welcher sich zwischen den Fasern befindet. Auch dient das im Fleische außerdem noch vorhandene zellige und sehnige Gewebe, das Fett, die Gefäße, Nerven und das Blut ebenfalls mit zur Blutbildung und Ernährung. Im Wesentlichen hat das Fleisch aller Thiere dieselbe Zusammensetzung, nur die Mengenverhältnisse der einzelnen Bestandtheile und die Eigenschaften der Fasern wechseln und darauf beruht die verschiedene Nahrhaftigkeit und Verdaulichkeit der verschiedenen Fleischarten. Die mannigfaltigen Unterschiede im Geschmacke lassen sich zur Zeit noch nicht erklären.

Die Fleisch oder Muskelfasern bestehen aus einer dem Faserstoffe ganz ähnlichen und Kalkphosphat enthaltenden Eiweißsubstanz (Muskelfaserstoff, Syntonin) und sind bei verschiedenen Thieren (vorzüglich nach dem Alter und der Art derselben) insofern verschieden, als sie dicker oder dünner, weicher oder fester, röther oder blässer, feuchter oder trockener, sowie durch mehr oder weniger lockeres oder festes Zellgewebe unter einander vereinigt sein können. Von dieser verschiedenen Beschaffenheit der Fasern hängt zum Theil die größere oder geringere Nahrhaftigkeit, die leichtere oder schwerere Verdaulichkeit des Fleisches ab. Leider werden nun aber die Fleischfasern nur theilweise verdaut, denn ein großer Theil derselben wird vom Magen- und Darmsafte nicht aufgelöst, sondern geht unverdaut mit dem Stuhle wieder ab und deshalb ist der Nahrungswerth, sowie die Verdaulichkeit des Fleisches geringer, als die chemische Zusammensetzung desselben erwarten läßt. Je weicher und lockerer die Fleischfasern entweder bei Thieren von Natur sind oder durch die Zubereitung des Fleisches gemacht werden, desto mehr lassen sich davon verdauen. Im Fleische junger Thiere sind die Fasern weit löslicher, als in dem alter Thiere, wo die Fasern fester und kalkreicher sind. Durch längeres Liegen des Fleisches im Essig, wobei die Kalksalze zum Theil ausgezogen werden, lassen sich die Fleischfasern löslicher machen. Auch läßt sich dies dadurch bewerkstelligen, daß man das Fleisch einige Tage an die freie Luft hängt, wodurch ein schwacher Zersetzungsproceß eingeleitet wird und wobei die freie Säure im Fleische sich mehrt. Saure Milch oder zugesetzte Milchsäure wirken auf ähnliche Weise. Ausgekochtes, seiner löslichen Bestandtheile beraubtes Fleisch ist, der Unlöslichkeit seiner Fasern wegen, ein schlechtes Nahrungsmittel, auch macht das Räuchern, Einpöckeln, Dörren (Bukaniren) die Fleischfasern fester und unverdaulicher. Von wesentlichem Einflusse auf das langsamere oder raschere Zerfallen des Fleisches im Magen ist auch die Breite der Fasern; die von älteren Thieren, welche zum Theil doppelt so breit sind, als die von jüngeren, brauchen gewöhnlich 1 bis 2 Stunden länger zu ihrer Verdauung. Das gekochte oder gebratene Fleisch wird im Allgemeinen schneller (um eine halbe bis ganze Stunde) verdaut, als das rohe, weil der Magensaft mit größerer Leichtigkeit in die Zwischenräume der Fasern dringt, diese von einander trennt und zum Theil (niemals aber vollständig) auflöst.

Die Fleischflüssigkeit, der Fleischsaft, welcher die Zwischenräume zwischen den Fasern ausfüllt, ist eine Flüssigkeit von sehr zusammengesetzter Natur, dem aber das Fleisch einen großen Theil seiner nährenden Eigenschaften verdankt, in dem ferner der eigenthümliche Geschmack und Geruch des Fleisches beruht. Der Hauptbestandtheil dieser Flüssigkeit ist Wasser und Eiweiß (und Käsestoff), außerdem enthält sie aber noch eine Menge von Stoffen aufgelöst, welche zur Zeit durch die Chemie noch nicht ganz genau erforscht sind und auch als Extraktivstoffe bezeichnet werden. Man entdeckte nämlich darin: zwei organische Säuren, die Milch- und die Inosinsäure (Fleischsäure); letztere scheint die Ursache des eigenthümlichen Geschmackes der Fleischbrühe zu sein; auch Buttersäure wurde im Ochsenfleische gefunden; ferner fand man zwei krystallisirbare organische Stoffe, das Kreatin (Fleischstoff) und das Kreatinin (Fleischbasis), sodann Inosit (Fleischzucker), phosphorsaures Alkali und Chlormetalle nebst phosphorsaurer Kalk- und Talkerde, sowie Eisen. Kurz die Fleischflüssigkeit, welche man auch als Fleischbrühe durch Kochen dem Fleische entzieht, steht seiner Zusammensetzung nach der Milch und dem Blute ziemlich nahe und ist deshalb nicht blos ziemlich nahrhaft, sondern auch weit verdaulicher als die Fleischfasern. Je saftiger demnach das Fleisch, desto tauglicher zur Ernährung ist dasselbe. Das Fleisch junger Thiere hat einen größern Gehalt an Fleischsaft, als das älterer Thiere, nur ist derselbe ärmer an solchen Stoffen, welche das Fleisch kräftig schmeckend machen. Für eine zweckmäßige Zubereitung des Fleisches ist das Eiweiß des Fleischsaftes von großer Wichtigkeit (s. unten).

Die verschiedenen Fleischarten zeigen Unterschiede theils hinsichtlich ihrer chemischen Bestandtheile, theils in Bezug auf die physikalischen Eigenschaften ihrer Fasern und deshalb ist das eine Fleisch nahrhafter oder verdaulicher als das andere. – Das Fleisch junger Thiere ist weniger blutreich, seine Fasern sind dünner, weicher und leichter löslich, aber weniger zahlreich; der Fleischsaft enthält mehr Wasser und Eiweiß, aber weniger Inosinsäure, deshalb ist dieses Fleisch leichter verdaulich, aber weniger nahrhaft und von minder kräftigem Geschmacke als das älterer Thiere. – Das Fleisch der Säugethiere, welches am meisten als Nahrung dient, hat im Allgemeinen eine sehr wenig schwankende Zusammensetzung; der Wassergehalt desselben ist fast stets 77 bis 78 pr. C., die Zahl der Fleischfasern im Mittel 16 pr. C., die des Eiweißes 2 pr. C. und ebensoviel die des Leims, welcher aus dem den Fasern beigegebenen zelligen und sehnigen Gewebe stammt; der Fettgehalt dagegen ist sehr schwankend. Das Fleisch der wilden pflanzenfressenden Thiere, das sogenannte Wildpret, soll reicher an Blut und an Extraktivstoffen (besonders Kreatin und Inosinsäure) sein, als das der Haussäugethiere und deshalb dunkler aussehen und einen würzigeren Geschmack haben. Daß die Art der Nahrung auf die Beschaffenheit des Fleisches und besonders des Fettes großen Einfluß hat, zeigt sich bei der verschiedenen Fütterung der Thiere ganz deutlich; auch weiß man, daß Thiere, welche in bergigen Gegenden gewürzhafte Kräuter fressen, ein schmackhafteres Fleisch liefern, als solche, die in sumpfigen Gegenden weiden. Merkwürdig und noch unerklärlich ist, daß Thiere, die künstlich (durch Castration) zur Fortpflanzung unfähig gemacht (durch Ausschneiden der Hoden oder Eistöcke), ein zarteres, feinfaseriges und schmackhafteres Fleisch bekommen. Durch Jagen, Hetzen, Peitschen der Thiere wird das Fleisch ebenfalls saftiger und zarter. – Das Fleisch der Vögel, besonders das älterer Thiere, ist trockner und ärmer an flüssigen Bestandtheilen, jedoch reicher an Eiweiß und Extraktivstoffen als das der Säugethiere. Am zartesten ist im Allgemeinen das Fleisch der gezähmten Hühnervögel, während das röthere und bluthaltigere Fleisch wilder Vögel fester und reicher an Extraktivstoffen ist. Das Fleisch der Schwimm- und Sumpfvögel zeigt sich in der Regel hart und von thranartigem [245] Fette durchzogen. Daß wie bei den Säugethieren auch bei den Vögeln die Art der Fütterung und die Kastration Einfluß auf die Beschaffenheit des Fleisches haben, sieht man deutlich an gemästeten Gänsen und Hühnern, an Kapaunen und Poularden. Gewöhnlich ist bei Vögeln das Fleisch, welches vorherrschend thäthig sein muß, fester und zäher, also bei Vögeln, welche vorherrschend fliegen, das Fleisch der Brust und Flügel, bei solchen dagegen, die mehr laufen, das Fleisch der Beine. – Das Fleisch der Amphibien (Schildkröten, Krokodile, Frösche) ist weiß, wässrig, zart und leicht verdaulich, aber weniger nahrhaft als das Fleisch der Säugethiere und Vögel. – Das Fisch-Fleisch ist weiß, blutarm und in der Regel bei weitem wasserreicher als das Fleisch der Säugethiere und Vögel, sowie die Menge seiner Fleischfasern verhältnißmäßig gering; dagegen ist Eiweiß reichlich darin vorhanden. Die verschiedenen Arten der Fische unterscheiden sich hauptsächlich durch den größern oder geringern Fettgehalt von einander und werden dadurch mehr oder weniger gut verdaulich. Uebrigens ist das Fleisch derselben auch nach der Art der Fische, den Körperstellen, der Zeit des Einfangens (vor dem Laichen), dem Geschlechte und sogar nach der Kastration in Etwas verschieden. – Das Fleisch der Krustenthiere (Krebse, Garnele) ist weiß und fest, nicht sehr nahrhaft und schwerer verdaulich. – Das Fleisch der Austern besteht fast nur aus Eiweiß und ist deshalb weder so nahrhaft, noch so verdaulich als man gewöhnlich glaubt.

Die Zubereitung des Fleisches ist ebensowohl in Bezug auf die Nahrhaftigkeit wie Verdaulichkeit desselben von großer Wichtigkeit. Am nahrhaftesten und verdaulichsten ist das Fleisch, wenn alle seine nahrhaften Bestandtheile darin zurückgehalten werden und dies läßt sich nur durch das Braten erreichen, weil sich hier durch die Hitze am schnellsten im Umfange des Fleisches (unterstützt durch Begießen mit Fett) eine Kruste bildet, welche das Herausdringen des Fleischsaftes verhindert. Da nun flüssiges Eiweiß durch die Hitze fest wird (gerinnt) und geronnenes Eiweiß weit schwerer verdaulich ist als flüssiges, die Fleischfasern durch starke und länger einwirkende Hitze (wie beim Rösten und Backen) trockner und härter werden, so darf das Braten, wenigstens kleinerer Fleischstücke, nicht zu lange fortgesetzt werden und in nicht zu hoch gesteigerter Hitze geschehen, wenn das Fleisch leichter verdaulich bleiben soll. Kleine Stücke können eigentlich nur durch rasches und kurzes Eintauchen in sehr heißes Fett saftig gebraten werden (Beefsteaks). Bei großen Fleischstücken dringt die Hitze nach dem angewandten Temperaturgrade mehr oder minder tief und vollständig ein und veranlaßt so einen verschiedenen Grad von Gerinnung des Eiweißes und Blutes, weshalb der Braten nach Innen zu stets saftiger und röther (blutiger) gefunden wird. Die Bratenbrühe (Sauce) besteht aus durch die Hitze braun gewordenem Fleischsafte und brenzlich-aromatischen Stoffen, die sich, theils aus Materien des Fleischsaftes, theils aus dem Fettübergusse bildeten. Ein richtiger Braten darf gar keine Sauce geben. – Durch das Kochen (wobei die Fleischfasern stets etwas härter werden) läßt sich nur dann ein saftigen, nahrhaften Fleisch herstellen, wenn man wie beim Braten im Umfange desselben eine Rinde zu bilden sucht, welche das Herausdringen des Fleischsaftes verhindert. Dies ist aber dadurch möglich zu machen, daß man Fleisch (in größeren Stücken) sogleich in siedenden Wasser und in starke Hitze (volles Feuer) bringt, damit das Eiweiß des Fleischsaftes unter der Oberfläche des Fleischstückes gerinnt und jene Rinde bildet, durch welche die Hitze wohl noch eindringt und das Fleisch gahr macht, die aber den Fleischsaft nicht heraus läßt. Die dabei entstehende Fleischbrühe ist freilich äußerst arm an Fleischbestandtheilen, enthält jedoch immer noch etwas Fleischsaft. Es ist aber auch ganz unmöglich, beim Kochen aus dem Fleischstücke ebensowohl ein saftiges Fleisch wie eine kräftige Fleischbrühe zu gewinnen, hier heißt es: entweder – oder; entweder gutes Fleisch und schlechte Brühe oder gute Brühe und schlechtes Fleisch. Eine kräftige Fleischbrühe läßt sich nämlich nur dadurch herstellen, daß man allen Fleischsaft aus dem Fleische auszuziehen sucht, so daß endlich nur noch die trockenen Fasern übrig bleiben. Dies ist dadurch zu erreichen, daß das Fleisch (in kleineren Stücken) in kaltes Wasser und ganz allmälig zum Kochen gebracht wird. Hier dringt das Wasser in das Fleisch ein und laugt dasselbe aus. Beim Kochen gerinnt dann das ausgezogene Eiweiß und wird theilweise abgeschäumt; dafür löst sich aber auch noch ein Theil der Muskelfasern auf und das Zellgewebe verwandelt sich zu Leim (Gallerte), so enthält dann die Fleischbrühe alle die organischen und unorganischen, schmackhaften und nährenden Bestandtheile des Fleisches; das übrig gebliebene ausgelaugte Fleisch stellt aber eine fade, unverdauliche, fast geschmacklose faserige Masse dar, in welcher nur die phosphorsauren Erden zum Theil noch verbleiben. Eine auf diese Weise mit wenig Wasser bereitete Fleischbrühe (Kraftbrühe) ist äußerst nahrhaft, wie auch sehr leicht verdaulich und deshalb bei schwacher Verdauung dem besten Fleische vorzuziehen. Die Bouillontafeln, welche sehr oft zur Bereitung von Fleischbrühe benutzt werden, bestehen dagegen hauptsächlich aus Leim (Gallerte), sind sonach von dem wahren Fleischextracte wesentlich verschieden und keineswegs geeignet, dasselbe zu ersetzen. Der Wohlgeschmack der Fleischbrühe wird übrigens durch Zusatz von Säuren (Milch- und Citronensäure), sowie von Kochsalz merklich entwickelt und pikanter. – Das Dämpfen des Fleisches (in einem verschlossenen Gefäße mit wenig Wasser auf dem Boden) ist ein Mittelweg zwischen Braten und Sieden, indem dabei das Weich- und Gahrwerden desselben durch die Einwirkung des Dampfes erfolgt, von dem das Fleisch umgeben ist, ohne daß es aber bedeutenden Verlust an Saft erleidet. Gedämpftes Fleisch ist deshalb nahrhafter und saftiger und verdaulicher, als gekochtes, steht aber dem gebratenen Fleische etwas nach. Wird beim Dämpfen zugleich Butter, Schmalz, fettes Oel u. dgl. angewendet, das Fleisch also geschmort, so wird ebenfalls das Fleisch saftig erhalten. – Durch Einsalzen (Einpökeln), verliert dasselbe stets an Nahrhaftigkeit, weil in die Salzlacke, besonders wenn dieselbe oft erneuert wird, ein großer Theil des Fleischsaftes übergeht. Auch die Verdaulichkeit des Fleisches leidet dabei, weil seine Fasern trockner und härter werden. – Geräuchertes Fleisch ist zwar nahrhaft, da es alle seine guten Bestandtheile behalten hat, jedoch weit unverdaulicher als frisches Fleisch, weil seine Fasern hart und trocken geworden sind.

Nahrhaftigkeit und Verdaulichkeit des Fleisches. Der Nahrungswerth des Fleisches ist doch nicht so groß, als man der Menge seiner ernährenden Bestandtheile nach meinen sollte und zwar deshalb, weil der größte Theil derselben in den Fasern enthalten ist, die immer nur theilweise verdaut werden. Was sonach die Fleischfasern löslicher macht, erhöht die Nahrhaftigkeit des Fleisches (s. oben); sonach die Maceration in Essig, das Aushängen an die frische Luft, sowie das längere Liegen in höchst verdünnter Natronlauge (1 Th. in 8500 Th. Wasser); auch das Zerschneiden des Fleisches in sehr kleine Stücken beim Essen und das vollkommene Zerkauen desselben unterstützt die Löslichkeit der Fasern innerhalb des Magens. Sodann wird aber auch diejenige Zubereitungsweise, durch welche der wenigste Fleischsaft verloren geht und die Fasern lockerer in ihrer Verbindung werden, dem Fleische seine Nahrhaftigkeit am besten erhalten können; deshalb ist das Braten und Dämpfen dem Kochen vorzuziehen und letzteres sollte nur so geschehen, daß das Fleisch sogleich in siedendes Wasser und starkes Feuer, aber nicht lange, gebracht wird. – Was die Verdaulichkeit des Fleisches betrifft, so hängt diese, wie schon gesagt wurde, ebenfalls von der Beschaffenheit und Zubereitung desselben ab. Gebratenes, gedämpftes und gut gekochtes Fleisch ist verdaulicher, als rohes, eingepökeltes und geräuchertes. Das Fleisch junger Thiere wird schneller verdaut, als das älterer; Wildpret ist verdaulicher als das Fleisch der Hausthiere. Mit zu viel Fett durchdrungenes Fleisch ist weniger gut verdaulich, als mageres, weil durch das Fett das Eindringen des Magensaftes zwischen und in die Fasern erschwert wird. Was die Fleischarten betrifft, so folgen dieselben in Bezug auf Verdaulichkeit so aufeinander: Fleisch der Vögel, Säugethiere, Fische, Amphibien, Krebse und Austern. – Auch die Art des Schlachtens der Thiere ist auf die Beschaffenheit des Fleisches nicht ohne Einfluß; je mehr Blut dabei im Fleische bleibt und je lockerer die Fasern dadurch werden, desto nahrhafter und verdaulicher ist das Fleisch, wie sich beim Abstechen, Schlagen, Jagen u. s. w. deutlich zeigt.

NB. Daß civilisirte Menschen das Fleisch der Pferde, Kaninchen, Katzen, Hunde, Ratten u. s. w. so wenig zu ihrer Nahrung anwenden, und zwar nur eines dummen anerzogenen Ekels wegen, und dafür lieber bei Kartoffeln langsam verhungern, zeigt von keiner großen Civilisation.
(Bock.) 
[246]
Nach Tarasp.
Von Dr. L–n.
(Schluß.).


Die Reiselust der Engadiner. – Keine Bettler. – Die romanische Sprache. – Ein Wortbruch und das Schweigen der Lerchen. – Süs. – Schloß Tarasp. – Die Mineralquellen.

Mit der Abneigung des Engadiners gegen Neuerungen, scheint seine früher mehr gepflegte Lust zu ausländischen Kriegsdiensten, seine auch jetzt noch vorhandene Reisesucht gewissermaßen in Widerspruch zu stehen. Wie ehemals Tausende vom Kriegsdienste in die Ferne gelockt wurden, so wandert jetzt die Hälfte der männlichen Jugend in Folge des von Alters her im Volke schlummernden unwiderstehlichen Reisetriebs über die Berge und verbreitet sich mit der oben besprochenen Industrie über ganz Europa, während ihr einheimisches Thal fast gar keine Industrie kennt. Der Engadiner bewirthschaftet sogar die ergiebigen, ausgedehnten Alpen auf beiden Seiten des Thales nur selten selbst; sie sind an herumziehende Bergamascerschäfer, einem kühnen, kräftigen Menschenschlage aus dem Seriana- und Brembanathal an der italienischen Seite der Alpen verpachtet. Nur der Wiesencultur, neben dem nicht bedeutenden Getreidebau, wird noch eine gewisse Sorgfalt gewidmet, und zwar von den Frauen, deren schwarze Gestalten man schon frühe am Tage, ehe die Sonne noch über die Berge herübergestiegen, an den Abhängen stehen sieht, mit der Schaufel zum Oeffnen und Schließen der zahlreichen kleinen Kanäle, um das von weitem hergeleitete Wasser bald nach dieser, bald nach jener Rinne fließen zu lassen.

Auf den Bergen wird nach uralter Weise die Alpenwirthschaft geführt; und alles Andere überläßt der Engadiner dem Himmel oder fremden Händen, welch letztere ihn denn auch von seinen großen Waldungen befreien, um sie in den Salzwerken bei Innsbruck verschwinden zu lassen. Seine eigenen nicht unergiebigen Hüttenwerke liegen seit Jahren in Trümmern. Was unter solchen Umständen mit Recht erwartet werden könnte, ist eine zunehmende Verarmung und Erniedrigung, wie man sie wohl in manchen andern Gebirgsthälern bei ähnlichen Verhältnissen findet. Auffallenderweise täuscht man sich indessen hier vollständig in dieser Voraussetzung und stößt auf einen verhältnißmäßigen Wohlstand. Das wohlthuendste Zeichen desselben ist der Mangel an Bettlern. Die Leute sind nicht träge und liederlich; die Thätigkeit und Rührigkeit richtet sich nur in alter Gewohnheit nach der Fremde und sucht außer dem Lande einen Spielraum, den das stille abgelegene Alpenthal nicht gewähren kann. Manchen freilich ist auch draußen das Glück nicht hold, sie gehen zu Grunde; andere aber tragen die Früchte ihres Fleißes als Hauptquelle des neuen Wohlstandes in das heimathliche Dorf zurück. Aber eben der Umstand, daß der thätige Theil der Bevölkerung frühe das Weite sucht, erklärt einmal den wirklichen Mangel mancher Orte an jüngern Leuten, sodann die Fortdauer der alten Zustände, zu deren Bekämpfung die jüngeren Kräfte fehlen, die älteren, der Ruhe bedürftig, nicht mehr geeignet und geneigt sind.

Sollte man nach allem Diesen in dem Engadiner hervorstechende Charakterzüge eines eigenthümlichen Menschenschlages erwarten, so würde man sich auch hierin täuschen. Der ursprünglichen rhätischen Bevölkerung haben sich im Laufe der Jahrhunderte so viele andere Elemente beigemengt, so viele fremde Einflüsse haben eingewirkt, daß bestimmtere unterscheidende Züge verschwinden mußten, will man nicht die etwas scharfen Gesichtszüge und die ziemlich dunkle Farbe von Haut und Haar hierher rechnen. Nur die Sprache hat den rhätischen Ursprung treu überliefert, wie sie denn überhaupt so oft alle übrigen Stammesmerkmale überlebt. Das in 140 Gemeinden Graubündens vom Volke ausschließlich gesprochene Romanische ist wohl für einen selbstständig gewordenen Zweig der alten lateinischen Sprache zu halten. In ihm selbst aber giebt es zwischen der Mundart des Engadins, der lateinischen und der Rheinthäler nicht unbedeutende Abweichungen, die bei der ersteren in dem Vorwalten neuitalienischer Formen und Biegungen, bei der letztern in dem Zurücktreten derselben und der größeren Einmischung deutscher Stammworte begründet sind. Dem Ohre des Laien klingt das Romanische wie ein Gemisch französischer und italienischer Stammworte mit umgeänderten Vokalen, eingeschobenen Zischlauten und betonten Endsylben. Merkwürdig bleibt es immerhin, wie diese Volkssprache sich so lange gegen das Heranbringen des Deutschen und des Italienischen halten konnte. Neuerdings macht jenes als Unterrichtssprache in den seit fünfzehn Jahren sehr verbesserten Schulen immer mehr Fortschritte, und wird selbst in Engadin allgemeiner verstanden.

Der Weg bis Süs ist eine wilde Thalenge, über die links die grauen und eisigen Riesenhäupter des Scaletta und Fluela, die steilen Felspyramiden der Piz Grimpatsch und Gotschan hereinschauen. Die nähern Hügel krönen die Trümmer alter Burgen und Befestigungen; auf Caschinnas aus hohen Tannen ragen malerisch die Ruinen von Fortezza sura. Eine bedeutungsvolle Sage hat sich an ihr verfallendes graues Gemäuer geknüpft und erhalten. Die aufgebrachten Einwohner hatten dem abziehenden Zwingherrn des Schlosses Sicherheit zugesagt, aber gegen ihr Versprechen ihn doch erschlagen. Seitdem sollen die Lerchen nicht mehr singen an der Stelle des Wortbruchs. Auch dem Gegner Wort zu halten, lehrt die Volkssage. Wie selten müßte der Lerchensang werden, wäre es mehr als eine schöne poetische Sage, die aber ihren Erfindern alle Ehre macht!

Süs ist durch ein im Jahre 1537 hier gehaltenes Religionsgespräch bekannt, in Folge dessen bis auf geringe Ausnahmen ganz Engadin die Reformation annahm, um sie in ihrer ernstesten calvinistischen Gestalt und nicht ohne zahlreiche Blutzeugen festzuhalten. Der begeisterte Geschichtsschreiber seines Vaterlandes, Ulrich Campell, ist hier geboren. In schöner Thalweide liegt Lavin mit stattlichen Zuckerbäckerpalästen an der Mündung des Lavinnozthals. Hinten im Thale ragt die prächtige Pyramide des Piz Linard in die Wolken, bis 11,400 Fuß über dem Meere. Was den mehr kalten als lieblichen Ernst der Landschaft noch erhöht, ist die dunkle Tracht der begegnenden Engadinerinnen. Der vormals scharlachrothe in kleine Falten gelegte Rock der Weiber dieser Gegend hat allmälig dem Schwarz oder Dunkelblau Platz gemacht, wie es in Tyrol und in andern Thälern Graubündens vorherrscht. Auch den Kopf verhüllt ein schwarzes hinten herabhängendes Tuch; und fast will es uns bedünken, als sei der Ernst der düstern Kleidung auch auf die Züge der Trägerinnen übergegangen, die man selten heiter und lachend trifft. Durch den allgemeinen Gebrauch des Schwarzen hat dieses aber nun seine Bedeutung als Trauerfarbe verloren und als solche treten denn bunte Farben auf. So wird in der Gegend von Tarasp bei Leichenzügen der Sarg mit einem weißen Tuche bedeckt, rothe Bänder schmücken ihn und die nächsten Leidtragenden.

Guten Muthes schritten wir durch den sonnigen Herbsttag über die steile Höhe von Guarda, die uns 5200 Fuß über das Meer erhob, auf Ardetz zu. Alle diese Orte theilten in jenem für das Engadin so verhängnißvollen Jahre 1622 das gleiche Schicksal, durch die Brandfackel des Obersten Baldiron bis auf den Grund niedergebrannt zu werden. Mit Ausnahme zerfallener Schloß- und Thurmreste und einzelner Landwehren zum Abschluß des Thales begegnet man daher nur Gebäuden, wie sie die Kunst und Sitte des siebzehnten Jahrhunderts und die gebieterische Forderung eines langen Winters hervorgebracht. Schon bei Lavin, wo rechts das Thal Zezeina zum waldigen Gebirge führt, links vom rauhen Fermunt herab das Val Tuoi in seinem Hintergrunde ausgedehnte Schneefelder und Gletscher erblicken läßt, wurden wir des Zieles unserer Wanderung ansichtig. In klarstem Umrisse erhob sich aus der Thaltiefe, von höheren Gebirgen überragt, ein conischer Hügel, seine Spitze von einem weitläufigen, fast vollständig erhaltenen Schlosse gekrönt. Es ist Tarasp auf der südlichen Seite des Thals und die wilden Abgründe des Inns beherrschend. Eigenthümlich wie Gegend und Geschichte des Ortes ist der Zugang zu demselben. Wollten wir nicht noch einige Stunden thalabwärts auf langem Umwege uns nähern, mußten wir bei dem auf sonniger Halde gelegenen Ardetz mit seiner schönen Kirche und den Trümmern des festen Schlosses Reinsberg an der brausenden Tasna über den Inn, um auf kaum sichtbarem Wege uns am felsigen Ufer entlang über die Ausläufer des Pisoc hinzuwinden. Die nicht unbeschwerliche Wanderung wird aber reichlich gelohnt. Ueber den Abstürzen des Inns auf der untern bewohnten [247] Stufe des Abhangs, der sich an die ausgedehnte Masse des Buffalora anlehnt, blitzen hie und da zwischen steilen buschigen oder begrasten Hügeln kleine weiße Häuschen hervor; oben schließt dunkler Wald zwischen grauen nackten Felsenspitzen, bis eine Wendung des Wegs uns an das Kirchdorf Tarasp führt und zugleich den Blick auf die wilde Scenerie tiefer Schluchten und nackter Berghäupter öffnet. Diese nahe Berührung reizender grüner Striche, dunkler Thäler und Wälder mit den höchsten wildesten Gebirgen voll ewigen Schnees und Eises macht einen unbeschreiblichen Eindruck. Die Natur hat diesem Orte seine Geschichte vorgezeichnet. Vornen begrenzt die tiefe waldige Schlucht des Inns; nach beiden Seiten wilde Thalrisse, die zum Plafna- und Scarlthal führen, am Fuße der gewaltigen Felsmasse des Piz Pisoc[WS 1], der seine riesigen Spitzen bis 10,597 Fuß in die Wolken erhebt. Die einzige Kirchgemeinde auf der einsamen schattigen Südseite des Thals, von der Thalstraße und ihrem Verkehre fast abgeschnitten, ist Tarasp nur auf zwei beschwerlichen Wegen nicht ohne Mühe zugänglich. Zudem ist es das einzige deutschredende Dorf im Engadin, und als dessen Bewohner alle sich der Reformation zuwandten, dem alten Glauben treu geblieben. Unter dem Schutze des mächtigen Schlosses, das allein im ganzen Thale fast unverändert die Stürme der Zeit und der Menschen überdauert, blieb dieses Fleckchen Land durch Jahrhunderte meist ungestört. Im übrigen Thale wurden Parteistreite geführt, für die Unabhängigkeit von größeren Fürsten und kleineren Zwingherren gekämpft; der Versuch von Mailand aus das verlorene Thal dem römischen Glauben zurückzuerobern, tränkte seine grünen Matten mit Märtyrerblut, ließ seine friedlichen Dörfer in Schutt legen. Von allem Diesen blieb Tarasp unberührt. Der Stammsitz der alten Herren von Tarasp, im dreizehnten Jahrhundert an die Grafen von Tyrol, dann von Dietrichstein gekommen, war es dadurch mit seinem wie eine Insel umschlossenen Dorfe und kleinen Gebiete bis in dieses Jahrhundert herein unter österreichischer Herrschaft gewesen, im Jahre 1816 erst durch Tausch an die Schweiz gekommen. Von dem Schieferfelsen des Schlosses herab wurden die letzten Reste von Herrschaftsrechten im Graubündner Lande geübt. Bis zum Jahre 1815 bewohnt, schaut es mit seinen gewaltigen Mauerwänden von einer Reihe weitläufiger Nebengebäude umgeben, malerisch aus dem Grün der umgebenden Berge von seinem grauen, zum Theil überhängenden Felsen; am Berge herum durch mancherlei kleineres Gethürme und ummauerte Höfe windet sich der Weg hinauf zu seinen mittelalterlichen Räumen. Jetzt beginnt der Zahn der Zeit schon sichtbarer an den alten Mauern, denen die erhaltende Hand fehlt, zu nagen. Die späteren Besitzer kümmerten sich wenig um das lebendige Bild geschwundener Macht und Größe, und benutzten das Schloß nur als vortheilhafte Fundgrube für Eisen und Marmor. Zu den Füßen des Schloßkegels lagert sich das Dorf Tarasp; ein kleiner dunkler See begrenzt seine schmucklosen Häuser; die architektonische Putzliebe wohlhabend gewordener Zuckerbäcker und Chokoladensieder ist nicht bis hierher gedrungen. Selbst die Wanderlust der übrigen Engadiner theilen die Tarasper nicht.

Nur ungern trennten wir uns von dem ernsten und erhabenen Anblicke, um, die ungewöhnliche Gunst des Wetters benutzend, eine weitere Merkwürdigkeit Tarasps, seine bereits berühmt werdende Mineralquelle zu besuchen. Eine kleine Stünde weiter abwärts in der Felsschlucht des Inn tritt die in einen niedern steinernen Schacht gefaßte Quelle zu Tage. Ein guter Fußweg durch Wiesen, dann an dem Felsenabhange hinab führt von dem kleinen Dorfe Volperra zu ihr; an die Felswand lehnt sich ein bescheidenes Trinkhaus; einige hundert Schritt lang zieht zwischen Fels und Strom sich ein romantischer Spaziergang hin. Die vortrefflichen Eigenschaften des Wassers, dessen drei Quellen eine etwas abweichende Zusammensetzung zeigen, könnten Tarasp zu einem bedeutenden Kurorte erheben, würde nur der Zugang auf dem wirklich abscheulichen Thalwege verbessert. Die Anfänge zweckmäßiger Einrichtungen, städtischer Bequemlichkeiten, wie sie in einigen guten Gasthäusern der Häusergruppen Volperra und Grimuts anerkennenswerth sich gebildet, würden bald sich vervollkommnen können. So bleibt sein treffliches Wasser rein vernachlässigter Naturschatz, nur von einigen Nachbargegenden Tirols und Graubündens an Ort und Stelle benutzt oder in Flaschen versendet. Das Wasser hat einen ungewöhnlichen Gehalt an Natron in einem Verhältnisse, das die berühmtesten Natronwasser Karlsbad, Eger und Bilin nicht erreichen. Die mit starkem Wallen aufsteigende Kohlensäure theilt dem salzigen frischen Getränke (von einer Temperatur von 5–6° Cels.) einen angenehmen, stechenden Beigeschmack mit. Uebrigens sind die speciell Bad Tarasp genannten Quellen nicht die einzigen selbst nur der nächsten Gegend. In einem Umkreis von einer Stunde treten nicht weniger als zwanzig Mineralquellen der verschiedensten Art, Natronwasser, Eisen- und Schwefelwasser zu Tage, so daß gerade hier in der sonst schon an mineralischen Wasserschätzen reichen Thallinie des Inn ein besonders bedeutender Mittelpunkt zu bestehen scheint, wo der Verbindungen mit dem Erdinnern und der unterirdischen Ausflüsse ungewöhnlich viele zusammengedrängt sind. Alle diese Quellen sind kalt.

Milde und ruhig stieg der Mond über die riesigen Grenzmauern des Engadins herüber, mit seinem Silberlichte die eisigen Höhen des Selvretta, die spitzigen Pyramiden der Piz Pisoc, Plafne, Madlen, Lischany und Uschadera in einen magischen Glanz kleidend, als wir nach des Tages Last und Hitze die Ruhe in den wirthlichen Räumen des Gasthauses suchten. Noch einmal zogen die Bilder der letzten Stunden vor unserm Blicke vorüber. Draußen kämpfte und befehdete sich die Welt; kaum eine verklingende Kunde davon drang in diesen stillen abgelegenen Kreis des einsamen Thales zwischen leise rauschendem Walde, hohen Felsenzinnen und blendenden Gletscherströmen. Die letzten trüben Lichter der kleinen Häuser verloschen; tiefes Schweigen ringsum. Die Natur allein sprach ihre mächtige Sprache zu zwei empfänglichen Gemüthern, die sich gerne ihrem beruhigenden Einfluß überließen. Wie selten ist uns eine stille Einkehr bei uns selbst gestattet! Vielleicht morgen schon hat uns das Leben mit seinen tausend Strebungen und Sorgen wieder in seinen Strudel gerissen, bis uns das letzte Heimweh ergreift wie die Wanderer des Engadins.




Für Mädchen und Frauen.
Die weibliche Schönheit.

Als die Natur bei Erschaffung des ersten Paares ihr Meisterwerk ablegte, personifizirte sie uns in dem Manne die Kraft, in der Frau die Schönheit. Beide wurden damit zu gegenseitiger Ergänzung auf einander angewiesen, vereint erst sollten sie das Ganze bilden, das Vollendung heißt.

Die Kraft stellt sich uns als körperliche Eigenschaft, wie als geistige dar; eben so ist es mit der Schönheit, welche nicht allein in den Formen beruht, sondern auch in der Seele wohnt, aus welcher sie durch das Auge zu uns spricht, und das Antlitz erleuchtet und gleichsam verklärt.

Die ersten Menschen empfingen beide Eigenschaften als freie Gabe aus der Hand der Natur, und erst mit dem Biß in jenen berüchtigten Apfel gingen sie verloren, um dann später auf mühsamem Wege wieder gewonnen zu werden. Die Griechen waren es, welche sich zuerst bemühten dies verschwundene Ideal auf’s Neue in sich herzustellen, bei ihnen finden wir Kraft und Schönheit in ihrem schönsten Maaße, wie sie noch heute der Kunst als Typus dienen. Aber mit dem Volke der Helenen verschwand auch wieder von der Erde jenes Ideal der ersten Schöpfung, und nirgends finden wir seitdem einen Versuch gemacht es wieder zu gewinnen. – Die christliche Aera trat ein und mit dieser und durch diese wurde dem Geiste des Menschen ein Uebergewicht gestattet, das er nun auf Kosten des armen Körpers geltend machen konnte. Die Stubengelehrsamkeit der Männer, die Philologie und Philosophie dienten nur, um den Menschen sich selbst noch mehr zu entfremden und ihn in eine Welt der Abstraktion zu bannen, von wo er mit einem Lächeln des Mitleids auf das warme Leben herabblickte. Jede Minute Zeit, die er seinem Körper widmete, schien eine verlorene, nur die nothwendigen Speisen mußten gereicht werden; sonst aber war von einer Pflege des physischen Menschen keine Rede, Gesicht und Hände mochten wohl flüchtig ein paar Wassertropfen sehen, weiter aber erstreckte sich die Cultur der Haut gewiß nicht, und das Studirzimmer [248] in welchem Tabakswolken nie endend wirbelten, erfuhr nie den reinen Luftstrom, dessen die Gesundheit bedarf.

Die Existenz der Frau ist stets der Nachsommer dessen, was die Männer sind. Kein Wunder also, daß unsere Schönen nach und nach aufhörten schön zu sein, so wenig dies auch in ihrem Wollen lag. Es war nur die natürliche Folge. Immer mehr bleiche, sieche Kinder wurden geboren und Niemand bemühte sich der Natur jene bessere Gesundheit abzugewinnen, die das einzige wahrhaft ersprießliche Erbtheil des Menschen ist. – Die Aerzte ließen es an Arzneien nicht fehlen; wie manches arme Kind weiß nichts davon zu sagen, daß es nach und nach alle Büchsen unserer Apotheken durchgekostet; aber sie belehrten die Aeltern nicht, worin die Hauptbedingungen zu einem gesunden Dasein zu suchen seien. – Viel besser steht es auch heute nicht.

Bei den Griechen war schön und gut sein gleichbedeutend. Wir haben an die Stelle von Beiden das Wissen gestellt. Unendlich viel wissen, heißt unser Motto. Aber was damit beginnen, gilt uns gleich. Einem überladenen Kopfe geht es, wie einem überladenen Magen; das Zuviel der Nahrung belästigt ihn und bringt kein Gedeihen.

Schön und gut sein könnten auch wir, wenn jede Mutter am Lebensmorgen ihres Kindes diese Worte zu ihrem Wahlspruch machte. Schön und gut sein könnte die Menschheit, sobald die Frauen wollten, daß sie es wäre.

Um aber schön und gut zu sein, bedarf man zuvörderst der Gesundheit; ohne diese ist man Beides sicher nicht, und um gesund zu sein, muß man drei Dinge im Auge festhalten, das Wasser, die Luft und die Nahrung. Die Natur wies den Menschen auf diese, als Bedingungen zu seiner Existenz an, und die ganze Kunst seines körperlichen Wohlbefindens besteht darin, sich diese Dreie im rechten Maaße dienstbar zu machen. Um schön und gut zu sein, muß der Körper täglich eine Wassertaufe erfahren, muß eine Mutter die Mühe nicht scheuen ihre Kleinen von Jugend auf an jedem neuen Morgen von Kopf zu Fuß mit dem belebenden Elemente zu überstreichen, kalt, lau oder warm, wie sie will, im Winter, wie im Sommer, gleichviel, nur ohne Ausnahme muß es geschehen. Um schön und gut zu sein, muß sie ihr Kind täglich in die Luft führen, damit es den zu seiner Existenz nothwendigen Sauerstoff athme, von dem im Zimmer lange nicht genug übrig bleibt, um das kleine Leben gedeihlich damit zu versehen, muß das Schlafzimmer am Tage nicht bewohnt und die Fenster geöffnet sein, damit für die langen Stunden der Nacht ein hinreichender Bedarf an Lebenslust vorräthig sei, und keine faulen Dünste, kein Ueberfluß an Kohlensäure, keine dicke heiße Atmosphäre das Kind in seinem Wachsthum und Gedeihen störe.

Um schön und gut zu sein, bedarf es Drittens einer angemessenen Nahrung, bedarf es eines kleinen Studiums dessen, was nothwendig ist, um die täglich ausscheidenden Stoffe zu ergänzen. Die Frau hat daher nicht nur die Aufgabe den Tisch mit Speisen zu versehen, die dem Wohlgeschmack fröhnen und durch ihre Zubereitung das Auge befriedigen, sie muß auch überlegen, ob sie eine angemessene Nahrung bieten für Jene, welche dieselben genießen sollen. Dem Kinde gegenüber tritt diese Pflicht mit doppelt ernster Mahnung vor sie hin, denn sie mordet in dem Knaben den Mann, in der Tochter die Frau, indem sie sich hier nachlässig beweist. Ohne Phosphor kein Gedanke, ohne Fleisch kein Blut, ohne Sauerstoff keine Wärme. Schönheit und Kraft sind ein Produkt physischer Pflege, und daß nur in einem gesunden Körper eine gesunde Seele wohnt, ist eine uns sprüchwörtlich bekannte Sache, die wir aber leider, wie auch so manchen andern schönen, kernigen Spruch, als bloße Phrase im Munde führen. – Schön und gut sein könnten wir Alle, und schön und gut sein würden wir Alle, wenn unsere Mütter es verstanden hätten uns an Wasser, Luft und Nahrung so viel zukommen zu lassen, wie unsere physische Natur bedurfte, um eine würdige Trägerin unseres Geistes zu sein.
Amely Boelte. 




Blätter und Blüthen.

Die Stereoskopen aus Paris im Hotel de Prusse in Leipzig. Wir sagten neulich bei Gelegenheit der Schwedler’schen Photographien, wie die Naturwissenschaft der Mechanik gelehrt hat: mit dem Blitze zu schreiben und mit der Sonne zu zeichnen. In den vorstehend genannten Stereoskopen hat sie ihr auch gelehrt, zur todten Fläche eines Bildes das Auferstehungswort für Lazarus zu sprechen: „Stehe auf!“ Dies war der Gedanke, der uns bei erster Betrachtung jener Stereoskopen der Herren Beckmann-Wehnert bewegte. Wirklich es war uns, als wenn die aschgrauen Glas- und Silberplatten sich auf ihnen wie kleine Gräber und aus ihnen hervor, in lebensvoller Erscheinung und Bewegung die Gestalten zu uns heranträten, die das Sonnenlicht in sie versenkt hat. Der erste Blick in eines jener Stereoskope ist mit großer Ueberraschung begleitet. Man glaubt die Statuen, die uns daraus hervortreten, wie einen frei vor uns stehenden Körper umfassen, umschreiten zu können; man glaubt durch die hellen Pforten und Bogengänge der architektonischen Bilder hindurchzuschreiten, die Blätter, Zweige und Aeste der landschaftlichen Bilder abbrechen und ihren Schnee abschütteln zu können. Kurz das vollendetste Bild der Farbe oder des Stichels kann keine so lebensvolle Anschauung geben, wie das Bild jener Stereoskopen. Das mechanisch-optische Gesetz derselben ist bei eigener Anschauung der Sache sehr leicht zu erfassen und man wird dann vielleicht weniger durch diese selbst überrascht, als eben durch die außerordentliche Einfachheit der Einrichtung, die uns in wenigen Minuten eine Anzahl der berühmtesten Kunstwerke der Welt so lebensvoll vor das Auge führt. Man wird an das Ei des Columbus denken, wenn man nicht einen weiten Rückblick thut und bedenkt, welche große Entdeckungen und Erfindungen im Gebiet der Naturwissenschaft erst dazu nothwendig waren, um jetzt diese so einfache Einrichtung machen zu können; wie es also auch wieder die mächtige Naturwissenschaft ist, der wir täglich neue Genüsse mannigfachster Art verdanken. – Die Stereoskope der Herren Beckmann-Wehnert sind ebenso mannigfach und interessant in der Auswahl ihrer Gegenstände, als vortrefflich in der Ausführung derselben; eine hohe Ausbildung dieses Kunstindustriezweiges bekundend. Die erste hier vorgeführte Serie bringt die berühmtesten architektonischen und plastischen Kunstwerke aus Paris und Versailles. Später werden die aus England und Deutschland vorgeführt werden, bei welcher Gelegenheit wir dann noch einmal darauf zurückkommen wollen.




Ein Sohn Schamyl’s. Es ist vielleicht nicht allgemein bekannt, daß zur Zeit des Sturms von Achulgo (1839) ein Sohn Schamyl’s als ganz junges Kind von den Russen gefangen und nach Petersburg gebracht wurde, um dort in russischer Weise erzogen zu werden. Einem Gerüchte zufolge wäre es ihm später gelungen aus der Gefangenschaft zu entkommen und sich zum Vater in seine heimathlichen Berge zu flüchten. Wie jedoch aus folgender Notiz hervorgeht, lebt der Sohn des heldenmüthigen Imam noch immer in Rußland, wo man nicht ohne Erfolg bemüht gewesen, ihn zu denationalisiren und in ein geringfügiges Werkzeug der moskowitischen Politik zu verwandeln. „Im Hause des Generals Olenin in Torjok“, schreibt Herr Bulgarin in der Sjéwernaia Ptschelà, „lernte ich neulich den Lieutenant Schamyl kennen, einen Sohn des berühmten Häuptlings der uns feindlichen Bergbewohner. Der junge Schamyl gerieth als Kind in russische Gefangenschaft, wurde im ersten Kadetten-Corps erzogen und dient jetzt im Uhlanen-Regiment des Großfürsten Michael Nikolajewitsch, trägt aber noch immer seine Nationaltracht. Er ist ein äußerst bescheidener junger Offizier, wird von Jedermann geliebt und ist von der leidenschaftlichsten Ergebenheit für Rußland beseelt! In seinem Herzen ist er ein vollkommener Russe, und sein feurigster Wunsch ist, daß seine wilden Landsleute sich dem russischen Scepter unterwerfen mögen.




Der Schirmvogel. Der englische Reisende Wallace hat auch einen neuen Vogel entdeckt, den Schirmvogel, mit dem die Natur die Schirmfabrikanten persifliren zu wollen scheint, indem sie ihnen damit sagt, daß sie längst, ehe die Menschen daran dachten, sich mit Schirmen zu schützen, ihnen diese Erfindung vorgemacht hat. Der Schirmvogel ist so groß wie ein Rabe und diesem auch an Gestalt und Farbe ähnlich, nur ist sein Gefieder mehr bläulich und äußerst glänzend, und wie Wallace hörte, aber sich leider nicht selbst überzeugen konnte, wird er auch mit weißem Gefieder gefunden. Er trägt einen Kamm von zwei Zoll langen Federn, die sehr dick und haarig sind, diese kann er aufspannen, wie einen Schirm, so daß sie seinen Kopf und einen Theil des Rückens bedecken. Auf der Brust hat er einen großen Fleischklumpen, der mit besonders glänzenden Federn versehen ist. Diesen kann er an die Brust drücken, so daß er nicht zu sehen ist oder anschwellen lassen, so daß er den Kopf darin verbergen kann. Der Vogel findet sich nur auf den Felseninseln des Rio Negro, nie auf dem Festlande, ist äußerst scheu und schwer zu schießen. Er lebt von Früchten und stößt einen heisern Schrei aus. Wallace unterschied 25 Species desselben.




Englische Kriegs-Humanitäts-Maßregeln. Die englischen Offiziere höheren Ranges sollen blos blaue Fracks ohne irgend einen Orden im Kriege tragen, damit sie der Feind nicht so gut sehen kann, wie die fuchsbrandroth gekleideten Gemeinen mit ihren ungeheueren Bärenfellthürmen auf den Köpfen. Jeder Soldat hat ein neues Testament geschenkt bekommen. Für die Soldatenkinder zu Hause wird durch besondere Schulen und Unterhaltung derselben bei respectabeln Leuten gesorgt werden. Außer den neuen Testamenten haben die Soldaten, sowohl die Napier’s, als die Dundas’ Schiffsladungen Porter bekommen und soll damit regelmäßig fortgefahren werden. Der Brauer, welcher die Lieferung bekommen hat, hält die orientalische Kriege jetzt für den Segen Europa’s und wird die Anlagen darauf zu jeder Zeit für „verfrüht“ und voreilig halten.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Pisoi